„Sie sprach über Yousef, als sei er in einer Naturkatastrophe ums Leben gekommen“
Interview mit Wissam Fakher als Vertreter der Kasseler Hochschulgruppe Unidiversität, dessen Kommilitone Yousef Shaban im Bombardement Gazas ermordet wurde.
Seit rund einem Monat führt der israelische Staat einen Genozid in Gaza durch. Was bedeutet das für euch und wie geht ihr damit in eurer politischen Arbeit um?
Der Genozid weist eine Kontinuität im israelischen Umgang mit den Forderungen der palästinensischen Bevölkerung seit der NAKBA 1948 auf. Doch dieses Mal zeigen die Ausmaße der Angriffe, insbesondere auf ZivilistInnen, und die komplette mediale Verleugnung der Tatsachen, dass die zionistische Entität sich zum Ziel gesetzt hat, alle PalästinenserInnen zu vertreiben und unter den Augen der Welt zu massakrieren. Dieses Massaker hätte nicht ohne die Zustimmung imperialistischer Mächte, vor allem der USA und der EU unter der Führung Deutschlands, durchgeführt werden können. Als Gruppe von StudentInnen an der Universität Kassel streben wir immer danach, dass linke migrantische und internationale Studierende eine Stimme im politischen Dialog haben. Genau das will der deutsche Staat zum Schweigen bringen, dagegen wollen wir ausschließlich vorgehen. Für uns bedeutet das, die Studierenden zu mobilisieren, indem wir Netzwerke aufbauen, Demonstrationen trotz fortwährender Verbote organisieren und Veranstaltungen an der Uni durchführen, um über den Befreiungskampf der PalästinenserInnen aufzuklären..
Ende Oktober wolltet ihr einen Film über die Besetzung Gazas in der Uni zeigen, wurdet dann aber aus den bereits zugesagten Räumen ausgeladen. Was ist dort passiert?
Wir planten die Vorführung des Films „Gaza Fights for Freedom“ der Regisseurin Abby Martin. Der Film zeigt, wie die israelische Armee mit dem „March for Return“ von 2018-2019 umgegangen ist. Das Ziel war es, zu zeigen, dass die israelische Armee, unabhängig davon, ob es sich um friedliche Demonstrationen oder bewaffneten Widerstand handelt, mit äußerster Härte vorgeht. Der Film erzählt die Geschichten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Marsches, wie israelische Soldaten explizit Journalistinnen, sowie Sanitäterinnen und Sanitäter erschossen haben. Darüber hinaus wurden Menschen kaltblütig getötet, nur weil sie die Blockade beenden und die Forderung nach dem Rückkehrrecht gemäß der UN-Resolution 194 hervorheben wollten.
Ursprünglich sollte der Film am 27. Oktober gezeigt werden. Am 23. Oktober erhielten wir die Zusage vom AStA (Allgemeiner Studierendenausschuss). Jedoch erhielt der Vorsitzende des AStA am 26. Oktober einen Anruf vom Staatsschutz, dass der Film nicht gezeigt werden sollte. Die Universitätsleitung hat dann eine E-Mail an den AStA geschickt, in der sie mitteilte, dass der Film nicht gezeigt werden dürfe. Dies steht im Gegensatz zu einer früheren Mitteilung derselben Leitung vor einem Monat, als sie uns mitteilte (aufgrund einer Anfrage von uns an die Universitätsleitung zur Bekämpfung von rassistischem und gewaltvollem Verhalten im Rahmen der AStA-Wahlen), dass sie sich nicht in Angelegenheiten des AStA einmischen werde, da dieser autonom und selbstverwaltet sein sollte. Diese Position änderte sich, als wir die Absicht hatten, einen Film über den Gazastreifen zu zeigen.
Die Universitätsleitung begründete ihre Position damit, dass der Film nichts mit Hochschulpolitik zu tun habe. Dabei vergessen sie gleichzeitig, dass ein Student der Universität Kassel, Youssef Shaaban, mit seiner Familie durch israelische Bomben am 24. Oktober. 2023 in Gaza ums Leben gekommen ist.
Wir haben das Verbot nicht akzeptiert und haben vor dem AStA, als der Film eigentlich gezeigt werden sollte, demonstriert. Aufgrund dessen wurden einige unserer Kommilitonen wegen Straftaten angezeigt. Der Grund dafür war unser Ruf nach „From the River to the Sea… Palestine Will Be Free“. Zudem wurden Ordnungswidrigkeiten verhängt, da die Versammlung nicht angemeldet war, obwohl sie auf dem Uni-Campus stattfand und friedlich verlief.
Nach der Versammlung haben einige von uns den Film gemeinsam mit anderen solidarischen StudentInnen in einem kulturellen Zentrum geschaut, das Palästina unterstützt. Polizeiautos waren ebenfalls dort, haben jedoch nicht eingegriffen.
Wie geht ihr mit den Anzeigen um, die ihr bei der Kundgebung erhalten habt und wie kann man dich unterstützen?
Wir berufen uns auf unser Grundrecht auf Meinungsfreiheit, das Recht auf Widerstand usw. Ein freies Palästina, das sich vom Jordan bis zum Mittelmeer erstreckt, ist eine äußerst legitime Forderung. Es handelt sich um ein freies Palästina, in dem alle Menschen friedlich zusammenleben können. Hierbei sollten sowohl PalästinenserInnen als auch Israelis von der rassistischen und völkerrechtswidrigen Doktrin der zionistischen Besatzung befreit werden. Mit dieser Parole positionieren wir uns gegen die Zwei-Staaten-Lösung, da sie das Rückkehrrecht und die Sache der palästinensischen Diaspora nicht berücksichtigt oder anders gesagt, eliminiert. Ein demokratischer Staat für alle PalästinenserInnen und Israelis, in dem alle gleichwertig und gleich behandelt werden, könnte die Lösung sein. Die Kriminalisierung dieser Parole bedeutet für uns, Israel grünes Licht zu geben, um die palästinensische Existenz zu zerstören. Genau das ist es, was Deutschland tut!
Ich fühle mich sehr unwohl dabei, ich fühle mich in meinem Dasein als freier Mensch angegriffen. Die Kriminalisierung der Parole wurde mit der Verteidigung des Existenzrecht des zionistischen Staates begründet. Wir sagen dazu, Menschen haben das Recht zu existieren, nicht Staaten.
Unterstuzung kann man indem man mehr Öffentlichkeitsarbeit, Spenden und Solidarität leistet.
Wie du bereits erzählt hast wurde auch ein Student von der Uni Kassel, Yousef Shaban, vom israelischen Staat ermordet. Wie geht ihr damit um?
Yousef war ein Freund und Kommilitone von uns. Er war ein fleißiger Student, der sein Studium schnell abschließen wollte, um eine Arbeitsstelle zu finden und seine Familie sicher nach Deutschland zu bringen. Vor drei Monaten hatte Yousef eine Anstellung als Ingenieur in einem Unternehmen gefunden. Leider konnte er sein Ziel nicht erreichen. Wir bedauern zutiefst, wie Yousef und seine Familie ums Leben gekommen sind. Die Geschichte von Yousef spiegelt die Lebensrealität vieler migrantischer Studentinnen und Studenten in Deutschland wider. Viele fliehen vor Kriegen, die vor allem mit westlichen Waffen geführt werden, um in einem sicheren Umfeld Zuflucht zu finden. Yousef war nicht nur ein Student, sondern auch ein Arbeiter, dessen Wert durch Bomben beeinträchtigt wurde. Die gleichen Bomben, die den Wert unserer Existenz als Migranten als Arbeitskräfte mindern, bestimmten das Leben von Yousef und führten zu seiner Zerstörung.
Wir werden die Geschichte von Yousef öffentlich machen und sie sichtbar darstellen. Wir lassen uns weder von der Universitätsleitung noch vom deutschen Staat zum Schweigen bringen. Das bedeutet, dass wir im Namen von Yousef politische Arbeit leisten werden, indem wir ihn zu einem Symbol unseres Kampfes in Deutschland, insbesondere an deutschen Universitäten, machen.
Bei der Kundgebung zum Gedenken an Yousef nahm auch die Unipräsidentin teil, die die Kundgebung vollständig entpolitisieren wollte, und als es ihr nicht gelang, diese abgebrochen hat. Was ist dort genau passiert?
Die Universitätsleitung forderte von uns, eine unpolitische Gedenkveranstaltung abzuhalten. Sie wollte dabei die Nennung des Täters vermeiden. Genau das hat sie auch am Tag der Kundgebung versucht. Sie kam und forderte sofort, dass alle palästinensischen Symbole (Flaggen, Kuffiyas) entfernt werden sollten, mit der Begründung, dass die Presse anwesend sei und sie nicht in Verbindung mit der palästinensischen Sache gebracht werden wolle. Ihre Rede war äußerst verwirrend für die Studierenden, die sich bei der Kundgebung versammelt hatten. Sie sprach über Yousef, als sei er in einer Naturkatastrophe ums leben gekommen. Niemand hat geklatscht, nachdem sie ihre Rede beendet hatte.
Als ein Kommilitone von Yousef eine Rede auf Englisch hielt, in der er die Täter benannte und die Verantwortung des imperialistischen und kolonialistischen Systems anprangerte, intervenierte die Universitätsleitung und versuchte, den Studenten zum Schweigen zu bringen. Der Student fuhr fort und betonte, wie verwirrend es für Sozialwissenschaftler an der Universität Kassel sei, die sich seit Jahren mit antikolonialen, postkolonialen und dekolonialen Studien beschäftigen, dass diese Institutionen keine Position zu dem Massaker in Gaza einnehmen. Der Student widersetzte sich der Entscheidung der Universitätsleitung und hinterfragte sie bezüglich des Rechts auf akademische Freiheit und der Erzählung von Narrativen, selbst wenn sie politisch unerwünscht seien. Die Situation eskalierte, insbesondere als andere Studierende begannen zu applaudieren und Unterstützung für die Rede zeigten.
Die Universitätsleitung verließ den Ort, und andere Reden wurden gehalten. Plötzlich kehrte die Universitätsleitung zurück und versuchte, das Mikrofon abzuschalten. In diesem Moment riefen alle Studierenden „Lautsprecher an!“, ein deutliches Zeichen, dass sie nicht zum Schweigen gebracht werden konnten.
Die Universitätsleitung beendete daraufhin die Kundgebung. Ihr Verhalten war nicht nur respektlos gegenüber den Freunden und Kommilitonen von Yousef, sondern auch unethisch und entsprach nicht dem Niveau einer Universität.
Was würdet ihr euch für eine Haltung von eurer Universität wünschen?
Wir erwarten eine Haltung seitens der Universitätsleitung, die dem Niveau einer Universität entspricht. Wir verstehen, dass die Universitätsleitung unter politischem Druck des Establishments steht. Wir möchten nicht behaupten, dass die Universitätsleitung eine ähnliche Position wie wir einnehmen soll, obwohl dies nach dem tragischen Verlust von Yousef angebracht wäre. Wir fordern eine faire Behandlung und Gleichberechtigung. Zwei Tage vor unserer Gedenkkundgebung fand auf dem Universitätscampus eine pro-israelische Veranstaltung statt, bei der israelische Flaggen geschwenkt und Informationsmaterial verteilt wurde, das behauptete, die NAKBA sei eine Lüge. Diese Handlungen wurden nicht kriminalisiert und sogar von der Universität unterstützt. Wir fordern lediglich, dass alle Studierenden der Universität Kassel das Recht haben, ihre politische Meinung frei zu äußern. Nicht mehr und nicht weniger!
Was unternehmt ihr jetzt, um für Palästinasolidarität an der Uni Kassel zu kämpfen?
Die Solidarität mit den Palästinensern ist derzeit stark kriminalisiert. Daher konzentrieren wir uns in unserer Arbeit auf zwei Richtungen. Erstens darauf, unsere Mitglieder rechtlich zu schützen. Das bedeutet, dass wir daran arbeiten, rechtlichen Schutz zu gewährleisten, indem wir mit Organisationen in Kontakt stehen, die dies ermöglichen können. Besonders da viele von uns Bußgelder und Vorladungen erhalten haben.
Zweitens erfordert eine nachhaltige politische Arbeit Strukturen, die den Menschen innewohnen. Das bedeutet konkret, dass wir uns auf bereits etablierte politische linke Strukturen verlassen, die an Universitäten und Arbeitsplätzen aktiv sind. Wir befinden uns auch im Aufbau neuer Bündnisse, um mit anderen Gruppen auf deutschen, europäischen und globalen Ebenen zusammenzuarbeiten. Die Situation in der deutschen linken Szene ist nicht hoffnungsvoll, da sie stark von zionistischer Propaganda beeinflusst ist. Dennoch gibt es Ausnahmen, und wir werden uns darauf konzentrieren, mit solidarischen linken Strukturen weiterhin eng zusammenzuarbeiten.
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