Siko ‘25: Kanzler Scholz, Kanzler Merz und die kalte Dusche für Europa
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Die Sicherheitskonferenz 2025 wird in die Geschichte eingehen: Der US-Vizepräsident Vance düpiert die europäischen Staaten. Und obwohl Deutschland mit zwei Kanzlern vertreten ist, scheint es keine Antwort darauf zu geben. Die diesjährige Siko ruft: Herzlich willkommen in der neuen Ordnung des Chaos!
Applaus nur am Anfang der Rede, lange und ernste Gesichter und ein Medienecho, was sich schockiert zeigt: Wir befinden uns auf der Münchner Sicherheitskonferenz des Jahres 2007. Wladimir Putin hält eine Rede, unmittelbar nach Angela Merkel. Das Thema der Rede: Die unipolare Weltordnung. Putin erklärt dieser unipolaren Weltordnung den Kampf: „Ich denke, dass für die heutige Welt das monopolare Modell nicht nur ungeeignet, sondern überhaupt unmöglich ist.“
Man dürfe die UNO nicht durch die NATO und die EU ersetzen, so Putin weiter. „Russland ist ein Land mit einer tausendjährigen Geschichte und fast immer hatte es das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik führen zu können. Wir werden an dieser Tradition auch heute nichts ändern. Dabei sehen wir sehr genau, wie sich die Welt verändert hat, schätzen realistisch unsere eigenen Möglichkeiten und unser Potenzial ein. Und natürlich möchten wir gerne mit verantwortungsvollen und ebenfalls selbständigen Partnern zusammenarbeiten am Aufbau einer gerechten und demokratischen Welt, in der Sicherheit und Aufblühen nicht nur für Auserwählte, sondern für alle gewährleistet ist“, erklärte Putin weiter.
Vance und sein Putin-Moment
Doch der Schock von damals war nicht im Vergleich zu dem, was der neue US-Vizepräsident, James David Vance, am ersten Tag der Münchner Sicherheitskonferenz des Jahres 2025 darbot. Seine nicht einmal zwanzig minütige Rede war eine ideologische Kampfansage an die europäischen Partner der USA. Der neue Transatlantizismus kam nicht als Welle über den Atlantik geschwappt, sondern eher als Tsunami. Es ging nicht im geringsten um Außenpolitik. Die größte Gefahr für Europa gehe nicht von Russland oder China aus, sondern komme von innen aus den europäischen Staaten selbst. Was dann folgte war ein Frontalangriff auf die „liberalen“ Demokratien Europas.
Im Deckmantel der Meinungsfreiheit kritisierte Vance allerlei Gesetze, die es der „reaktionären Internationale“ etwas erschweren, ihre Politik durchzusetzen. So monierte Vance die Verurteilung von Abtreibungsgegnern in Großbritannien, die Schwangere vor Abtreibungskliniken belästigten.
Er kritisierte die Verurteilung einer Person in Schweden, die öffentlich eine Koranverbrennung vornahm. In Europa gebe es, genauso wie in den USA zu viel Migration, wie der Angriff auf eine Versammlung am Vortag in München gezeigt habe, wobei er die Falschmeldungen des bayerischen Innenministers übernahm, dass der Täter polizeibekannt sei.
Weiter monierte Vance die Annulierung der ersten Wahlrunde durch das rumänische Verfassungsgericht, nachdem der als pro-russisch geltende Präsidentschaftskandidat Çalin Georgescu vorne lag und sich für die Stichwahl qualifizierte.
Und das Löschen von anti-feministischen Kommentaren auf Social-Media-Plattformen missbilligte der Vizepräsident ebenso.
Offene Wahlkampfbeeinflussung
Doch damit nicht genug: Vance machte klar, dass es für ihn keinen Platz für Brandmauern gebe in der Politik. Er kritisierte offen, dass zur Sicherheitskonferenz Parteien, sowohl von links als auch von rechts, nicht zur Siko eingeladen worden seien, nur weil sie abweichende Meinung vertreten würden. Damit waren natürlich das BSW und die AfD gemeint, die von den Veranstaltern der Siko bewusst nicht eingeladen worden waren.
Er verglich die heutigen liberalen Demokratien der europäischen Staaten mit der Sowjetunion, wo auch Kirchen geschlossen und Wahlen annuliert worden seien. „Waren sie die Guten?“, fragte er rhetorisch. Zum Glück hätten sie nicht den Kalten Krieg gewonnen.
Einer der größten Verfechter der Demokratie in Europa, sei Papst Johannes Paul II. gewesen, führte der 2019 zum Katholizismus konvertierte Vance aus. Der polnische Papst war maßgeblich an der bürgerlichen Restauration beteiligt und seitdem ist Polen einer der wichtigsten Verbündeten der USA in Europa.
Man könnte meinen, die Rede galt der Basis von Vance, als habe er vergessen, dass die Wahl in den USA vorbei sei. Doch es ging nicht nur um die Bedienung der evangelikalen und katholischen Basis, sondern um den deutschen Wahlkampf.
Vance setzt damit die Intervention des Trumpismus in den deutschen Wahlkampf, die Elon Musk begonnen hatte, fort. Musk war virtueller Gast beim AfD-Parteitag, rief zur Wahl der AfD auf und meinte, diese Wahl in Deutschland sei vielleicht entscheidend für die gesamte weitere Entwicklung der Menschheit – eine klare Ansage, welche Bedeutung der Trumpismus der Bundestagswahl beimisst und auf welches Pferd er setzt.
Vance: Länder Europas, trumpisiert euch!
Die Rede kann man auch so zusammenfassen: Länder Europas, trumpisiert euch, werdet so wie wir! Es ist letztlich die Aufforderung, mit der „freiheitlichen“ bürgerlichen Demokratie Schluss zu machen, welche sich mit der kapitalistischen Restauration unter der Führung der USA ausgebreitet hatte. Es ist der Aufruf zu autoritären Maßnahmen, der Aufruf hin zur Bonapartisierung des ganzen alten Kontinents.
Unter dem heuchlerischen Diskurs der Rettung der „Meinungsfreiheit“ sollen extrem rechte Positionen nicht nur salonfähig werden, das sind sie in Europa längst, sondern sie sollen Teil der Regierung werden, Teil der Politik, noch viel schärfer als bislang. Es ist ein Frontalangriff auf alle Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung in gesellschaftlichen Fragen, wie sie durch die Frauenbewegung oder die LGBTI-Bewegung erkämpft worden sind.
Unter dem Deckmantel der „Demokratie“ sollen diejenigen freien Lauf haben, die diese Rechte bekämpfen. Sie sollen die letzten Bastionen linker Hegemonie vernichten.
Scholz: Der Kanzler auf Raten
Die Reaktionen der deutschen Politiker darauf wirkten etwas hilflos. Olaf Scholz war zwar noch als Bundeskanzler da, aber er wirkte eher wie eine Mischung aus einem hanseatischen Rechtsanwalt und Buchhalter. Er rechnete vor, wie viel Deutschland schon für seine Aufrüstung tue. Ansonsten inszenierte er sich als Verteidiger der „Demokratie“ und der so genannten Brandmauer, also der Versuch des Ausschlusses der AfD aus dem politischen Regime bei gleichzeitiger Umsetzung der reaktionären Migrationspolitik der AfD durch das „demokratische“ Lager. Er nahm Bezug auf das ehemalige Konzentrationslager Dachau, das unweit des Konferenzortes lag, weswegen es nie wieder eine Kooperation mit der extremen Rechten geben würde – als wäre es nicht seine Politik, die der AfD erst den Boden bereitet hätte.
Nur wenige Stunden nach dem Angriff auf eine ver.di-Demonstration am vergangenen Donnerstag, meinte Scholz, ohne über Einzelheiten informiert gewesen sein zu können und auf Grundlage von von der bayerischen Staatsregierung gestreuten Falschinformationen, dem Täter werde kein Pardon gewährt, er sei ein Straftäter aus Afghanistan, der ins Gefängnis komme und auch in Deutschland nicht bleiben könne. Urteile werden nun vom Bundeskanzler nur wenige Stunden nach einer Tat gefällt, um der rassistischen Hetze Vorschub zu leisten.
Aber Scholz nahm eigentlich keiner wirklich ernst in München: Über seinen Spruch, dass bei der letzten Bundestagswahl auch keiner an seinen Sieg geglaubt habe und er diese schließlich gewann, lachte dann auch nur er.
Merz: Der Schattenkanzler
Daher traf sich Vance gar nicht einmal mehr mit Scholz, sondern mit dem als Schattenkanzler auf der Konferenz auftretenden Friedrich Merz, aber auch mit Alice Weidel. So überraschte es nicht, als die Moderation Katarzyna Pisarska Merz versehentlich als Kanzler vorstellte, ein klassischer freudscher Versprecher. Genaueres ist aus den Gesprächen von Merz und Vance nicht bekannt. Merz nannte allerdings die Rede Vances „fast schon übergriffig“, verteidigte aber nicht klar die Brandmauer gegen die AfD, welche er sowieso schon eingerissen hatte und damit dem Druck der neuen Machthaber in Washington nachgegeben hatte.
Ein allgemeiner Aufruhr folgte durch die Reihen der europäischen Vertreter:innen, ein diffuses Rufen nach einem geeinten, starken Europa. Doch Europa ist keinesfalls geeint, noch wirkt es in irgendeiner Weise vorbereitet auf den trumpisitsichen Frontalangriff. Die Speerspitze des deutschen Transatlantiszismus, die Grünen, wussten auch nicht mehr als Vance etwas verzweifelt anmutend zuzurufen: „Das, was Vance gestern gemacht hat, geht ihn nichts an. So klar muss man das sagen. It’s none of your business“, so der Kanzlerkandidat der Grünen, Robert Habeck.
Was Merz genau vorschwebt, ist noch unklar. Er behauptet, dass Trump berechenbar sei und das mache was er sagt, eine durchaus kühne Behauptung. Er wolle Deals mit Amerika machen und wolle selbstbewusst auftreten, weil die Amerikaner keinen Respekt vor Leuten hätten, die sich kleiner machen als sie sind.
Merz stellt sich ein Europa vor, in dessen Herzen Deutschland liegt und eingerahmt wird durch Frankreich und Polen, denen er zukünftig eine gleichrangige Bedeutung beimessen wolle. Hierfür will Merz offenbar einen Bündnis-Vertrag mit Polen schließen, ähnlich wie dem Elysée-Vertrag zwischen Frankreich und Deutschland 1963. Er will offenbar auch die Frage der Reparationsforderungen Polens aufgrund des Zweiten Weltkrieges klären, die die Beziehungen der beiden Staaten seit jeher belasten. Doch auch hier wird viel von der Intervention des Trumpismus in Europa abhängen: In der im Mai 2025 stattfindenden polnischen Präsidentschaftswahl könnte wieder die PiS als Siegerin hervorgehen und so die fragile, den Trumpismus ablehnende polnische Regierung ablösen.
Was Vance nicht erwähnte: Den Ukraine-Krieg
Doch als wäre die Dusche noch nicht kalt genug gewesen für die versammelte europäische Führungsriege, war eigentlich noch bemerkenswerter, worauf Vance mit keiner Silbe einging: den Ukraine-Krieg. Nur wenige Tage zuvor verkündete Trump, dass er mit Putin zur Aufnahme von Friedensverhandlungen telefoniert hatte.
Erst danach telefonierte er mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Die europäischen Verbündeten erfuhren erst aus den Medien von dem Telefonat. Entsetzen machte sich breit, Europa fürchtet, auf das Verhandlungsergebnis keinen Einfluss mehr nehmen zu können. Aber schlimmer noch: Es fürchtet, einen hohen Preis zahlen zu müssen, ohne nennenswerten Ertrag. So könnte ein Ergebnis sein, dass die EU eine Friedenstruppe in einer Rest-Ukraine stellt, während sich die USA die Ausbeutung der seltenen Erden in der Ukraine sichern.
Doch dass es schnell zu einem Waffenstillstand kommt, ist nicht zu erwarten. Trump hat sein Versprechen nicht halten können, innerhalb weniger Tage den Krieg in der Ukraine beenden zu können. Bereits zwei Tage nach seiner Wahl hatte er ein Telefonat mit Putin, in dem er Putin offenbar dazu riet, den Krieg nicht zu eskalieren und verwies offenbar auf die in Europa stationierten US-Truppen. Im Anschluss daran verwendete Putin Hyperschallmittelraketen zum Beschuss der Ukraine. Das Telefonat war für Trump wohl so wenig erfolgreich, dass er mittlerweile nicht mehr bestätigt, dass es dieses überhaupt stattgefunden habe.
Dass Trump also von heute auf morgen in der Lage ist, den Krieg zu beenden, ist ein Mythos. Solange Trump die Kosten nicht investieren möchte, wie die weitere finanzielle Förderung der Ukraine, hat Putin keinen Grund, den Krieg einfach so zu beenden. Putin konnte die Front stabilisieren, hat zwar hohe Verluste, aber die russische Armee hält die Offensive. Einen längeren Abnutzungskrieg könnte Russland gewinnen, während die Ukraine einerseits moralisch geschwächt ist, aber vor allem die USA ihre Finanzierung zurückziehen.
Entscheidend für die Verhandlungen wird sein, welche Kriegsziele Putin erreichen will. Dieses war zunächst, in der Ukraine eine russlandfreundliche Regierung zu installieren, was scheiterte. Ob Putin dieses Kriegsziel aufgegeben hat, ist fraglich. Wenn dies sein Ziel ist und er weiter bereit ist, hohe Opfer zu bringen, gibt es keinen Grund für einen schnellen Waffenstillstand. Trotz aller Sanktionen wächst die Wirtschaft und Russland schafft es trotz bestimmter Hindernisse, permanent neue Soldat:innen für den Krieg zu mobilisieren. Will Putin beschränkte Ziele erreichen, wie eine Verhinderung der NATO-Mitgliedschaft und der Einverleibung einiger Territorien, so könnte der Krieg durch einen Waffenstillstand eingefroren, aber nicht beendet werden. Hierbei spielt auch eine Rolle, ob die Ukraine Teil der EU werden soll.
Putin als Sieger über die unipolare Weltordnung?
Letztlich hat aber Putin derzeit kein Interesse an einer schnellen, schlechten Lösung für ihn. Selbst wenn Trump umschwenkt und die finanziellen Hilfen für die Ukraine wieder aufnehmen will, dauert es seine Zeit, bis der Kongress das genehmigt. Letztlich könnte die Position Putins nur dann eine Schwächung erfahren, wenn sich die EU mit Großbritannien für eine von den USA unabhängigere Unterstützung entscheidet. Eine eher wenig realistische Option, schaut man sich die schwachen Regierungen in Frankreich und Deutschland an, wobei Bayrou nur unter Duldung der Rechten und der Linken einen Haushalt durchbringt und Merz vor Ostern keine Regierung wird bilden können. Die Zeit spielt für Putin. Auf Ruf des französischen Präsidenten treffen sich die Führungen Europas nun am Montag im Elysée, das Ergebnis ist offen.
So könnte Putin sein 2007 erklärtes Ziel erreichen, der USA und Europa eine historische Niederlage beizufügen und die unipolare Weltordnung zu beenden. Die Geschichte schließt sich in München.