Solingen: Eure Kriege, unsere Toten

26.08.2024, Lesezeit 9 Min.
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Foto: Orlok / Shutterstock.com

Nach dem Attentat werden die Stimmen lauter, die auf rassistische Weise die muslimische und arabische Bevölkerung unter Generalverdacht stellen. Die Regierungspolitiker:innen kommen den Rufen entgegen und versprechen härtere Disziplinierungsmaßnahmen. Dabei haben NATO und EU für das Attentat eine Verantwortung zu tragen.

Laut aktuellem Stand sind drei ältere Menschen dem Messerangriff auf der 650-Jahr-Feier in Solingen zum Opfer gefallen und acht weitere wurden verletzt. Der Islamische Staat (IS) hat das Attentat für sich reklamiert und der NRW-Innenminister Herbert Reul teilte mit, den mutmaßlichen Täter, der aus Syrien geflüchtet sein soll, festgenommen zu haben. Laut dem Statement des IS wurde die Tat „als Rache für Muslime in Palästina und anderswo“ verübt, mit dem Ziel „eine Gruppe von Christen“ zu treffen. Das Attentat wird nun als Vorwand benutzt, um noch härter gegen Geflüchtete und Migrant:innen vorzugehen.

Wir lehnen terroristische Anschläge auf Zivilist:innen ab. Das Attentat von Solingen ist ein abscheulicher Terror auf Zivilist:innen, der nur reaktionäre Feindseligkeiten unter den Massen schürt. Es spielt der Regierung, den Konservativen und der Rechten in die Hände, die die muslimischen Migrant:innen nun unter Generalverdacht stellen. Damit schürt es Illusionen in reaktionäre Ideologien. Wir lehnen aber auch die rechte Hetze gegen Muslim:innen ab, die nur aufgrund ihres Glaubens unterdrückt werden. Wie auch in Großbritannien scheinen die faschistischen Mobs in Deutschland ein neues Momentum zu erleben, in der diese, ganz ähnlich wie in den 1990er Jahren, offen Pogrom-Szenarien herbeiführen. 

IS-Terror ist eine Folge der imperialistischen Politik

Der IS war besonders in der Phase von 2015-2017 mit terroristischen Anschlägen in Europa aktiv. In seiner Hochzeit (2014) gelang es der Organisation, große Gebiete im Irak und Syrien zu erobern, die er ab 2017 wieder verlor. Trotz der Niederlagen in Rojava, Syrien und Irak wurde der IS nicht aber zerstört, sondern die fundamentalistische Miliz wechselte ihren Fokus auf andere asiatische und afrikanische Länder, wo sie mit Attentaten immer wieder Massaker ausübte. Ob das Attentat in Solingen den Beginn einer neuen Welle von IS-Terror kennzeichnet, bleibt offen. Es steht fest, dass der IS immer noch mit dem Aufruf nach Dschihad aus verarmten, deklassierten, benachteiligten Teilen der Bevölkerung rekrutieren kann und zwar nicht nur im Westasien oder Afrika, sondern auch in den imperialistischen Zentren, wo er deshalb rekrutieren kann, weil Flüchtlinge menschenunwürdig in Lager gesteckt und in Krisenregionen abgeschoben werden. Solange es diese Tendenz gibt, bleibt die Gefahr nach weiteren Anschlägen real. Der IS ist eine reaktionäre Organisation, die Andersgläubige vernichtet, Frauen aus den eroberten Gebieten versklavt und die Arbeiter:innenstrukturen zerstört. Um diese Organisation zu bekämpfen, müssen wir verstehen, wie es ihr überhaupt gelang, sich zu behaupten.

Die Regierungspolitiker:innen versprechen, durch scheinheilige Maßnahmen die Sicherheit des Landes zu garantieren. Dabei vertuschen sie nur die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Es ist alles andere als ein Geheimnis, dass die USA durch die Förderung islamistischer Gruppen ein politisches Vakuum in Westasien geschaffen haben. Anfang der 1980er Jahre waren die islamistischen Mudschaheddin in Afghanistan Verbündete der Vereinigten Staaten, um ihren Stellvertreter:innenkrieg gegen die Sowjetunion zu führen. Der Bundesnachrichtendienst (BND) schloß sich diesem Projekt an, indem er die afghanischen Mudschaheddin, die sich in Teilen später den Taliban anschlossen, im Guerillakrieg gegen die Sowjetunion finanziell unterstützte. Aus den Mudschaheddin wiederum erwuchs Al-Qaida, in der der IS von 2004 bis 2013 aktiv war. 

Die Geburt des IS hängt unmittelbar mit der Invasion des Iraks durch die USA zusammen. Eine angebliche Bedrohung der USA durch nicht gefundene Massenvernichtungswaffen hat die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerungen in der gesamten Region ruiniert und zwischen 500.000 bis 1.000.000 Menschen das Leben gekostet. Es ging den USA bei ihrer Invasion darum, sich die Ölquellen zu sichern und Irak zum Vasallen zu machen. Dazu kommt, dass die NATO-Staaten Anfang der 2010er Jahre durch die Interventionen in den arabischen Frühling dafür gesorgt haben, dass die Volksaufstände in mehreren Ländern entweder verhindert oder umgeleitet wurden, um ihre Geschäfte und regionalen Komplizen zu schützen. Als eine Reihe von Ländern in Trümmern lagen, konnte der IS leicht Anhänger:innen für sich gewinnen. Der Terror, den die imperialistischen Staaten mit Krieg und Waffen säen, trifft am Ende ihre eigene Bevölkerung. Die Bundesregierung muss daher dazu gezwungen werden, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen wie den Stopp der Waffenexporte, aller Auslandseinsätze der Bundeswehr und der Unterstützung des Genozids seitens des israelischen Staates. 

Das Attentat in Solingen hat erneut vor Augen geführt, dass der IS kein Phänomen jenseits der deutschen Gesellschaft ist. Durch die Niederlage des arabischen Frühlings, wie im Falle Syriens, wo durch einen Stellvertreterkrieg das Land zerstört wurde, ist nicht nur eine Geflüchtetenbewegung entstanden, sondern es kam zu einer Politisierung jugendlicher und jungerwachsener Migrant:innen in den europäischen Zentren. Es gibt darunter auch islamistisch radikalisierte Teile, die durch die rassistische Innenpolitik und die Kriege in den Ländern ihrer Familien auf die Idee kommen, dass die einzige Gemeinschaft, in der sie Zugehörigkeit und Akzeptanz finden können, islamistische Organisationen sind. Für seinen klerikalen Religionskrieg rekrutiert der IS in Deutschland vor allem aus Arbeiter:innen und ärmeren Vierteln der Migrant:innen, die systematisch unter Generalverdacht stehen und Ausgrenzungen erfahren, indem diesen Teilen soziale Gemeinschaft und die Überwindung materieller Sorgen versprochen wird. Der antimuslimische Rassismus, der die Muslim:innen unter Generalverdacht stellt, entweder unter dem Einfluss des islamistischen Terrors zu stehen oder das Potenzial mit sich herum zu tragen, die deutsche Gesellschaft von innen heraus zu zersetzen, spielt dem IS in die Hände. 

Nicht nur der IS schürt Hass durch den Religionskrieg. Es wird auch in westlichen imperialistischen Zentren der Klassenantagonismus verschleiert, indem die Gegensätzlichkeit von Religionen als Problem dargestellt werden, um die bestehenden gesellschaftlichen Reibungen und Polarisierungen zu erklären. Selbst in einem Land wie Palästina, das kolonialistisch besetzt wurde und aktuell einem genozidalen Krieg ausgesetzt ist, wird ständig von einem Religionskonflikt gesprochen.

Was tun, wenn die Regierung den Rechten nachläuft?

Das Attentat von Solingen wird von den Rechten instrumentalisiert, um Rufe nach „Remigration“ zu verbreiten und die „Unvereinbarkeit Deutschlands mit dem muslimischen Glauben“ zu propagieren. Hinter dieser Rhetorik steckt der Gedanke, Massenabschiebungen gesellschaftlich akzeptiert umzumünzen und zu normalisieren. Die „Junge Alternative“ hat in Solingen gemeinsam mit Neonazis zur Kundgebung in der Nähe von einem Geflüchtetenheim aufgerufen, weshalb Antifaschist:innen eine Gegendemonstration mobilisiert haben, um mögliche Pogrome wie in UK zu verhindern. Denn im kollektiven Gedächtnis der Anwohner:innen von Solingen steht auch der rechte Terror des Jahres 1993, als Faschist:innen einen tödlichen Brandanschlag verübt haben, wie aber auch ein weiterer Brandanschlag vor ein paar Monaten. Die Rechten versuchen die Muslime, Geflüchtete und Migrant:innen als das größte Kriminalitätsproblem abzustempeln, während die überwiegende Mehrheit von terroristischen Attentaten in diesem Land von ihnen ausgeht. 

Die Regierung reagiert auf die Hetze, indem sie Verständnis für solche Ideen zeigt und verspricht, stärker abzuschieben und die Grenzen dicht zu machen. Denn die AfD liegt in den Umfragen für die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen ganz vorn mit jeweils über 30 Prozent. Durch die Stimmungsmache zielt sie darauf ab, mehr Anhänger:innen zu gewinnen und die stärkste Kraft zu werden. Friedrich Merz (CDU) fordert nun einen Aufnahmestopp für Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan. Bayerns Ministerpräsident will mehr Racial Profiling durch anlasslose Kontrollen seitens der Polizei in Fußgängerzonen. Bundespräsident Steinmeier fordert mehr Befugnisse für die Polizei und die SPD-Chefin Saskia Esken fordert mehr Abschiebungen. Die Parteien sprechen einheitlich, indem sie sich für mehr Disziplinierung, Sanktionen und die Aufrüstung der Polizei aussprechen.

Da wo die AfD die stärkste Kraft ist, werden auch die Angriffe auf Migrant:innen, Linke, LGBTIQ-Personen (wie im Falle der CSD-Parade in Bautzen) zunehmen. In UK haben in den vergangenen Wochen Antifaschist:innen erfolgreich gegen faschistische Pogromstimmungen mobilisiert und sie abwehren können. Wir sollten uns an diesen antifaschistischen Mobilisierungen orientieren, um uns und Geflüchtete vor rechter Gewalt zu schützen und uns zusammen zu organisieren. Diese vereinte Perspektive kann nur gelingen, wenn wir sowohl gegen diejenigen, die Pogrome sehen wollen, als auch gegen diejenigen, die ganz nach dem Gesetz “im großen Stil” abschieben wollen, vorgehen. Denn die Polizei behandelt die Kundgebungen von Neonazis, auf denen zu ethnischer Säuberung aufgerufen wird, als Akt der Meinungsfreiheit und greift, im Gegenteil, diejenigen Demonstrant:innen an, die gegen die AfD und co. auf die Straße gehen. Für einen erfolgreichen Schutz vor dem braunen Pack können wir uns nicht auf die Regierung oder die Polizei verlassen, die beim Aufstieg der Rechten zuschauen.

Wie wir im Leitartikel betont haben;

Der Widerstand gegen AfD und Co. fällt nicht vom Himmel, er muss mittels Demonstrationen, Streiks und Blockaden geübt werden. Mobilisierungen gegen die AfD wie in Essen oder Blockaden wie in Jena sind wichtige erste Schritte. Wo 1.000 Nazis auftauchen, müssen wir uns mit 10.000 gegen sie stellen!  Der beste Weg im Kampf gegen Rechts ist, wenn die verschiedenen Bewegungen in einem Komitee, beim Streikposten und auf der Straße Seite an Seite stehen und den Angriffen von Unternehmen, Polizei und Nazis trotzen. Um der AfD entgegenzutreten, braucht es eine massenhafte Selbstorganisation von unten, ausgehend von den Betrieben, Schulen und Unis.

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