Sinkende Zahlen sind kein Grund zur Fahrlässigkeit – für eine bewusste Öffnungspolitik!

25.06.2021, Lesezeit 6 Min.
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Die Bundesregierung antwortet auf die niedrige Fallzahlen mit Öffnungen von Geschäften und Lokalen, aber auch mit der Genehmigung von Fußballspielen mit mehreren tausenden Menschen und der Abschaffung der Home-Office-Pflicht. Wird die Verschnaufpause sinnvoll genutzt, oder verpasst die Politik die Möglichkeit, sich auf den ungewissen Winter vorzubereiten?

Nach mittlerweile 1,5 Jahren Pandemie geben die aktuellen Zahlen Grund zur Hoffnung: Die Fallzahlen sinken in den einstelligen Bereich, während die Impfquote rasant steigt. Aufgrund dieser vermeintlichen Erfolge ist das Aufatmen groß. Geschäfte und Bars werden geöffnet, die Home-Office Pflicht wird ausgesetzt und EM-Spiele mit mehreren tausenden Zuschauern dürfen in Präsenz ausgetragen werden.

Die Pandemie scheint vorbei, was sich perfekt mit dem Beginn des Wahlkampfes im Sommer deckt. Vergessen scheinen die Fehltritte der letzten Monate, jetzt wird sich wieder auf das fokussiert, was die deutsche Regierung kann: Die Wirtschaft stabilisieren, Gewinne sichern. Das Tief der Fallzahlen wird als Erfolg gefeiert, während noch vor wenigen Wochen Skandale über Masken-Affären und monatelange Lockdowns und Ausgangssperren zum Tagesgeschäft gehörten.

Diese politische Linie birgt Gefahren, da mögliche Risiken durch Mutationen und die erneut steigende Ansteckungsgefahr im Winter ignoriert werden – die Auseinandersetzung wird auf ein “später” verschoben, weil es praktischer ist.

Steigende Fallzahlen und Todeszahlen werden dann behandelt, wenn sie wieder auf der Agenda stehen. Wie das konkret aussieht, kennen wir bereits aus zwei Lockdowns: Betriebe werden auf Biegen und Brechen geöffnet bleiben, Großkonzerne mit Subventionen geschützt, während prekarisierte Menschen ihre Jobs verlieren und um ihre Existenz bangen müssen, während Jugendliche im vierten digital Semester landen und an die psychische Belastungsgrenze stoßen.

Anstatt die Phase des Aufatmens zu nutzen, um Konzepte auszufeilen und Alternativen zum Lockdown zu erarbeiten, werden die Gefahren fahrlässigerweise ignoriert.

Ein Blick in die Wissenschaft – Stehen wir vor dem Ende einer Pandemie?

In Deutschland befinden sich die Corona-Zahlen aktuell im Sinkflug. Die Sieben-Tage-Inzidenz ist unter 10 gefallen. Damit haben wir uns einem Virus-Verlauf wie im ersten Jahr der Pandemie angenähert: Waren die Zahlen im April noch exponentiell steigend, fielen sie mit steigenden Temperaturen in den einstelligen Bereich.

Dabei lassen sich einige Unterschiede und Gleichheiten zum letzten Jahr feststellen: Einerseits besteht mittlerweile die Möglichkeit, durch Tests eine gewisse Sicherheit für die Menschen zu schaffen und die das Risiko minimieren. Eine weitere wichtige Veränderung: Die Impfung. Mittlerweile sind mehr als die Hälfte aller Deutschen einmalig geimpft, fast ein viertel vollständig immunisiert. Die Impfkampagne läuft schnell voran, weshalb zum kommenden Winter ein Großteil der Menschen immunisiert sein wird.

Auch wenn diese Zahlen Grund zur Hoffnung geben, zeigen die Fakten auch, dass sie mit großer Vorsicht zu genießen sind. Auch im letzten Jahr waren die Fallzahlen im Sommer niedrig, was nicht zuletzt der niedrigen Resistenz der Viren gegen Hitze zu verdanken sein kann. Die Zahlen sind deshalb nicht zwangsläufig ein Indikator für eine “gute Corona-Strategie”. Sinkende Temperaturen hingegen bergen die Gefahr von erneuten Ansteckungswellen.

Gleichzeitig sehen wir uns diesen Sommer einer neuen Herausforderung gegenübergestellt: Das Virus mutiert stetig. In vielen ärmeren Ländern wie Indien wütet das Corona-Virus ungehindert, während in imperialistischen Staaten Erfolge gefeiert werden. Da sie selbst kaum Impfdosen erhalten und das Virus nicht kontrollieren können, kann sich das Virus ungehindert verbreiten und schafft somit die Grundlage für weitere Mutationen. Nach der britischen und südafrikanischen Variante hat sich in Indien jetzt die sogenannte Delta-Variante ausgebreitet:

Bei der Delta-Variante konnten Forscher bereits einen Vorteil für die Verbeitung ausmachen: Das Virus ist offenbar deutlich ansteckender, man vermutet eine zwischen 40 und 60 Prozent höhere Übertragbarkeit als die Alpha-Variante, auch Infektiosität genannt. Das ist ein enormer Vorteil für das Virus – für den Wirt, in diesem Fall für den Menschen, hingegen ein Nachteil.

In Großbritannien hat die Delta-Variante bereits dazu geführt, dass sich die Inzidenz trotz sechzig prozentiger Impfquote wieder verdoppelt hat, bestätigen offizielle Zahlen. Mögliche Folgen der neuen Mutation? Im schlimmsten Fall kann sich das Virus so verändern, dass Impfungen ihre schützende Wirkung verlieren. Vakzine müssten dann modifiziert werden und Menschen eine Auffrischung erhalten. Dies ist besonders gefährlich, wenn Menschen nur einmal geimpft und nur schwach geschützt sind. Im schlimmsten Fall kann das Virus sich an die Impfung anpassen und Resistenzen ausbilden. Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie warnt davor, dass die Ausbreitung der Delta-Variante das Erreichen der Herdenimmunität erschweren kann.

Die Delta-Variante bereitet sich aktuell sehr schnell in München aus, mit einem Anteil von 81,6 Prozent aller gemeldeten Fälle der letzten zwei Wochen, aber auch in anderen Teilen Deutschlands. International ausgetragene Fußballspiele mit mehreren Tausenden Menschen auf engem Raum, Auslandsreisen und das gemeinsames Arbeiten verstärken die Verbreitung zunehmend. Die Gefahren, die die neue Mutation mit sich bringt, sind für uns deshalb nur schwer abzuschätzen. Vorschnelles Handeln und ein Ausruhen sind fahrlässig und gefährden die Gesundheit weiterer tausender Menschen.

Gefahren einer rücksichtslosen Öffnungspolitik

Die Pandemie hat uns eines gelehrt: Unüberlegtes und überstürztes Handeln hat uns bereits 1,5 Jahre gekostet, die von harten Restriktionen und Belastungen geprägt waren, die durch eine effiziente Corona-Politik hätten vermieden werden können.

Anstelle sich jetzt für die niedrigen Fallzahlen auf die Schulter zu klopfen, sollten die Regierungen Pläne erarbeiten, Konzepte ausfeilen und Expert:innen befragen, wie ein erneuter Lockdown verhindert werden kann. Doch Politiker:innen wie Jens Spahn beschäftigen sich lieber mit Wahlkampf und Selbstinszenierung, anstatt sich um das Wohlergehen von Millionen von Arbeiter:innen zu kümmern, die schon jetzt vor den erneuten Folgen des Virus bangen.

Wir brauchen einen Plan, der auch Jugendliche, Studierende, Alleinerziehende, Kulturschaffende, Obdachlose, kranke und alte Menschen, alle, die diese Pandemie besonders trifft, mitdenkt. Die von Prekarisierung und Armut betroffenen Menschen ertragen keinen dritten Winter in Ungewissheit, sozialer Vereinzelung und existentieller Not!

Wir brauchen keinen weiteren sozialen Lockdown, in dem Theater, Bars, Unis und Schulen geschlossen werden oder bleiben, während die Wirtschaft weitere Profite einstreicht. Wir brauchen eine transparente und sinnvolle Öffnungspolitik nach den Bedürfnissen der Arbeiter:innen und nicht nach den ökonomischen Interessen der Wirtschaft und der Regierungsparteien. Die Zeit zu handeln ist jetzt und nicht erst, wenn es zu spät ist.

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