Sie sterben auf den Straßen, während er im Palast schläft
Die zehntausenden Toten bei den Erdbeben sind das Resultat einer rassistischen, kapitalistischen Politik der türkischen AKP-Regierung.
In Kurdistan, der Türkei und Syrien erschütterten gestrigen Morgen und Nachmittag Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,5 die Region und kosteten den bisherigen Zählungen nach über 4822 Menschen das Leben. Die Zahl steigt seit dem erfsten Erdbeben im Stundentakt um mehrere Hundert Opfer. Ganze Viertel wurden dem Erdboden gleichgemacht, mehrere Zehntausende Verletzte suchen nach Überlebenden unter den Trümmern der eingestürzten Gebäude. Mittlerweile wird von mehreren Nachbeben berichtet.
Vor allem Gebiete in Nordkurdistan und an der Grenze zu Syrien sind auf Freiwilligendienste der zivilen Bevölkerung angewiesen und auf allen Kanälen der sozialen Netzwerke wird internationale Hilfe koordiniert. Nach den etlichen Boden- und Luftangriffen der Türkei, der Abschottung kurdischer Dörfer in Rojava von der Gesellschaft und mit dem Migrationsabkommen zwischen der Türkei und der EU, sind die Menschen in den betroffenen Gebieten am härtesten von den Folgen der Erdbeben betroffen. Knappe Lebensmittel- und Gasbestände waren schon vor den Erdbeben ein enormes Problem. Aufgrund einer brennenden Pipline hat zum Beispiel die Stadt Hatay aktuell gar keinen Zugang mehr zu Gas. Die medizinische Infrastruktur in Kurdistan ist durch die Zerstörung von Krankenhäusern weit entfernt davon, in der aktuellen Katastrophensituationen vollumfängliche Hilfe für die Bevölkerung leisten zu können. Betroffene helfen einander, weil der Einsatz von Hilfskräften aus der Türkei kontrolliert wird. Aufgrund der zerstörten Straßen und Trümmerhaufen können Ambulanzen und Hilfsorganisationen viele betroffene Gebiete gar nicht erst erreichen.
Seit einer Katastrophe nahe Istanbul im Jahr 1999 führte die türkische Regierung zur Vorbeugung und Bewältigung weiterer Erdbeben eine Steuer ein. Damals starben über 18.000 Menschen an den Folgen der Beben. Seither hat die türkische Regierung jedoch keine ausreichenden Maßnahmen und Verbesserung für den Katastrophenschutz unternommen. 12 Jahre nach der größten Erdbebenkatastrophe der Türkei, auch unter der Regierung der AKP und Erdogan, starben 600 Menschen in der kurdischen Stadt Wan, im Januar und Oktober 2020 kam es zu über 150 Todesfällen bei Erdbeben in Eleziz. Sowohl Wan, als auch Elezîz, sind kurdische Städte, die in diesen Situationen größtenteils im Stich gelassen wurden.
Immer wieder mussten Zivilist:innen einander helfen, die Versorgung war lahmgelegt, Monate und Jahre später waren Häuser und Wohnungen der Menschen immer noch zerstört. Alle Diskussionen, die jetzt stattfinden, müssen wir auch im Kontext der sehr konkret ausgesprochenen Warnungen verstehen. Der Geowissenschaftler Prof. Dr. Naci Görür, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, hat nach einem Erdbeben, das sich 2020 im Bezirk Sivrice von Eleziz ereignete (Stärke 6,5), vor einem Beben in diesem Ausmaß gewarnt. Das Beben 2020 hat laut ihm die Erdbebenlinie aktiviert, sodass ein Erbeben der Stärke 7,5 in Maraş zu erwarten ist. Andererseits wurde bekannt, dass auch die in den Niederlanden ansässige System Geometry Survey die Türkei am 3. Februar gewarnt hat. Der niederländische Forscher Frank Hoogerbeets, der als Erdbebenexperte in der Einrichtung arbeitet, teilte mit: „Früher oder später wird es in der Süd- und Zentraltürkei, in Jordanien, Syrien und im Libanon ein Erdbeben der Stärke 7,5 geben.“ Er postete auf Twitter ein Foto, auf dem das Zentrum des Erdbebens eingekreist war. Die Regierung ignorierte diese und andere Warnungen. Sie investierte die Mittel aus der Erdbebensteuer in Förderung für kapitalistische Unternehmen, den eigenen korrupten Apparat und die Kriegswirtschaft. Anstatt in Forschung, Prävention und Nothilfe zu investieren, baute die AKP-Regierung mit dem Geld unter anderem die türkische Armee aus, welche sie für Angriffe auf die von den Erdbeben betroffenen kurdischen Städte benutze. Auch finanzierte die AKP Bauprojekte von Unternehmen, bei denen unter lebensbedrohlichen Bedingungen Wohnungen und öffentliche Einrichtungen entstanden, welche, nicht präventiv gegen diese Katastrophen gesichert worden sind – obwohl sie sich in einem der aktivsten Erdbebengebiete der Welt befinden.
Während der Staatschef, Lobbyist:innen und korrupte Minister:innen die Bevölkerung ausbeuten, weiß nicht nur die kurdische, sondern auch die türkische Bevölkerung kaum noch, wo ihr täglich Brot herkommen soll. Während Erdbebenkatastrophen Häuser und Wohnungen von zerstören, schläft der Präsident in einem katastrophensicheren 300-Zimmer-Palast mit Meerblick in Marmaris. Zur gleichen Zeit wie extreme Dürrephasen die ländliche Arbeit von Bauern und Hirten teilweise unmöglich machen, lässt sich ihr Staatsoberhaupt genüsslich in Luxusrestaurants ablichten. Während ausgelernte Arbeiter:innen Jobs als Tagelöhner annehmen, Student:innen nach abgeschlossenem Studium an Kino- und Supermarktkassen arbeiten und arbeitslose Familien auf den Straßen der Türkei Taschentücher verkaufen, sitzt Erdogan im von Steuergeldern finanzierten Privatjets.
Die unzähligen Toten sind nicht nur ein Resultat von Naturkatastrophen, sondern von rassistischer, kapitalistischer Politik. In den kurdischen Städten sind keine Zivilist:innen vor Katastrophen geschützt. Etwas mehr, aber immer noch viel zu wenig Schutz haben auch alle anderen Zivilist:innen in der gesamten Türkei. Ein Präsident, der sich jederzeit in Windeseile in seinem erdbebensicheren Palast verstecken kann, braucht gerade nicht in aller Öffentlichkeit sein Beileid aussprechen und internationale Hilfe fordern, die vermutlich nicht einmal in den Katastrophengebieten landen würden. Eine Regierung, die seit Jahren die kurdische Arbeiter:innenbewegung unterdrückt, ihre Organisationen verbietet, der kurdischen Bevölkerung die Nutzung der eigenen Sprache verwehrt und aktiv an ihrem Leid und Tod beteiligt ist, braucht nun nicht so tun, als wäre ihr auch nur ein einziges Leben wichtig, das bei den Erdbeben verloren wurde.
Es braucht keine milliardenschwere Militarisierung – weder in der Türkei noch in Deutschland. Das Geld muss stattdessen in eine stabile Infrastruktur im gesundheitlichen Sektor fließen, um in Katastrophensituationen wie heute Hilfe leisten zu können. Bau- und Immobilienkonzerne müssen enteignet werden, damit sofort mit dem erdbebensicheren Wiederaufbau der zerstörten Häuser und Wohnungen begonnen werden kann, ohne dass Profite vor Menschenleben stehen. Der derzeit inhaftierte ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş hat vorgeschlagen, sich selbst und alle politischen Gefangenen an den Rettungsarbeiten zu beteiligen. Alle politischen Gefangenen sind freizulassen, solange es ihr Gesundheitszustand zulässt, für Wiederaufbau und Solidarität. Alle internationalen und lokalen Hilfen sollten von lokalen Organisationen selbst koordiniert werden. Die zuständigen Minister und die Regierung müssen zurücktreten, weil sie die Verantwortung dafür tragen, dass Tausende ihr Leben verloren haben, indem Gelder für die Erdbebenprävention stattdessen für Militarisierung verschwendet wurden und sie bei der bisherigen Koordination von Unterstützung total versagt haben.
Unsere Gedanken sind bei den unzähligen Opfern, die der Profitgier des türkischen Kapitalismus zum Opfer gefallen sind. Sowohl bei den aktuellen Erdbeben, als auch bei den etlichen Militäroffensiven durch die türkische Armee. Berxwedan Jîyan e!