Solingen: Nazi-Aufmarsch erst verhindert, dann gelungen

29.08.2024, Lesezeit 15 Min.
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Foto: KGK

Rechte instrumentalisieren den Mord von Solingen, um dorthin zu mobilisieren und Geflüchtete sowie Muslim:innen zu bedrohen. Zwei Tage in Folge wurde erfolgreich verhindert, dass gewaltsame Übergriffe stattgefunden haben. Der Aufmarsch von knapp 200 Nazis konnte am Montag durch massiven Polizeischutz durchgeführt werden.

Kurz nach dem brutalen Messerangriff am 23.08.2024, bei dem drei Menschen getötet und acht weitere verletzt wurden, machten die Rechtsextremen schnell einen Schuldigen aus. Wie immer, wenn solche Tragödien geschehen, instrumentalisierten sie die Tat, um ihre rassistische Agenda zu verbreiten. Konservative Kräfte schürten zusätzlich die Stimmung gegen Migrant:innen. Ein ähnlicher Vorfall in Großbritannien führte bereits zu Pogromen. Der rechtsextreme Mob versteht es, die gesellschaftliche Stimmung zu ihren Gunsten zu beeinflussen und konservative Akteure vor sich herzutreiben. Dabei nutzen sie die politische Lage, um offen und selbstbewusst aufzutreten und Aufmärsche zu organisieren.

Was ist passiert? 

In den frühen Stunden des Sonntags verbreiteten sich erste Informationen über eine von der Jungen Alternative angemeldete Kundgebung in Solingen. Unter dem Motto „Remigration rettet Leben“ sollte diese in der Nähe des Tatorts und der Geflüchtetenunterkunft stattfinden. Der Aufruf wurde in zahlreichen rechtsextremen Chatgruppen und sozialen Medien geteilt. Antifaschist:innen aus ganz NRW reagierten schnell.

An den folgenden Tagen, Sonntag und Montag, versammelten sich zahlreiche Antifaschist:innen in Solingen, um an der Gedenkveranstaltung teilzunehmen und gegen die angekündigten Proteste der Rechtsextremen vorzugehen. Verschiedene linke Gruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen fanden sich auf dem Kirchplatz zusammen. Viele trugen Schilder, die ihren Unmut gegenüber der AfD ausdrückten und sich für den Schutz Geflüchteter aussprachen. Die Stadt Solingen hat seit dem Brandanschlag auf die Familie Genç im Jahr 1993 Erfahrungen des zivilgesellschaftlichen Protests gegen rechte Kräfte.

Die Polizei war mit zahlreichen Einsatzkräften vor Ort, hielt sich aber zunächst zurück. Sie eskortierte kleinere Gruppen von Nazis durch die Stadt und verhinderte Konfrontationen mit Antifaschist:innen. Dabei setzte sie auch Polizeigewalt ein – ein Demonstrierender berichtete von einer Kopfverletzung. Einige Maßnahmen der Polizei wurden aufgrund des lautstarken Widerstands der Protestierenden abgebrochen. Am Sonntag gelang es den Antifaschist:innen, die Demonstration der Jungen Alternative zu verhindern und die Geflüchtetenunterkunft sowie die Gedenkstätte am Kirchplatz zu schützen.

Das Gefühl des Erfolgs hielt jedoch nur kurz an. Bereits auf der Rückfahrt aus Solingen verbreiteten sich Meldungen, dass Rechtsextreme für den nächsten Tag nach Solingen mobilisieren würden. Die Sorge vor einer „Jetzt-erst-recht“-Aktion wuchs.

Am Montagmorgen mehrten sich die Berichte über eine geplante Demonstration von Rechtsextremen. Antifaschist:innen organisierten gemeinsame Anreisen aus verschiedenen Städten in NRW. Ab 16:30 Uhr versammelten sich Angehörige der linken Szene an der Geflüchtetenunterkunft, um die Bewohner:innen zu schützen. Dieser Schutz wurde jedoch von der extrem gewaltbereit auftretenden Polizei unterbunden. Die Polizei untersagte den etwa 200 Anwesenden, sich direkt vor der Unterkunft zu versammeln, da die Mahnwache dort nicht angemeldet sei. Der Anmelder, Mitglied des Bündnisses „Widersetzen“, erklärte, dass die Polizei ihm am Vortag untersagt hatte, die Mahnwache dort anzumelden, da bereits eine andere Demonstration angemeldet worden sei. Von dieser war jedoch am Tag selbst nichts zu sehen.

Die Versuche, die Mahnwache direkt vor der Unterkunft abzuhalten, wurden immer wieder verboten, und die Demonstrierenden wurden gezwungen, sich auf die andere Straßenseite zu begeben. Selbst eine Spontandemo zum Schutz der Bewohner:innen wurde mit der Begründung abgelehnt, es gäbe bereits genug Kundgebungen gegen Rechts. Als eine Anwältin konsultiert wurde, um gegen diese Einschränkungen vorzugehen, begann die Polizei, die etwa 60 verbliebenen Antifaschist:innen gewaltsam zu räumen. Unter Einsatz von Polizeigewalt wurden sie zurückgedrängt, wodurch der effektive Schutz der Geflüchtetenunterkunft erschwert wurde.

Während der Auseinandersetzungen versammelten sich Rechtsextreme zur angekündigten Demo, die mit einer Kundgebung auf dem Graf-Wilhelm-Platz startete und später durch die Stadt ziehen sollte. Viele Antifaschist:innen waren noch an der Unterkunft beschäftigt oder schlecht informiert und konnten daher nicht rechtzeitig reagieren. Die Polizei riegelte die Innenstadt ab und verhinderte, dass Personen, die „links“ aussahen, in die Nähe des Platzes gelangen konnten. Die Demo wurde als „Montagsdemo“ von der Gruppe Freie Bergische Löwen, die dem verschwörungsideologischen Spektrum angehört, angemeldet und eignete sich somit perfekt für die Teilnahme der Rechtsextremen. 

Die Demo startete mit einer Kundgebung – schon hier bemühten sich die wenigen Antifaschist:innen, denen es gelungen war, auf den Platz zu kommen, die Nazis zu stören, wurden dabei jedoch von der Polizei gekesselt. Schließlich erlaubte die Polizei den Rechtsextremen ihre Demo wie geplant mit einer Route durch die Stadt fortzusetzen. 

Der Demonstrationszug bestand aus etwa 120 Teilnehmenden, von denen einige auch in Autos fuhren, der Rest war zu Fuß unterwegs. Unter den Demonstrierenden waren Mitglieder der AfD, der Partie „Die Heimat“ (ehemals NPD), sowie vom dritten Weg und bekannte Gesichter aus dem Neo-Nazistischen Kampfsportevent  „Kampf der Nibelungen“. Das Durchschnittsalter war höher als bei den rechtsextremen Demonstrationen in Leipzig oder Magdeburg. 

Auch entlang der Demoroute versuchten Antifaschist:innen an zahlreichen Stellen die Nazis zu stören, das extrem große Aufgebot an – teilweise sehr gewaltbereiten – Polizistinnen  schützte jedoch durchgängig die Rechtsextremen. Relativ zu Beginn der Demo hatten Antifaschist:innen einen Block von etwa 20 Personen gebildet und standen den zahlreichen Polizist:innen, die vor der Demo liefen, mit etwa 200 Metern Abstand gegenüber. Plötzlich formierten diese sich in einer langen Reihe, gaben ein kriegsähnliches Gebrüll von sich und stürmten auf uns zu. Diejenigen von uns, die nicht schnell genug Zuflucht in einer Seitengasse gefunden hatten, wurden von den Cops weggestoßen, bis diese eine Kette vor uns aufbauten um den kurze Zeit später vorbeilaufenden Nazizug zu schützen. Die Polizei sah die Bedrohung ganz klar bei den Antifaschist:innen, nicht bei den Nazis. So konnte man beobachten, dass sie die meiste Zeit die Nazis im Rücken hatten und den Blick die Linken gerichtet hatte, bereit einzugreifen. 

Der Anmelderin der Demonstration, ebenfalls Mitglied bei den „Freien Bergischen Löwen“, wurde es irgendwann zu heikel, als vermehrt rechtsextreme Parolen wie „Deutschland den Deutschen“ fielen. Nach mehrfacher Aufforderung diese Rufe zu unterlassen, beendete sie die Demonstration schließlich öffentlich. Sie sei zwar für „Remigration“, aber nicht für rechte Parolen. Die Rechtsextremen wollten sich ihren Umzug davon nicht vermiesen lassen. Ein bekannter Neonazi, der der Partei die Heimat angehört, riss die Verantwortung an sich, bevor die Polizist:innen die Teilnehmenden von der Kreuzung, an der der Zug stehen geblieben war, entfernen konnte. Der genaue Ablauf ist unklar, aber es scheint, als sei es ihm erlaubt worden, eine zweite, spontane Versammlung anzumelden und die Demo so (unter abgeänderter Route) weiterzuführen. Dieser Umstand ist besonders absurd vor dem Hintergrund, dass den Antifaschist:innen die Anmeldung einer Mahnwache zum Schutz Geflüchteter direkt vor der Unterkunft untersagt worden war. Es ist ebenfalls unklar wie viele der Verschwörungsideolog:innen die Demo nach der Beendigung durch die ursprüngliche Anmelderin verließen – diese Frage wird innerhalb der Freien Bergischen Löwen auf sozialen Medien heiß diskutiert. In jedem Fall hatten sich während der längeren Zeit, die der Demozug im Kontext der Beendigung und Wiederaufnahme der Veranstaltung stehengeblieben war, einige Nazis auf den Weg Richtung Stadtinneres gemacht. Man konnte beobachten, wie sie vereinzelt und in einer größeren Gruppe entspannt wegspazierten, während die Polizei Antifaschist:innen stundenlang mit Drohen, Zivis und Polizeiwägen durch die Seitenstraßen verfolgte. Dabei stellten die Polizist:innen ihre rechte Gesinnung immer wieder unter Beweis, provozierten die Gegendemonstrant:innen und äußerten mehrfach das Verlangen, in gewalttätige Auseinandersetzung zu gehen. Der Demozug 2.0 durfte schließlich den neu gewählten Weg zuende gehen. 

Als es dunkel wurde nutzten die Nazis die relative Freiheit, die die Polizei ihnen gewährte, um durch die Straßen von Solingen zu laufen und Antifaschist:innen aufzulauern. Viele von ihnen waren stark alkoholisiert. Berichte von körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Antifaschist:innen und Rechtsextremen liegen bisher nicht vor. Die Antifaschist:innen, die zu der Zeit noch in der Stadt waren, sammelten sich an der Geflüchtetenunterkunft, um diese zu schützen. Das war auch dringend notwendig, in der unmittelbaren Nähe lauerten Gestalten mit Shirts, auf denen Sprüche wie „Ihr Asylantrag wurde abgelehnt“, oder „Abschiebehelfer“ zu lesen waren. 

Bei der Abreise organisierten die Antifaschist:innen sich solidarisch – in gemeinsamen Gruppen verließen sie die Innenstadt. Am Bahnhof waren einige wenige Polizist:innen stationiert, in mindestens einem Fall wurde den Nazis der Zugang zu einer S-Bahn, in der Antifaschist:innen saßen, verwehrt. 

Während es am Sonntag gelang, die rechtsextreme Kundgebung durch Widerstand aus Zivilbevölkerung und die Mobilisierung antifaschistischer Organisationen aus ganz NRW zu verhindern, waren die Linken am Montag unterlegen. Zwar waren die Antifaschist:inenn zahlenmäßig mehr als die Nazis, doch die Polizei nutzte jedes ihr zur Verfügung stehende Mittel, um die Demonstration der Rechtsextremen zu schützen. In der Auseinandersetzung während der kritischen Begleitung des Demozuges war deutlich, dass das zurückhaltende Auftreten der Polizei für bürgerliche Parteien reserviert war, während Antifaschist:innen mit der Brutalität begegnet wurde, die man von Vertreter:innen des deutschen Staates erwarten kann und muss. Es gelang zwar noch bis spät in die Nacht die Geflüchtetenunterkunft zu schützen, allerdings war hier auch Polizei anwesend.

Was ist unsere Strategie?

Wir dürfen uns im Kampf gegen Rechts nicht auf den Staat und die Polizei verlassen. Die Ampelkoalition und die bürgerliche Opposition übernehmen zunehmend rechte Positionen und treiben mit der militärischen „Zeitenwende“ und ihrer rassistischen Politik gegen Migrant:innen und Geflüchtete den Rechtsruck weiter voran. 

Diese rassistische Politik der „Mitte“-Parteien, die den öffentlichen Diskurs seit der Europawahl deutlich nach rechts verschiebt, sowie eine starke AfD ermutigen Nazis ihre reaktionäre Politik mit Gewalt durchzusetzen. Dies äußert sich nicht zuletzt durch die Naziangriffe auf die CSDs in Bautzen, Essen oder Leipzig.

Es ist klar: Der Kampf gegen Rechts kann nur durch die Selbstorganisation von unten, die in den Betrieben, Schulen und Unis geführt werden muss, erfolgen.

Kurzfristig muss antifaschistischer Selbstschutz bedeuten, sich jetzt den Rechten entgegenzustellen, ihre Aufmärsche, Demos und Gewalttaten aktiv zu bekämpfen und ihre Angriffe vehement zurückzuschlagen. Die Teilnahme an solchen Aktionen kann Linke, die dem reformistischen Lager zugehörig sind, radikalisieren und die Notwendigkeit für klassenkämpferische und radikale Positionen verdeutlichen. Die Entwicklungen an der Geflüchtetenunterkunft am Montag zeigen dabei deutlich, dass die Polizei den Schutz vulnerabler Gruppen nicht priorisiert und Linke sogar daran hindert, diese Aufgabe zu übernehmen. Die zunehmende Einschränkung der Versammlungsfreiheit wurde zuletzt vor allem im Kontext der Repressionen gegen palästinasolidarische Proteste deutlich. 

Während am Sonntag noch vereinzelt ver.di-Flaggen in Solingen zu sehen waren, fehlte am Montag die Unterstützung der Arbeiter:innenorganisationen im Kampf gegen den rechten Mob. Die von der Jungen Alternative angemeldete Demo ist dadurch verhindert worden, dass nicht nur in antifaschistischen Strukturen sondern auch innerhalb der Stadtbevölkerung zum Gegenprotest mobilisiert worden ist. Am Folgetag hatte das Solinger Bündnis „Bunt statt Braun“ deutlich kommuniziert, dass es sich bei der Veranstaltung, die parallel zu der rechtsextremen Demo stattfinden sollte nicht um eine Kundgebung oder Demonstration handele, sondern um einen „Raum für Trauer“. In dem Infopost heißt es weiter „Zeitgleich findet am Neumarkt eine Kundgebung der Montagsspaziergänger statt, die in dieser Woche in dasselbe rassistische Horn stoßen, wie die JA es heute bereits versuchte. Wir hoffen, dass deren Veranstaltung auf genauso wenig Resonanz stößt wie die [am Sonntag].“ Leider lagen sie damit falsch. Die Rechtsextremen, die aus ganz Deutschland angereist waren, wurden nicht konfrontiert, es wurde zugelassen, dass sie sich versammeln, neonazistische Parolen rufen und ihre Hetze verbreiten. 

Dieser Missstand verdeutlicht, dass langfristig die Entwicklung aktiver antifaschistischer Strukturen in den Gewerkschaften notwendig ist, um Proteste wie den Naziaufmarsch in Solingen zu verhindern und vulnerable Gruppen zu schützen. Aktuell sind diese Strukturen nicht ausreichend vorhanden. Dieser Umstand darf jedoch nicht dazu führen, dass wir den Protesten fernbleiben. Ganz im Gegenteil ist es unsere Pflicht, sich dem Kampf gegen Rechts anzuschließen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Aufmärsche dort stattfinden, wo die lokalen Strukturen nicht ausreichen, um sie zurückzuschlagen. 

Wie wir in unserem Leitartikel schreiben: „Wenn 1000 Nazis auftauchen, müssen wir uns mit 10.000 gegen sie stellen!“ 

Langfristig kann es nicht die Lösung sein, dass der antifaschistische Selbstschutz überwiegend von Aktivist:innen aus anderen Städten organisiert wird. Wir müssen eine Strategie entwickeln, die es ermöglicht, den antifaschistischen Kampf dauerhaft in Betrieben, Schulen, Universitäten und Wohnvierteln zu verankern. Dafür sind die Gewerkschaften unerlässlich. Sie sind in den lokalen Kontexten verankert und können durch ihre ökonomische Kampfkraft die Bedingungen bekämpfen, aus denen der Faschismus immer wieder entsteht.

Jetzt ist keine Zeit für leere Worte von Funktionär:innen. Stattdessen müssen wir einen Antifaschismus von unten organisieren. Deshalb setzen wir uns dafür ein, die antifaschistische Selbstorganisation in Betrieben, Schulen und Universitäten mit den Kämpfen gegen Kürzungen, für höhere Löhne und gegen Aufrüstung zu verbinden. Wir wehren uns gegen Repressionen und den Abbau demokratischer Freiheiten. Daher rufen wir dazu auf, gemeinsam ein Programm zu entwickeln und die nötige Verankerung aufzubauen.

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