Serbien: Studierendenrevolte gegen drei Jahrzehnte Kapitalismus

30.01.2025, Lesezeit 10 Min.
1
Foto: krsmanovic/shutterstock

Die Studierendenbewegung in Serbien ist auch nach fast drei Monaten Protesten nicht erlahmt. Die meisten Universitäten des Landes sind nach wie vor von Studierenden besetzt und am vergangenen Freitag traten verschiedene Bereiche der Gesellschaft in den Streik, um ihre Unterstützung für die Studierenden zu bekunden und die Regierung herauszufordern. Mit dem Rücktritt von Premierminister Miloš Vučević haben sie bereits einen ersten Sieg errungen.

Der von den Studierenden nach dem tödlichen Einsturz des Bahnhofs von Novi Sad, bei dem 15 Menschen ums Leben kamen, ausgelöste Aufstand ist immer noch in vollem Gange. Die Demonstrationen werden immer massiver und finden nicht nur in großen Städten wie Belgrad, Novi Sad oder Niš statt, sondern auch in mittelgroßen Städten wie Valjevo, Sombor oder sogar Zaječar. Ein Zeichen dafür, dass die Mobilisierung nicht nur in städtischen, sondern auch in ländlichen Gebieten ein Echo findet.

Über den Skandal von Novi Sad hinaus, der in der Gesellschaft große Wut und Empörung ausgelöst hat, drückt die Studierendenrevolte etwas Tieferes aus: die Ablehnung eines ganzen schädlichen Erbes von Privatisierungen, Angriffen auf die Lebensbedingungen und Rechte der Arbeiter:innen und der arbeitenden Klassen; Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die für die Zukunft der Jugend und der am meisten benachteiligten Sektoren der serbischen Gesellschaft nichts Gutes verheißen. Deshalb stößt dieser Kampf in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft auf große Sympathie und eröffnet eine politische und soziale Krise, die der Regierung aus den Händen gleitet und die Profite der Kapitalist:innen gefährden könnte. Viele sprechen sogar von einem Kampf für „eine gerechtere Gesellschaft“.

Ein Tag des (beinahe) Generalstreiks

Am Freitag, dem 24. Januar, wurde auf Aufruf der mobilisierten Studierenden eine Streikbewegung im Lande gestartet. Obwohl diese Mobilisierung eher die Form des „zivilen Ungehorsams“ annahm, war sie ein erster Schritt, um einen Generalstreik auszulösen. So schlossen sich neben den bereits streikenden Studierenden, Jurist:innen und Lehrer:innen auch die Beschäftigten im Kultur- und Gesundheitswesen dem Streik an. Auch Kinobeschäftigte und mehrere Theater, Buchhandlungen, Cafés und Restaurants erklärten sich am Freitag den ganzen Tag über zum Streik bereit (obwohl in diesen Sektoren die Arbeitgeber:innen selbst die Proteste unterstützen, was einige wichtige Widersprüche aufwirft), ebenso wie die Beschäftigten von RTS, dem öffentlichen Fernsehsender, der Regierungspropaganda wiedergibt.

Am Montag, dem 27. Januar, machten die Studierenden erneut eine große Show, indem sie eine der wichtigsten Straßen der Hauptstadt blockierten und anschließend beschlossen, die ganze Nacht dort zu bleiben. Mit Hilfe von Arbeiter:innen, die sich der Blockade angeschlossen haben, wurde ein System zur Versorgung der Studierenden mit Wasser und Lebensmitteln eingerichtet. Dies ist ein Beweis für die große Solidarität, die die Bewegung umgibt, und für die Formen der Selbstorganisation, die sich dort entwickeln.

Die Studierenden beklagen die fortschreitende Privatisierung der Hochschulbildung durch die Erhöhung der Studiengebühren und den Druck und die Angst, die diese Situation für sie bedeutet. Dieses Thema ist unter Universitätsprofessor:innen sowie Grund- und Sekundarschullehrer:innen besonders heikel. Aus diesem Grund schlossen sich am Samstag, den 18. Januar, 4.000 von ihnen den Protesten an, und mehr als die Hälfte der Schulen des Landes streikten zur Unterstützung der mobilisierten Studierenden. Die Regierung ist sich des Potenzials des Bündnisses zwischen Studierenden und Lehrer:innen bewusst und hat schnell gehandelt, indem sie Lohnerhöhungen anbot – die einige Gewerkschaften annahmen -, um die Mobilisierung der Lehrer:innen im Keim zu ersticken.

Mit der Ausbreitung der Demonstrationen im ganzen Land sehen sich die mobilisierten Studierenden jedoch zunehmend einer Vielzahl von Bedrohungen ausgesetzt, von mit Messern bewaffneten Kapuzenmännern bis hin zu den Repressionskräften, die nicht zögern, Studierenden anzusprechen, zu verhören, zu schlagen und festzunehmen. So wurde beispielsweise die Fakultät für Schauspielkunst in Belgrad während des Gedenkens an die Opfer des Einsturzes von einer organisierten Gruppe angegriffen. Obwohl die Regierung tagtäglich gegen die Demonstranten vorgeht, wird das Ausmaß der Repression vorerst relativ moderat gehalten, da Vučić weiß, dass eine zu starke Repression die Bewegung radikalisieren und das Ende seiner Regierung beschleunigen könnte.

Wir sehen also, dass diese Bewegung von verschiedenen Teilen der Gesellschaft unterstützt wird. Der Streik vom vergangenen Freitag hat gezeigt, dass auch die städtischen Sektoren der Kultur, der Restaurants und allgemein der kleinen Unternehmen von der Mobilisierung angezogen werden und sich den Studierenden anschließen. Doch trotz der zahlreichen Aufrufe und Aktionen der Studierenden gegenüber der Arbeiter:innenbewegung beteiligt sich der größte Teil der Arbeiter:innenbewegung nicht aktiv an den Protesten: Die wichtigsten Gewerkschaftszentren sind immer noch eng mit dem Staat und der Regierung verbunden, was die direkte und organisierte Beteiligung der Arbeiter:innenklasse weiter erschwert.

Einige avantgardistische Sektoren – wie die Energiearbeiter:innen, die die Erfüllung der Forderungen der Studierenden fordern und gleichzeitig ihre eigenen Forderungen vorbringen – haben jedoch am vergangenen Freitag gestreikt und demonstriert. Diese Woche war es die Gewerkschaft des Rüstungsunternehmens Zastava (eine der wichtigsten in diesem Sektor), die sich mit dem Kampf der Studierenden für eine „gerechtere Gesellschaft“ solidarisch zeigte.

Serbische Regierung in Aufruhr

Angesichts der Massenmobilisierungen kündigte Präsident Vučić die Organisation einer „Gegendemonstration“ am selben Tag wie der Streik in der zentralen Stadt Jagodina an. Bei diesem Versuch, ein Machtgleichgewicht gegen die Demonstrationen herzustellen, organisierte Vučićs Partei Busse aus allen Teilen des Landes, um so viele Menschen wie möglich zu den Versammlungsorten zu bringen und zu zeigen, dass der Präsident noch immer die Unterstützung der Bevölkerung genießt. In seiner Rede auf dieser Veranstaltung griff Vučić die Studierenden und alle mobilisierten Sektoren an und erklärte, dass „Serbien von innen und von außen angegriffen wird“.

Zuvor hatte der Präsident in einer Fernsehansprache bereits vorgeschlagen, ein Referendum abzuhalten, um zu entscheiden, ob er an der Macht bleiben oder abgesetzt werden soll. Ein solches Referendum kann jedoch nicht vom Präsidenten selbst organisiert werden: Es obliegt den Abgeordneten, mindestens 67 Unterschriften zu sammeln, um es zu beantragen, und es muss konsultativ sein. Dies ist ein Versuch der Regierung, die Unzufriedenheit in die Wahlurnen zu lenken, und zeigt, dass die serbische Führung über das Ausmaß der Proteste besorgt ist.

Am Dienstag, den 28. Januar, trat Premierminister Miloš Vučević zurück, um, wie er sagte, „weitere Komplikationen zu vermeiden und die Spannungen in der Gesellschaft nicht weiter zu verstärken“. Auch der Bürgermeister der Stadt Novi Sad trat angesichts des Drucks der Straße von seinem Amt zurück und erklärte, dass „Stabilität und der Abbau von Spannungen sowie die Beendigung weiterer Spaltungen in der Gesellschaft die wesentliche Voraussetzung für den Fortschritt und die Entwicklung von Novi Sad und die Verbesserung des Lebens der Bürger sind“.

Die Tatsache, dass die politisch Verantwortlichen für die Tragödie in Novi Sad zurückgetreten sind, ist eine Bestätigung der Schwäche der Regierung, die die Protestbewegung nicht zufrieden stellt. Der Bürgermeister von Novi Sad und der Premierminister werden bald durch ebenso korrupte Politiker:innen ersetzt, die die neoliberale Politik der letzten dreißig Jahre fortsetzen werden. Die derzeitige Mobilisierung ist nicht nur entstanden, um Köpfe rollen zu lassen, sondern als Folge und Antwort auf ein ganzes System von Ausbeutung und Elend, das sich seit der Auflösung Jugoslawiens im Lande etabliert hat.

Eine neue Generation von Rebellen

Die jungen Menschen, die in Serbien mobilisiert wurden, haben nur den triumphierenden und gewalttätigen Kapitalismus kennengelernt, der aus der blutigen Auflösung Jugoslawiens im letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgegangen ist. Viele sind die Kinder derjenigen, die sich in den 1990er Jahren gegen das Regime des ehemaligen Präsidenten Slobodan Milošević in einem Kontext der wirtschaftlichen und sozialen Krise, aber auch gegen die direkte Einmischung imperialistischer Mächte auflehnten. Der Aufstand ist in die jüngere Geschichte Serbiens eingeschrieben und stellt eine Fortsetzung des Kampfes früherer Generationen dar.

Die Motive der Mobilisierungen gehen weit über den Unfall in Novi Sad hinaus. Sie spiegeln die sozialen und wirtschaftlichen Folgen mehrerer Jahrzehnte kapitalistischer Restauration, Privatisierung und Korruption wider, die eine kleine Minderheit von Ultramillionär:innen begünstigt haben. Ein System, das darüber hinaus die Umwelt zerstört und das in einem Kontext nationalistischer Spannungen die Region immer wieder in reaktionäre Kriege zu stürzen droht.

Unter diesem Gesichtspunkt sind die Forderungen der Bewegung nach wie vor sehr uneinheitlich und unklar, was es schwierig macht, echte strukturelle Antworten zu geben, zumindest im Moment. Auch wenn sich die Bewegung um Versammlungen an den Universitäten herum strukturiert hat, scheint sie sich keine klare politische Führung gegeben zu haben, die von den kapitalistischen politischen Parteien unabhängig ist und direkt auf eine demokratisch organisierte Basis reagiert, um Forderungen zu erheben, die den Kern des Systems angreifen und die Grundlagen für ein Bündnis mit den Arbeiter:innen und den am meisten ausgebeuteten Sektoren der Gesellschaft schaffen. In diesem Spannungsfeld versuchen die liberalen und bürgerlichen Oppositionsparteien, ihre eigene Agenda zu präsentieren, indem sie eine Übergangsregierung und die Durchführung von Neuwahlen fordern.

Der Kampf der Studierenden ist heroisch, aber um den strukturellen Übeln des kapitalistischen Regimes ein Ende zu setzen, muss er politisch, sozial und zahlenmäßig ausgeweitet werden. Soziale Forderungen wie Lohnerhöhungen oder der Kampf für eine kostenlose Hochschulbildung für alle sind von grundlegender Bedeutung, um einen ganzen Sektor prekärer junger Menschen anzusprechen, die keinen Zugang zu einer Universität haben und die Teil der Wähler:innenbasis von Vučić und der extremen Rechten sind. Andere Forderungen, wie die Annullierung umweltzerstörerischer Abkommen und die Unterwerfung unter imperialistische Interessen – wie diejenige, die die Errichtung einer Lithiummine im Jadar-Tal erlaubt – könnten ebenfalls die Verbindung zwischen all diesen Mobilisierungen gegen die allgemeine Politik der Regierung, der serbischen Kapitalist:innenklasse und ihrer imperialistischen Verbündeten herstellen.

In diesem Sinne wäre das Auftreten der mit der Studierendenbewegung verbündeten Arbeiter:innenklasse entscheidend und würde ein explosives Element darstellen, das allen Ausgebeuteten und Unterdrückten der Region und des Kontinents große Hoffnung geben könnte.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Französisch bei Révolution Permanente.

Mehr zum Thema