Spanische Regierung nimmt katalanische Politiker*innen fest – Generalstreik schwebt in der Luft

20.09.2017, Lesezeit 9 Min.
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Die Krise zwischen dem spanischen Zentralstaat und der katalanischen Generalitat verschäft sich: Die Spanische Zentralregierung ließ heute 14 Staatssekretär*innen und Mitglieder der katalanischen Regierung, die mit der Vorbereitung des Unabhängigkeitsreferendums am 1. Oktober beauftragt waren, festnehmen. Die Massen in Katalonien antworten mit massiven spontanen Mobilisierungen und die Bevölkerung im Rest des Spanischen Staats solidarisiert sich mit den Katalan*innen, um das Selbstbestimmungsrecht Kataloniens durchzusetzen.

Schon seit Wochen nehmen die Spannungen zwischen katalanischer und spanischer Regierung zu. Während am 11. September eine Million Menschen in Barcelona für das Unabhängigkeitsreferendum demonstrierten, versucht die Regierung von Mariano Rajoy dieses mit der Einschränkung demokratischer Rechte zu verhindern. Festnahmen, Durchsuchungen von Privatwohnungen, Postfilialen, Druckereien, Regierungsgebäuden und Parteisitzen prägten den Alltag der letzten Tage in Katalonien.

Eskalation durch die Zentralregierung

Doch heute erreichte der institutionelle Konflikt zwischen der katalanischen Regierung, der Generalitat und der spanischen Zentralregierung von Mariano Rajoy (Volkspartei, PP) einen neuen Höhepunkt. Um acht Uhr morgens schon begann der koordinierte Einsatz der paramilitärischen Guardia Civil, die mehrere Regierungsgebäude in Barcelona stürmte und im Zuge dessen 13 Staatssekretär*innen und Funktionäre der Regierung festnahm und zahlreiche Büros, darunter auch das des katalanischen Präsidenten Carles Puigdemont (PDeCAT), durchsuchte. Dazu kommt die Verhaftung der Repräsentantin der katalanischen Regierung in Madrid, Rosa Rodriguez.

Dem katalanischen Obersten Gerichtshof zufolge führte die Guardia Civil 41 Befehle für 41 Durchsuchungen und 20 Verfahren aus. Bei den Festgenommenen handelt es sich um den „harten Kern“ der für die Vorbereitung und Durchführung der Volksbefragung über die Unabhängigkeit Kataloniens am 1. Oktober beauftragten Regierungsfunktionäre. Unter ihnen sind Beamte des Ausschusses für Auswärtiges, des Wirtschafts- und des Finanzausschusses. Dessen „Nummer Zwei“, Josep Maria Jové, gehört zu den Verhafteten.

Außerdem wurde versucht, den Parteisitz der linksradikalen und antikapitalistischen CUP zu stürmen. Sie duldet die katalanische Regierung aus sozialdemokratischer ERC und konservativer PDeCAT und ist Teil des Blocks der „Unabhängigkeitsparteien“ im katalanischen Parlament. Dies konnte nur durch die spontane Mobilisierung hunderter Anhänger verhindert werden.

Erst gestern wurden 45.000 Schreiben mit Informationen über die Leitung der Wahllokale für das Referendum in Tarragona beschlagnahmt. Dort hatten sich Hunderte vor der Postfiliale versammelt, um die Beschlagnahmung zu verhindern. In derselben Stadt hatten sich zuvor 1.600 Menschen getroffen, um Wahlplakate für das Referendum zu kleben. Diese Wahlplakate werden von der katalanischen und der spanischen Polizei konfisziert und abgerissen, genauso wie jegliche Information auf Flyern oder sonstiges Material über das Unabhängigkeitsreferendum. Die Zentralregierung sperrte sogar mehrere Seiten der katalanischen Regierung zum Referendum – kurze Zeit später wurden sie auf ausländischen Servern wieder online gestellt.

Ebenso verlegte die Zentralregierung Anti-Terror-Einheiten der Polizei nach Katalonien, die am 1. Oktober zur Verhinderung des Referendums eingesetzt werden. Den Postangestellten wurde es verboten, Wahlbenachrichtigungen zu versenden und es wurde damit gedroht, den als Wahllokalen benutzten Schulen den Strom abzudrehen. Zudem fanden Razzien in den Redaktionshäusern mehrerer bedeutender katalanischer Lokalzeitungen statt. Schon seit Wochen werden Druckereien und andere Unternehmen von der Guardia Civil durchsucht, um die Stimmzettel und Wahlurnen zu finden und zu konfiszieren.

Zudem leitete die Generalstaatsanwaltschaft Verfahren gegen die mehr als 700 Bürgermeister*innen ein, die das Unabhängigkeitsreferendum unterstützen und lud gestern die ersten Amtsträger*innen vor. Sollten sie sich weigern, in Madrid auszusagen, wie es die Bürgermeister*innen der CUP angekündigt hatten, würden sie verhaftet werden, so die Generalstaatsanwaltschaft. Doch nicht nur das: gestern unterstellte das Finanzministerium in Madrid die Finanzverwaltung der katalanischen Regierung unter ihre Aufsicht.

„Spanischer Staat verhängt Ausnahmezustand“

Diese Maßnahmen zusammen mit den 14 Festnahmen hoher Funktionäre der Regierung stellen eine neue Stufe der Eskalation dar. Carles Puigdemont verurteilte das „totalitäre und undemokratische Auftreten des Spanischen Staates und der Regierung“. Und weiter sagte er: „Der spanische Staat hat faktisch die Autonomie suspendiert und den Ausnahmezustand verhängt. […] Die spanische Regierung hat die rote Linie überschritten, die sie von autoritären und repressiven Regimes trennte.“

Auch im spanischen Parlament, das sich während der Festnahmen mitten in einer Sitzung befand, stieß die erneute Aggression gegen die katalanische Regierung auf Protest. „Ich bitte Sie und ich fordere Sie dazu auf: Lasst eure schmutzigen Hände von den Institutionen in Katalonien“, entgegnete Gabriel Rufián der ERC Mariano Rajoy, bevor er gemeinsam mit den anderen Abgeordneten der katalanischen Parteien das Parlament verließen.

Rajoy hingegen erwiderte lapidar, die Regierung handele so, wie sie handeln müsse und sorge nur für die Einhaltung der Gesetze. Er forderte Puigdemont dazu auf, das Referendum abzusagen und die Legalität nicht in Mobilisierungen auf der Straße zu suchen. Sowohl die sozialdemokratische PSOE und die liberalen Ciudadanos, die gemeinsam die Minderheitsregierung von Rajoys PP dulden, signalisierten ihm in Gesprächen ihre volle Unterstützung in seinem harten Kurs gegen die Unabhängigkeitsbefürworter*innen.

Den gesamten Staatsapparat durchzieht eine reaktionäre „nationale Einheit“ gegen die katalanischen Bestrebungen, von dem politischen Establishment und der Monarchie über die Justiz und den Repressionsapparat aus Guardia Civil, Guardia Urbana bis hin zur katalanischen Polizei, den Mossos d’Esquadra. Zusätzliche Unterstützung erhielt Madrid heute aus Brüssel, wo hohe Vertreter*innen der EU ihre Unterstützung für die Entscheidung des spanischen Obersten Gerichtshofs bekundeten, die das Referendum und die diesbezüglichen Gesetze für verfassungswidrig erklärte.

Strategiewechsel auf der Zielgeraden?

Bisher schien die Strategie Rajoys darauf abzuzielen, mit großen Drohungen und einschüchternden Maßnahmen die Beteiligung am Referendum und damit dessen Legitimität so gering wie möglich zu halten, jedoch den letzten Zusammenstoß mit Barcelona zu vermeiden. Schon lange drohten hohe Regierungsmitglieder mit der Aufhebung des Autonomiestatus, doch maßen sie ihre repressiven Aktionen immer an den Vorstößen der katalanischen Regierung.

Denn auch wenn die Wahrung der reaktionären „nationalen Einheit“ das Hauptziel der Regierung ist, hätte beispielsweise der Einsatz der Armee in Katalonien enorme politische Kosten. Dazu kommt die relative Instabilität der Regierung und der Versuch der verschiedenen Parteien, sich innerhalb des „spanischen Blocks“ von den anderen Parteien zu differenzieren.

Die Verhaftung führender Regierungsfunktionäre ist ein Paukenschlag, mit dem Madrid deutlich machen will, dass es zu allem bereit ist, um das Referendum zu verhindern. Doch auch in der spanischen Regierung weiß man, dass sie auf einem Pulverfass sitzen, das bei dem kleinsten Funkenschlag explodieren könnte. Die breite demokratische Bewegung für das Recht auf Selbstbestimmung hat erst am vergangenen 11. September, als eine Million Menschen auf den Straßen Barcelonas für das Referendum demonstrierten, wieder gezeigt, dass sie weiterhin lebendig und kämpferisch ist.

Nur der Klassenkampf kann das Referendum vor der spanischen Aggression schützen

Und so ist es nur logisch, dass die repressive Eskalation aus Madrid eine spontane und massive Antwort auf den Straßen Kataloniens fand. Schon am frühen Morgen fanden sich schnell Dutzende, dann Hunderte und später Tausende vor dem katalanischen Wirtschaftsministerium zusammen, um zu verhindern, dass die Verhafteten von der Guardia Civil weggebracht werden können. Dieses Bild wiederholte sich bei der versuchten Stürmung des CUP-Büros. Wichtige Plätze füllten sich mit Menschen, die immer wieder „Wir werden wählen“, „Wir haben keine Angst“ und „Unabhängigkeit“ riefen.

Die Studierenden verließen die Seminare der Universität, die vor wenigen Tagen begann und blockierten die Avenida Diagonal. Gewerkschafter*innen blockierten die zentrale Hauptstraße Via Laietana. Am Nachmittag fanden mehrere Kundgebungen und Demonstrationen mit tausenden Menschen statt. In anderen Städten Kataloniens fanden ebenso Demonstrationen und Proteste statt.

Diese Bewegung fand seine Unterstützung auch im Rest des Spanischen Staates, die sich mit dem Recht auf Selbstbestimmung der Katalan*innen solidarisieren. Am Wochenende schon hatten 35.000 Menschen im Baskenland für das katalanische Referendum demonstriert und in Madrid besuchten Hunderte eine von der Regierung verbotene Veranstaltung.

Die Aggressionen der spanischen Regierung sind nicht mit Regierungserklärungen und Aufrufen zum „institutionellen Ungehorsam“ aufzuhalten. Es ist deutlich geworden, dass Rajoy alle Mittel, die ihm zur Verfügung stehen, benutzen wird, um das Referendum zu stoppen. Puigdemont und die katalanische Regierung haben dem gegenüber nichts aufzubieten. Sie rufen nicht zur Mobilisierung auf, da sie den sozialen Protest noch mehr fürchten als den spanischen Obersten Gerichtshof. Sie selbst haben Katalonien seit dem Ende der Franco-Diktatur fast durchgängig verwaltet und sich mit Korruption und Vetternwirtschaft die eigenen Taschen gefüllt und die katalanischen Unternehmen bevorzugt, während sie in der Krise einen der brutalsten Kürzungspläne gegen die arbeitende Bevölkerung durchsetzten.

Nur durch die massive Mobilisierung der Arbeiter*innen und Jugendlichen kann das Referendum geschützt werden. Der katalanische alternative Gewerkschaftsdachverband IAC hat für morgen zu einer Versammlung aufgerufen, um einen Generalstreik zu organisieren. Auch die anderen linken Gewerkschaften und die großen Dachverbände CCOO und UGT müssen die Arbeiter*innen zu Versammlungen in den Betrieben aufrufen, um einen unbefristeten Generalstreik zu organisieren, der das Referendum durchsetzt. An den Schulen und Universitäten müssen ebenso Versammlungen abgehalten und Komitees gegründet werden, die sich zur Verteidigung gegen die spanische Repression organisieren. Dieser Widerstand gegen die autoritären und undemokratischen Maßnahmen des Spanischen Staats muss auf das gesamte Staatsgebiet ausgeweitet und koordiniert werden.

Wenn sich die bereits spontan entstandene Selbstorganisierung und Mobilisierung in dieser Form verfestigt und erweitert, kann das Referendum verteidigt und durchgeführt werden. Doch ein solcher Prozess der sozialen Mobilisierung würde nicht bei der Durchsetzung des Rechts auf Selbstbestimmung stehen bleiben, sondern könnte verfassungsgebende Prozesse in Katalonien und im gesamten Spanischen Staat einleiten. Diese könnten von Grund auf über alle sozialen und demokratischen Probleme, von der nationalen Unterdrückung über die Monarchie, die Gewalt an Frauen und die rassistischen Einwanderungsgesetze, die Prekarisierung und die Arbeitslosigkeit, diskutieren und entscheiden. In der Angst vor einer solchen revolutionären Perspektive sind die katalanische und die spanische Regierung vereint. Es kommt jetzt darauf an, für sie zu kämpfen.

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