SPD-Reformpläne: Mehr Sozialstaat gegen die kapitalistische Krise?

12.02.2019, Lesezeit 8 Min.
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Die Vorschläge der SPD zum „Bürgergeld“, zur Erhöhung des Mindestlohnes und zur Einführung einer Grundrente kündigen eine Polarisierung in der Regierung an. Ist das eine "Erneuerung" der SPD?

Nach der letzten Bundestagswahl und einer erneuten Großen Koalition verordnete die SPD sich selbst einen „Erneuerungsprozess“. Am Sonntag stellte SPD-Vorsitzende Andrea Nahles nun das Positionspapier „Sozialstaat 2025“ vor, das sie als erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses bezeichnete. Mit einer neuen Agenda wolle man sich den Herausforderungen eines modernen Sozialstaats stellen.

In ihren Vorschlägen will die SPD Hartz IV durch ein „Bürgergeld“ ersetzen, bei dem das Arbeitslosengeld 1 drei Jahre gezahlt werden soll. Kinder fallen aus dem Hartz IV-System raus und die Sanktionen der Jobcenter sollen gelockert werden. Das Modell will auch den Mindestlohn „perspektivisch“ von 9,19 auf 12 Euro erhöhen. Hinzu kommt der Vorschlag von Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil, eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung nach 35 Beitragsjahren einzuführen.

Dieses Konzept ist aber keine Abkehr von der Schröder‘schen Agendapolitik, deren Grundsäulen erhalten bleiben sollen. Die Grundrente würde gegenüber der jetzigen Grundsicherung je nach Einzelfall keinen allzu großen finanziellen Zuwachs bedeuten. Wer weniger als 35 Jahre beitragspflichtig gearbeitet hat, was vor allem Frauen mit Kindern betrifft, fällt raus. Die Altersarmut ist damit nicht gelöst. Ebenso würde das Arbeitslosengeld nicht erhöht werden, lediglich die Bezugsdauer. Zudem bleibt das System von Minijobs, Leiharbeit, unterbezahlten Praktika, Betriebsausgliederungen und die Unterhöhlung von Tarifbindungen in den Vorschlägen der SPD weiter unangetastet. Je genauer man hinschaut, desto klarer wird: Das ganze Konzept ist lediglich eine Reform des neoliberalen Albtraums und nicht sein Ende. Das Versprechen, Hartz IV nicht nur dem Namen nach zu ersetzen, wird nur teilweise eingehalten. Eine radikale Abrechnung mit der Agenda 2010 sieht anders aus.

Und dennoch: Sollten die Reformen tatsächlich so umgesetzt werden, würde das Verbesserungen der Situation von Millionen von Rentner*innen, Kindern, Geringverdiener*innen und Arbeitslosen bedeuteten. Denn die Sozialleistungen wären leichter zugänglich und der Druck würde sinken, unbedingt jede noch so schlecht bezahlte Arbeit annehmen zu müssen. Zusammen mit der Erhöhung des Mindestlohnes wäre ein moderater Zuwachs der Kaufkraft der unteren Gesellschaftsschichten absehbar.

Der staatstragende Anspruch der SPD

Für sich genommen sind die Reformvorschläge nicht besonders radikal sein, auch wenn die SPD-Spitze sich jetzt dafür feiert. Aber durch die strikte Ablehnung aus Teilen der Union bekommen die Vorschläge eine hohe politische Brisanz. CSU-Parteivorsitzender Markus Söder befürchtet bereits einen „ideologischen Linksruck“ der Bundesregierung. Und auch in Medien und Wirtschaftsverbänden wird der Entwurf der SPD zerrissen. Eine Umsetzung der Pläne in der GroKo wäre sicherlich schwer durchsetzbar.

Ist das also alles nur Getöse, um die miserablen Umfragewerte von etwa 15 Prozent aufzubessern, ohne die Absicht, wirklich an diesen Reformen zu arbeiten? Sebastian Fischer vom Spiegel wittert ein geschicktes Manöver, um die Große Koalition zum Platzen zu bringen und der Union die Schuld in die Schuhe zu schieben. Es könnte Neuwahlen, eine schwarze Minderheitsregierung oder eine Jamaika-Koalition geben und die SPD wäre als rehabilitierte Sozialstaatspartei fein raus, ohne in der Opposition tatsächlich aktiv etwas für ihre Vorhaben tun zu müssen.

Aber so einfach geht die Nummer nicht auf. Damit wäre die tiefe staatstragende Rolle der SPD unterschätzt, die trotz Dauerkrise den Anspruch an sich stellt, in der Regierung Politik zu machen.

In der aktuellen Situation ist die SPD-Parteispitze gezwungen, ihre Legitimität vor der Basis wiederherzustellen. Die #NoGroKo-Kampagne unter Führung des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert hätte beinahe Erfolg gehabt und die Partei damit ins Chaos gestürzt. Mit den Reformvorschlägen kann die Führung um Olaf Scholz und Andrea Nahles einen kontrollierten Übergang einleiten, der die Stellung des Apparates in der Partei wieder festigt. Dafür spricht, dass auch Kühnert sich nun wieder hinter die Parteispitze einreiht.

Die Rettung der Sozialpartnerschaft?

Vor allem aber ist das Konzept der SPD ein wirtschafts- und sozialpolitischer Vorschlag, der darauf abzielt, die Balance von Kapital und Arbeit in Zeiten von strukturellem Wandel und drohender Krise beizubehalten. Durch Digitalisierung und Energiewende sind Millionen von Arbeitsplätzen bedroht. Die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I bei gleichzeitigem Ausbau von Weiterschulungsmaßnahmen und dem Entfall von Sanktionierungen soll Fachkräften genug Zeit geben, in neuen Branchen Fuß zu fassen. Es handelt sich sozusagen um eine angekündigte Quersubventionierung für große Umstrukturierungen in strategischen Sektoren des deutschen Kapitals.

Dies ist die Voraussetzung, um die strukturellen Bedingungen der Sozialpartnerschaft beizubehalten, die ohnehin bereits selbst in den Kernsektoren der deutschen Industrie und des öffentlichen Dienstes ausgehöhlt ist. Sie ist sowohl für die SPD die politische Grundlage ihrer Existenz durch die Verbindung in die Gewerkschaftsbürokratien, als auch für die Bourgeoisie nach wie vor ein Garant für innere Ruhe.

Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat bereits verlauten lassen, dass er bis 2023 wegen der schwächelnden Konjunktur eine Finanzlücke von 25 Milliarden Euro im Staatshaushalt erwarte. Und dennoch hat er den Reformvorschlägen, die einen zweistelligen Milliardenbetrag kosten dürften, zugestimmt. Es ist sogar davon auszugehen, dass er als stärkste Figur der SPD der strategische Kopf dahinter ist.

Wie passt das zusammen? Finanziert werden sollen die Reformvorhaben zunächst aus Rücklagen aus Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Aber diese Töpfe sollen dadurch in den Plänen der SPD nicht geleert werden, sondern sich durch höhere Einnahmen wieder auffüllen. Wer bessere Möglichkeiten hat, durch Umschulungen einen qualifizierten Beruf zu erlangen, wird auch mehr in die Kassen einzahlen, so das Kalkül der SPD.

Zudem lehnt Scholz eine komplette Abschaffung des Solidaritätszuschlages ab. Geplant ist bisher, dass nur geringe und durchschnittliche Einkommen befreit werden, aber Reiche und Unternehmen weiter zahlen sollen. Die Union will hingegen den Soli für alle streichen, wodurch sie sich zusätzliche Anreize für das Investitionsklima verspricht. Dadurch würden dem Bund circa zehn bis 20 Milliarden Euro an Steuereinnahmen entgehen.

Das Bröckeln der EU

Die Frage, ob Geld für Sozialleistungen in die Hand genommen werden soll oder für Steuererleichterungen für Unternehmen, ist eng verbunden mit den wirtschaftlichen Perspektiven für das deutsche Kapital. Seit Jahren stagnieren die Investitionen in die Realwirtschaft. Kapital ist genug vorhanden, aber es findet zu wenig lukrative Wirtschaftszweige, in denen es profitabel angelegt werden könnte. Die Sättigung der Märkte und das hohe technische Niveau, das für neue Produktionen aufzuwenden ist, lassen das Kapital die einfachere und gewinnträchtigere Anlage in den Börsen und Spekulationsblasen suchen.

In den Ideen der SPD kann die Stärkung der Kaufkraft der unteren Schichten eine konjunkturell belebende Wirkung haben. Es sind ähnlich souveränistische Sozialstaatsideen, wie die vom britischen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn, wenngleich nicht so weitgehend. Auch in Italien führte die rechte Regierung von 5-Sterne-Bewegung und Lega Nord ein „Bürgergeld“ ein, das Arbeitslosen und Rentner*innen zugute kommen soll. Es war der Ausgangspunkt des Staatsschuldenstreits mit der EU im vergangenen Herbst.

Trotz ihrer Unterschiedlichkeiten haben Labour in Großbritannien, die italienische Regierung und die SPD als Gemeinsamkeit, dass ihre Konzepte eine Konsolidierung der nationalen kapitalistischen Wirtschaftsweisen anstreben, in einer Situation, in der die EU zerbröckelt und die neoliberalen Rezepte der Krisenbewältigung an ihre Grenzen stoßen. Die Krisen in Großbritannien mit dem Brexit und in Italien mit den jahrelangen Spardiktaten sind gewiss viel weiter fortgeschritten als in Deutschland.

Und doch bedeutet der SPD-Vorstoß eine weitere Polarisierung in der Regierung. Die SPD wird versuchen, die Vorschläge in der GroKo anzubringen und auch wenn sie heute keine Umsetzung erfahren, so wird doch die Union vor eine Probe gestellt werden. Denn erstmals seit langem steht die SPD weitgehend geschlossen zusammen. Hingegen hat sich bei der Union mit dem guten Abschneiden von Friedrich Merz bei der Wahl zum Parteivorsitzenden der radikal wirtschaftsliberale Flügel deutlich positioniert. Es ist gut möglich, dass der vermittelnde Flügel um Annegret Kramp-Karrenbauer sich die Vorschläge der SPD erst einmal ruhig anhören wird. Damit dürften neue Streitereien in Union und GroKo unumgänglich sein.

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