Sollten Sozialist:innen in Neukölln Ferat Koçak wählen?

20.02.2025, Lesezeit 6 Min.
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Stefan Müller (climate stuff, 4 Mio views) from Germany, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

Der Direktkandidat der Linkspartei ist ein bekannter antirassistischer Aktivist – er ist sogar palästinasolidarisch. Aber seine Partei hat eine lange Geschichte von Abschiebungen. Was tun?

In Neukölln kandidiert Ferat Koçak für die Partei Die Linke für den Bundestag. Überall hängen seine Plakate – vielleicht mehr als die aller anderen Parteien zusammen. Sogar das #TeamFerat in roten Westen hat bei mir geklingelt. Bei der letzten Wahl war die Linke in diesem Bezirk nur auf dem vierten Platz – jetzt wähnt sie sich auf dem Weg zur großen Sensation. Soll ich Ferat wählen? Ich bin hin- und hergerissen.

Einerseits: Ferat ist eine lokale Legende. Am 1. Februar 2018 versuchten Nazis, ihn und seine Familie mit einem Brandanschlag auf ihr Haus zu ermorden. Er hat sich diesem extrem rechten Terror entgegengestellt, ohne jemals zu leugnen, wie viel Angst er ihm gemacht hat, und unzählige Menschen in der ganzen Stadt inspiriert. Seit 2021 ist der 45-jährige kurdische Aktivist Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, wo er regelmäßig die Brutalität der Polizei anprangert. Er tritt mit vielen guten Forderungen an. Wenn er in den Bundestag gewählt wird, wird er nicht das absurde Gehalt von über 11.000 Euro pro Monat beziehen, sondern nur einen Arbeiter:innenlohn von 2.500 Euro behalten. Als einer der wenigen Politiker:innen in Deutschland hat Koçak Flugblätter verteilt, in denen er seine Solidarität mit Palästina zum Ausdruck bringt und ein Ende der Waffenlieferungen an Israel fordert.

Andererseits: Ferat kandidiert nicht als Einzelperson – er ist offizieller Kandidat der Partei Die Linke. Im Wahlkampf sagt die Linkspartei, sie wolle eine „soziale Opposition“ sein. Dennoch ist sie derzeit in zwei Bundesländern Teil von Koalitionsregierungen und hat kürzlich in zwei weiteren Bundesländern für CDU-geführte Regierungen gestimmt. Die Linke sitzt seit ihrer Gründung durchgängig in Landesregierungen. In Berlin waren „linke“ Minister:innen für Privatisierungen (einschließlich des Verkaufs von 200.000 Sozialwohnungen), Abschiebungen und Zwangsräumungen verantwortlich. Die Aushängeschilder im Wahlkampf, Bodo Ramelow, Dietmar Bartsch und Gregor Gysi, stehen alle in enger Verbindung zum deutschen imperialistischen Staat.

Nicht über den Krieg sprechen: Wenn es um den Völkermord in Gaza geht, lautet die Parole der Partei: „Nicht über den Krieg reden“. Es ist erstaunlich, dass eine angeblich linke Partei geschwiegen hat, während deutsche Waffen für einen Völkermord eingesetzt wurden. Einige Parteiführer:innen wie Bartsch, Petra Pau oder Martin Schirdewan haben sich lautstark für die deutsche Staatsräson eingesetzt und die Palästina-Solidaritätsbewegung und sogar jüdische Aktivist:innen als antisemitisch angegriffen. Die Linke stimmte für Resolutionen zur Solidarität mit Israel und für das Verbot palästinensischer Organisationen. Erst kürzlich schloss sie Ramsis Kilani wegen seiner Solidaritätsarbeit aus. Das erste Mal, dass eine pro-palästinensische Demonstration in Berlin verboten wurde, war am Nakba-Tag 2021 – und Die Linke war Teil der Regierung.

Wo steht Ferat? Er ist offensichtlich in vielen Dingen nicht mit der Führung der Linken einverstanden. Aber wird er sich gegen sie stellen? Ich habe Ferats pro-palästinensische Positionen auf gedruckten Flugblättern im Kiez gesehen, aber online erwähnt er Gaza kaum. Sein Name fehlt in der Solidaritätserklärung mit Ramsis. Jeder Politiker auf dem linken Flügel einer reformistischen Partei steht unter enormem Druck. Im Jahr 2021 bildete Die Linke eine Koalition mit der rassistischen, neoliberalen Franziska Giffey – obwohl diese sehr offen gesagt hatte, dass sie die Umsetzung des Volksentscheids „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“ sabotieren würde. Als das Parlament sie zur Bürgermeisterin wählte, fehlten Giffey mehrere Stimmen aus ihrer Koalition. Ich gehe davon aus, dass Ferat nicht für sie gestimmt hat, aber er hat nie öffentlich gesagt, dass er sich weigern würde, die Regierung seiner Partei zu unterstützen

Wen soll ich wählen? Die „Regierungssozialisten“ von der Linken wähle ich definitiv nicht. Aber soll ich Ferat meine Erststimme, die nur für Neukölln gilt, geben? Mir gefällt die Idee, jemanden im Bundestag zu haben, der wirklich links ist. Aber wird Ferat sich gegen Leute wie Bartsch und Ramelow behaupten können? Ich könnte für ihn stimmen, wenn er erklären würde, dass er gegen die pro-israelischen Resolutionen der Regierung stimmen würde, unabhängig davon, was seine Partei sagt. Oder wenn er sich jeder Abschiebung widersetzen würde – selbst wenn sie von seinen „Genoss:innen“ durchgeführt würde. Oder wenn er gegen alle deutschen Waffenlieferungen stimmen würde. Aber er tritt nicht gegen die Mehrheit seiner Partei an. Er lächelt in Videos neben reformistischen Politiker:innen, die den Völkermord unterstützen, und fordert die Menschen auf, auch mit der Zweitstimme für sie zu stimmen.

Kurz gesagt, ich würde für Ferat stimmen, wenn er versuchen würde, eine antikapitalistische Partei aufzubauen. Aber er versucht, eine prokapitalistische Partei zu erneuern. So sehr ich ihn als Aktivisten respektiere, kann ich nicht für jemanden stimmen, der den kapitalistischen Staat verwalten will. Uns wird gesagt, dass eine Stimme für die Linke den Widerstand gegen die extreme Rechte stärken wird. Aber wann immer die Linke die Chance hatte, hat sie Minister:innenposten übernommen und selbst rechte Politik betrieben.

Deshalb unterstütze ich die Wahlkampagnen von Inés Heider in Friedrichshain-Kreuzberg, Franziska Thomas in Tempelhof-Schöneberg und Leonie Lieb in München-West. Ich werde gemeinsam mit Ferat und allen anderen Mitgliedern der Partei Die Linke bei Protesten gegen Rassismus und Austerität auftreten – aber oft werden dies Proteste gegen Politiker:innen der Partei Die Linke sein. Daher ist es unsere oberste Priorität, dafür zu sorgen, dass wir eine revolutionäre sozialistische Linke aufbauen, damit überall in Deutschland die Möglichkeit besteht, für antikapitalistische Arbeiter:innen zu stimmen.

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