Sollten Revolutionär*innen als linker Flügel der Berliner Regierungskoalition auftreten?
Die Spitzen der Berliner SPD, Linkspartei und Grünen haben sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Linksradikale Kräfte innerhalb der Linkspartei rufen dazu auf, den Koalitionsvertrag abzulehnen. Reicht das, um "R2G" zu verhindern?
Die zweite rot-rot-grüne Regierung in einem Bundesland steht in den Startlöchern. Nach dem Wahldebakel der CDU bei den Abgeordnetenhauswahlen haben sich die Spitzen der Berliner Landesverbände der SPD, der Linkspartei und der Grünen Mitte November auf einen Koalitionsvertrag verständigt, der den pompösen Titel trägt: „Berlin gemeinsam gestalten. Solidarisch. Nachhaltig. Weltoffen“.
Nicht alle Teile der Linkspartei sind jedoch überzeugt, dass eine R2G-Koalition tatsächlich eine solidarische Alternative für die Berliner Bevölkerung wäre. Dementsprechend hat beispielsweise SAV schon im Wahlkampf gegen eine Regierungsbeteiligung geworben – der Neuköllner Bezirksverband der Linkspartei konnte sich aber leider nicht zu einer eindeutigen Positionierung durchringen. Die kritischen Stimmen haben aber sowieso im neu gewählten Abgeordnetenhaus überhaupt keinen Einfluss, weil die Landesparteispitze um Klaus Lederer nur gehorsame Folgsleute auf der Liste zuließ. Der Neuköllner Wahlkampf war deshalb von dem Paradox geprägt, Wahlkampf für eine Liste zu machen, die firm für das Motto „Regieren um jeden Preis“ steht, während die Wahlkämpfer*innen der SAV gleichzeitig die Regierungsbeteiligung eigentlich ablehnen.
Dieses Paradox beschäftigt die Linken in der Linkspartei nun weiter: Denn der Koalitionsvertrag soll von einem Mitgliederentscheid innerhalb der Linkspartei abgesegnet werden, der noch bis Mittwoch andauert. Sowohl SAV als auch marx21 rufen dazu auf, den Koalitionsvertrag abzulehnen. Aller Voraussicht nach wird der Koalitionsvertrag dennoch von der großen Mehrheit der Linkspartei-Mitglieder angenommen werden. Wie werden sich SAV und marx21 dann verhalten? Werden sie eine R2G-Regierung dann notgedrungen „kritisch“ unterstützen? Werden sie vier Jahre lang mit den Fahnen einer Regierungspartei herumlaufen und gleichzeitig zu erklären versuchen, warum sie gegen die Regierung sind? Oder werden sie Konsequenzen ziehen, wenn die Regierung zustande kommt?
Der Koalitionsvertrag: Vorbehalte und Augenwischereien
Die bundesweite Linksparteispitze mischte sich am 25. November in die Debatte ein. Katja Kipping und Bernd Riexinger – die von vielen Linken innerhalb der Linkspartei immer wieder als Vorbild für eine andere Politik als die der etablierten Parteirechten hochstilisiert werden –, Sahra Wagenknecht – die in letzter Zeit immer wieder mit sozialchauvinistischen Sprüchen von sich reden macht – und Dietmar Bartsch – dem Vertreter des strammen Rechtsaußenflügels in der Partei –, positionierten sich gemeinsam für eine Annahme des Koalitionsvertrags: „Sicher, bei einem Vergleich zwischen unserem Wahlprogramm und dem Koalitionsvertrag bleiben Wünsche offen und Defizite bestehen. Der Koalitionsvertrag eröffnet aber auch die Chance für einen sozialen Politikwechsel in der Stadt Berlin.“
Pech nur, dass der „soziale Politikwechsel“ unter einem strengen Finanzierungsvorbehalt steht. Zu den wenigen Dingen, die nicht dem „generellen Haushaltsvorbehalt“ unterliegen, gehören 50 Millionen Euro für die Sanierung von Polizei- und Feuerwehrwachen, 50 Millionen Euro für die Einführung von Elektronischen Akten sowie jeweils 100 Millionen Euro für Stadtwerke, Schulsanierungen und Wohnungsbaugesellschaften.
Das ist jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn man das tatsächliche Ausmaß des fehlenden Wohnraums in Berlin betrachtet. Neben rasant steigenden Mieten – die im Koalitionsvertrag kaum eine Rolle spielen – fehlen in Berlin schon jetzt über 125.000 bezahlbare Wohnungen, während der Koalitionsvertrag gerade einmal 6.000 neue Wohnungen pro Jahr vorsieht. Ein Hohn für die Betroffenen auch deshalb, weil die rot-rote Koalition 2001-2011 – mit den gleichen Linksparteipolitiker*innen an der Spitze wie heute – über 100.000 Wohnungen privatisiert hat.
Augenwischerei ist auch der soziale Anstrich im Koalitionsvertrag, was die Preissenkung des Sozialtickets „Berlin-Ticket S“ auf 25,45 Euro betrifft. Denn einerseits bleibt die Bindung an den „berlinpass“ bestehen, für den die allermeisten Betroffenen sich den drangsalierenden Regeln von Hartz IV oder Asylbewerberleistungsgesetz unterwerfen müssen. Und andererseits finden sich im Koalitionsvertrag Überlegungen für die Zerschlagung und mögliche Teil-Privatisierung der S-Bahn.
Und wenn wir schon beim Asylbewerberleistungsgesetz sind: Genauso wie die bisher einzige R2G-Landesregierung in Thüringen will sich auch das Berliner Pendant an gesetzliche Regelungen zur Abschiebung von abgelehnten Asylbewerber*innen halten. Heißt im Klartext: Berlin wird weiter abschieben – unter Mitverantwortung der Linkspartei. Damit macht sich die Linkspartei einmal mehr zum sozialen Feigenblatt der rassistischen Politik des deutschen Imperialismus.
Der Koalitionsvertrag beinhaltet ebenfalls Absichtserklärungen, die Teilprivatisierung der Charité Facility Management GmbH (CFM) vor zehn Jahren – wiederum unter der Ägide der rot-roten Koalition – rückgängig zu machen und bessere Löhne in verschiedenen Gesellschaften im Verantwortungsbereich des Landes Berlin zu zahlen. Diese Absichtserklärungen hätte es sicherlich ohne den beinharten Widerstand der Beschäftigten der „Töchter“ in den letzten Monaten nicht gegeben. Letztes Beispiel für den Kampfgeist der Kolleg*innen ist der endlich unterschriebene Tarifvertrag in der Betriebsgesellschaft Botanischer Garten und Botanisches Museum, der Beschäftigten bis 2019 eine Angleichung an den TV-L und damit Lohnerhöhungen von teilweise über 40 Prozent garantiert. Doch dieser Erfolg kam nur deshalb zustande, weil die Beschäftigten sich nicht mit halbgaren Versprechungen zufrieden gegeben, sondern immer weiter gekämpft haben. Das wird auch mit einer R2G-Regierung notwendig sein. Denn wir alle wissen, „Papier ist geduldig“, und der Finanzierungsvorbehalt wird im Tagesgeschäft der Koalition die meisten Punkte auf der „sozialen Wunschliste“ im Koalitionsvertrag zerquetschen.
Noch dazu verpflichtet sich die Koalition zu einem jährlichen Schuldendienst von mindestens 80 Millionen Euro, der sein Übriges dazu tun wird, die Hoffnungen auf einen „sozialen Politikwechsel“ dem Rotstift zum Opfer fallen zu lassen.
Das Einzige, worüber wir uns sicher sein können, ist dass die Koalition die im Vertragsentwurf festgehaltene Aufstockung von Polizeipräsenz und mehr Bewaffnung mit Tasern, Bodycams und Ähnlichem schnellstmöglich durchziehen wird. Diese Verstärkung des staatlichen Repressionsapparats wird von dem sozialen Jargon des Koalitionsvertrags verschleiert, doch gerade sie werden die Jugend und die Arbeiter*innen, besonders die Migrant*innen, am meisten zu spüren bekommen.
Mitgliederentscheid: Mit Nein Stimmen! Aber auch Konsequenzen ziehen!
Gegen diesen Koalitionsvertrag muss die Linksparteibasis mit Nein stimmen. Der kommende „linke“ Senat wird, ähnlich wie sein rot-roter Vorgänger in den Jahren 2002-11, eine Politik im Interesse der Baumafia und gegen die Interessen der arbeitenden Bevölkerung fortsetzen. In dieser Situation wird die rechtsextreme AfD als einzige Alternative zu dieser angeblich „linken“ Misere erscheinen. Umso wichtiger ist es, dass sozialistische Aktivist*innen nicht als ein radikaler Flügel einer Regierungspartei auftreten. Stattdessen brauchen wir eine kämpferische linke Front aller revolutionären Sozialist*innen.
Wenn der „linke“ Senat die prekären Arbeitsverhältnisse in den Landesunternehmen weiterhin verteidigt, müssen wir gemeinsam als linke Opposition bei den Streiks der Kolleg*innen sein. Wenn R2G weiterhin Menschen abschiebt und zwangsräumen lässt, müssen wir das mit Mobilisierungen praktisch verhindern. Wenn die „Regierungssozialist*innen“ die Universitäten und Schulen weiterhin unterfinanziert lassen, müssen wir mit den Jugendlichen Besetzungen führen.
Denn das Problem ist nicht nur der Koalitionsvertrag. Das Problem ist, dass die Linkspartei – und zwar nicht nur die Parteispitze auf Landesebene – keine Alternative für die Arbeiter*innen, die Jugend, die Frauen, die Migrant*innen ist. Warum verharrt die Linkspartei denn bundesweit bei 9 bis 10 Prozent, während sie längst von der AfD überholt wurde? Warum konnte die Linkspartei in Berlin von der Krise der Großen Koalition nur mit 3,9 Prozentpunkten mehr als 2011 profitieren, während die AfD aus dem Stand 14,2 Prozent holte?
Der Koalitionsvertrag ist kein Fehltritt von ansonsten „aufrichtigen Genossen“. Der Koalitionsvertrag ist ein weiterer Beweis dafür, dass mit der Linkspartei eine Politik im Dienste der Arbeiter*innen und Unterdrückten nicht zu haben ist.
Es wäre eine Tragödie, wenn viele Aktivist*innen mit revolutionärem Selbstverständnis (u.a. von Marx21 und SAV) als die Opposition innerhalb der Regierungskoalition auftreten. Nein, eine klare Alternative muss her. Deshalb reicht es nicht aus, gegen den Koalitionsvertrag zu stimmen. Wenn die verbliebenen „Linken in der Linken“ nicht auch endgültig zu einem Feigenblatt der unsozialen Regierungspolitik werden wollen, müssen sie auch Konsequenzen ziehen: Austritt aus der Linkspartei, wenn sie in die Regierung kommt, und Aufbau einer möglichst breiten und sichtbaren Front von links gegen die neue Regierung.
Ursprünglich auf DieFreiheitsliebe.de erschienen