Sophie Scholl und Hans Berger: Warum der deutsche Kapitalismus nur eine Widerstandskämpferin verehrt
Sophie Scholl, die bekannteste deutsche Widerstandskämpferin gegen die Nazis, wäre heute 100 Jahre alt geworden. Die staatlich geförderten Gedenkveranstaltungen überdecken eine einfache Tatsache: Die meisten Widerstandskämpfer:innen gegen die Nazis waren Sozialist:innen und Kommunist:innen.
Sophie Scholl wäre heute 100 Jahre alt geworden. Geboren wurde sie am 9. Mai 1921. Nur 21 Jahre später wurde sie von den Nazis hingerichtet, nachdem sie und ihr Bruder Hans Anti-Nazi-Flugblätter an der Universität in München verteilt hatten.
Heute sind in Deutschland fast 200 Schulen nach Sophie Scholl oder den Geschwistern Scholl benannt, hinzu kommen 600 Straßen. Zum 100. Geburtstag von Scholl gibt das öffentlich-rechtliche Fernsehen Millionen aus, um eine aufwändige Instagram-Serie zu produzieren.
Scholls politisches Erbe wird quer durch das politische Spektrum beansprucht. Annalena Baerbock, die Kanzlerkandidatin der Grünen bei den kommenden Wahlen, die seit langem die neoliberale Politik und den deutschen Militarismus unterstützt, nennt Scholl eine politische Heldin. Carola Rackete, eine Schiffskapitänin von Sea Watch, die zahlreiche Migrant:innen vor dem Ertrinken im Mittelmeer gerettet hat, behauptete, wenn Sophie Scholl heute noch leben würde, wäre sie Teil der Antifa. Aber auch rechtsextreme Covid-Leugner:innen sehen ihren „Widerstand“ gegen die öffentliche Gesundheitspolitik in der Tradition Scholls.
Wer also war Scholl? Die junge Frau schloss sich ihrem Bruder Hans in einer Widerstandsgruppe namens „Weiße Rose“ an. Die Mitglieder dieser Gruppe waren einst in der Hitlerjugend oder im Bund Deutscher Mädel gewesen. Doch sie waren schockiert von den Gräueltaten der deutschen Armee im Osten. Sie riefen die Deutschen zum passiven Widerstand gegen das Nazi-Regime auf. Am 18. Februar 1943 wurden sie in der Universität München verhaftet, nachdem sie Flugblätter in den Lichthof geworfen hatten.
Scholl ist durch ihre mutige Verteidigung vor dem sogenannten Volksgerichtshof der Nazis in Erinnerung geblieben:
Jemand musste ja einen Anfang machen. Was wir geschrieben und gesagt haben, glauben auch viele andere.
Nach einem kurzen Prozess wurden sie und ihr Bruder zum Tod durch die Guillotine verurteilt. Ihre letzten Worte waren:
So ein schöner, sonniger Tag, und ich muss gehen… Was macht mein Tod schon, wenn durch uns Tausende von Menschen geweckt und zum Handeln bewegt werden?
Irritierend vage
Wenn man heute die offizielle deutsche Geschichte studiert, so könnte man leicht annehmen, dass die Geschwister Scholl so ziemlich die einzigen Widerstandskämpfer:innen in Deutschland waren – abgesehen vielleicht von dem faschistischen Armeeoffizier Claus von Stauffenberg, der am bitteren Ende des Krieges versuchte, Hitler zu ermorden, „um das Reich zu retten.“ (Dieser fanatische Antisemit und Antikommunist wird heute im kapitalistischen Deutschland als Held hochgehalten – er wurde von Tom Cruise in einem Hollywood-Film gespielt.)
Die Wahrheit ist, dass die Nazis bis 1943 Hunderttausende Widerstandskämpfer:innen inhaftiert hatten. Die große Mehrheit von ihnen waren Kommunist:innen und Sozialist:innen aus verschiedenen Organisationen. Eine Handvoll waren Christ:innen verschiedener Konfessionen. Eine winzige Zahl waren konservative Deutschnationale, die nicht mit Hitler sympathisierten.
Was die Scholls einzigartig macht, ist, dass sie die einzigen Widerstandskämpfer:innen waren, die sich auf den deutschen Nationalismus beriefen und nicht gegen das kapitalistische System waren. Die Weiße Rose bewies unvorstellbaren Mut, als sie ihre sechs verschiedenen Anti-Nazi-Flugblätter verteilten – und dennoch kann man sagen, dass diese Flugblätter irritierend vage sind, voll von Goethe-Zitaten und Bibelgeschichten, jedoch nahezu gänzlich ohne ein politisches Programm. „Wir fordern von Adolf Hitlers Staat die Rückgabe der persönlichen Freiheit, des höchsten Gutes des Deutschen.“ Das war eine zentrale Aussage aus ihrem letzten Flugblatt – was sollte das bedeuten? Sie forderten das deutsche Volk auf, sich 1943 so gegen die nationalsozialistische Diktatur zu erheben, wie sie sich 1813 gegen Napoleon erhoben hatten.
Doch was wäre das für ein System, das das faschistische Regime nach einem solchen Aufstand ersetzen würde? Die meisten Widerstandskämpfer:innen wiesen darauf hin, dass die großen deutschen Kapitalist:innen Hitler an die Macht gebracht hatten, in einem verzweifelten Versuch, ihr marodes System zu stützen. Daher forderten die meisten Widerstandskämpfer:innen die Enteignung der Kapitalist:innen, die mit den Nazis kollaboriert hatten (das heißt, alle). Dagegen gab es bei der Weißen Rose keine solch klaren Parolen. Das ist der Grund, warum die Scholls von der deutschen Nachkriegsbourgeoisie verehrt wurden.
Die Verehrung der Scholls impliziert stark, dass es praktisch keinen Widerstand gegen das Nazi-Regime gab. Das war eine bequeme Lüge für Kapitalist:innen, Politik, Militär, Polizei und Justiz in der Bundesrepublik Deutschland. Die meisten von ihnen hatten den Nazis auf die eine oder andere Weise gedient und waren an den größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit beteiligt. Widerstand aber – so behaupteten sie – sei grundsätzlich unmöglich gewesen, und auf diese eine außergewöhnliche, heilige Frau beschränkt.
Die Masse der Widerstandskämpfer:innen wird so ausradiert – oder schlimmer noch, sie wurden aufgrund ihrer kommunistischen Überzeugung als „totalitär“ und im Grunde genommen als das Gleiche wie die Nazis abgetan. Viele Kommunist:innen, die unter den Nazis verfolgt wurden und den Krieg überlebten, wurden schließlich in der neuen kapitalistischen „Demokratie“ erneut verfolgt – oft von ebendiesen Richter:innen!
Wenn wir also heute Sophie Scholl ehren, ist es wichtig, auch die vielen anderen Widerstandskämpfer:innen zu würdigen, die keine staatlich geförderten Gedenkveranstaltungen erhalten.
Die Geschwister Berger
Hans Berger war gerade 19 Jahre alt, als er von der Gestapo, der geheimen Staatspolizei der Nazis, verhaftet wurde. Er war als Kind jüdischer Einwanderer im Berliner Stadtteil Kreuzberg aufgewachsen. Zusammen mit zwei seiner Schwestern schloss er sich zunächst einer sozialistisch-zionistischen Gruppe an, die in seiner Synagoge junge Leute rekrutierte. Aber sie und eine Gruppe von Freund:innen brachen bald mit dem Zionismus und traten dem Kommunistischen Jugendverband bei.
Die Geschwister Berger wollten Teil der Kämpfe aller arbeitenden Menschen sein und nicht nur den jüdischen Menschen bei der Auswanderung nach Palästina helfen. Sobald sie jedoch in der offiziellen kommunistischen Jugendbewegung aktiv wurden, erkannten sie, dass es ein schreckliches Problem gab. Die Partei war von einer stalinistischen Führung übernommen worden. Angesichts der wachsenden Bedrohung durch den Faschismus bestand die zwingende Notwendigkeit, eine Einheitsfront aller Parteien der Arbeiter:innenklasse zu bilden. Die stalinistische Führung behauptete jedoch, dass der Kampf gegen die Sozialdemokrat:innen wichtiger sei als der Kampf gegen die Nazis.
Die Bergers riefen zur vereinigten Selbstverteidigung der Arbeiter:innenklasse auf, und wurden wegen dieser Kritik von den Stalinist:innen ausgestoßen. Bald schlossen sie sich der deutschen trotzkistischen Organisation an: den Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD). Doch ihre Kritik erwies sich als richtig: Die passive und sektiererische Politik sowohl der sozialdemokratischen als auch der kommunistischen Partei ermöglichte es den Nazis, an die Macht zu kommen. Die Bergers mussten untertauchen – sie waren nicht nur der Polizei als jüdische Kommunist:inen bekannt: Die Stalinist:innen denunzierten Trotzkist:innen auch namentlich in Flugblättern.
Als eines der jüngsten führenden Mitglieder der IKD meldete sich Hans Berger freiwillig als Kurier. Er transportierte Dokumente, um die IKD-Zweigstellen in verschiedenen Städten miteinander zu vernetzen. Die Trotzkist:innen organisierten Arbeiter:innen im Untergrund und bereiteten sich auf einen revolutionären Aufstand vor, der das Nazi-Regime stürzen und ein sozialistisches Deutschland auf der Grundlage von Arbeiter:innenräten als Teil eines sozialistischen Europas schaffen sollte. Es gelang ihnen sogar, einfache deutsche Soldaten zu organisieren, um den Widerstand zu unterstützen.
Am 2. November 1935 wurde Hans Berger in Hamburg verhaftet, als er Informationen zu den Genoss:innen brachte. Er wurde inhaftiert und im ersten Berliner KZ gefoltert. Später wurde er zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Doch bevor er diese Strafe antreten konnte, wurde er Ende 1942 nach Auschwitz deportiert. Berger wurde am 18. Februar 1943 in der Gaskammer hingerichtet. (Seine beiden Schwestern überlebten den Krieg durch unglaubliches Glück: eine in Konzentrationslagern im Osten, die andere in der französischen Provinz.)
Hans Berger wurde durch einen merkwürdigen Zufall am selben Tag ermordet, an dem Sophie Scholl ihre Flieger in die Luft warf. Er war einen Tag zuvor 25 Jahre alt geworden, aber war schon seit mehr als einem Jahrzehnt ein militanter Gegner des Faschismus. Trotzkist:innen in den Konzentrationslagern waren dafür bekannt, andere Häftlinge für die Sache zu rekrutieren. Diejenigen, die den Krieg in Buchenwald überlebten, gaben eine revolutionäre Erklärung ab.
Die Bergers haben im heutigen kapitalistischen Deutschland nicht eine einzige Schule oder Straße nach sich benannt. Warum sollten sie auch? Sie kämpften gegen die Nazis, aber auch gegen die Kapitalist:innen, die die Nazis an die Macht brachten. Wären die Bergers erfolgreich gewesen, wären die deutschen Kapitalist:innen zusammen mit Hitler und seinen Leutnants beseitigt worden.
Erinnern wir uns also am 100. Jahrestag ihrer Geburt an Sophie Scholl. Erinnern wir uns aber auch an Hunderttausende anderer Widerstandskämpfer:innen in Deutschland, die gegen die Nazis gekämpft haben. Erinnern wir uns vor allem an das Programm, für das sie standen, um den Faschismus für immer zu beseitigen:
Nur die erfolgreiche, unabhängige Aktion der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus ist in der Lage, das Übel des Faschismus mitsamt seinen Ursachen auszurotten.