Serbien: Fünf Monate Kampf, die die Regierung erzittern lassen

24.03.2025, Lesezeit 8 Min.
1
Foto: Dejan82 / Shutterstock

Am 15. März, fand in Belgrad auf Initiative der Studierenden, die sich seit nunmehr fünf Monaten gegen die Korruption des serbischen Regimes mobilisieren, eine Massendemonstration statt, die wohl die größte in der Geschichte Serbiens ist.

Es ist schwierig, genau zu sagen, wie viele Demonstrant:innen am Samstag, den 15. März, in Belgrad protestierten. Aber nach Schätzungen zwischen 275.000 und 325.000 Menschen handelte es sich um eine der massivsten Demonstrationen in der Geschichte Serbiens, die die Mobilisierungen vom 5. Oktober 2000 übertraf, die den ehemaligen Präsidenten Slobodan Milošević zu Fall brachten. Die von den kämpfenden Studierenden, die immer noch 80 Universitäten im ganzen Land seit November besetzt halten, organisierte Demonstration war als Machtdemonstration gedacht, die alle Teile der Bevölkerung vereint, die auf das Regime von Präsident Vučić wütend sind. So reisten Studierende, aber auch Landwirt:innen oder Beschäftigte im Gesundheits- und Energiesektor mit dem Zug, dem Auto, aber auch zu Fuß oder mit dem Fahrrad nach Belgrad.

Eine historische Demonstration in einem angespannten Klima

Die Bewegung, die bereits einen ersten Sieg mit dem Rücktritt von Premierminister Miloš Vučević im vergangenen Februar errungen hatte, hat sich nicht damit begnügt und will dem autoritären und korrupten System von Präsident Vučić ein Ende setzen. Seit dem 6. März befindet sich ein Lager in der Nähe des Präsidentenpalastes. Pro-Vučić-„Studierende“, die sich gegen die Bewegung mobilisiert haben, haben beschlossen, im Pionirski Park (Pionierpark) zu campen und fordern die Behörden auf, die Mobilisierung zu unterdrücken, damit sie „wieder studieren“ können. Laut Nemanja Šarović handelt es sich jedoch nicht um echte Studierende, sondern Agent:innen des Regimes, die nur anwesend sind, um die Demonstrierenden zu provozieren: „Die meisten Zelte sind leer, es sind keine Studenten, sondern Schlägertypen des Regimes von Aleksandar Vučić, die Unruhen provozieren wollen“.

In einer Ansprache am Vorabend der Demonstration vom 15. März kündigte Aleksandar Vučić den Einsatz eines großen Polizeiaufgebots an und nutzte die Gelegenheit, um die von den Studierenden initiierte Bewegung erneut zu verachten, indem er erklärte: „Ich akzeptiere keine antidemokratischen Methoden, ich akzeptiere keine Plenarsitzungen, Versammlungen und all das.“ Für den serbischen Präsidenten ist diese Bewegung eine „Farbrevolution“, die von ausländischen Mächten angeführt wird, um ihn aus dem Amt zu drängen. Um dieser sogenannten „Farbrevolution“ entgegenzuwirken, reiste der stellvertretende Premierminister Aleksandar Vulin nach Moskau, um sich mit Sergej Schoigu, dem Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, zu treffen und den Kreml um Rat und Unterstützung zu bitten. Die serbische Regierung ist derzeit durch die Mobilisierung sehr geschwächt und sucht daher die Unterstützung Russlands, zu dem Serbien freundschaftliche Beziehungen unterhält, das aber im Gegensatz zu China und der Europäischen Union kein wirkliches wirtschaftliches Gewicht hat (mit Ausnahme der Gasversorgung).

Die Demonstration am 15. März verlief angesichts des übertriebenen Polizeiaufgebots nicht ohne Zwischenfälle. Gegen Ende der Demonstration setzten die Polizist:innen gegen die Menschenmenge eine Schallkanone ein, die bis zu 160 Dezibel erzeugen kann. Der Einsatz dieser Waffe ist umso empörender, als sie während der 15 Minuten der Stille eingesetzt wurde, die die Demonstration einhielt, um der 15 Opfer der Tragödie am Bahnhof von Novi Sad zu gedenken. Diese im Land verbotene Waffe führte bei Demonstrant:innen zu Hörverlusten und Migräne. Mehrere mussten in die Notaufnahme gebracht werden.

Die Videos der durch den ohrenbetäubenden Lärm ausgelösten Panik wurden in den Medien und in den sozialen Netzwerken weit verbreitet. Vučić musste sich zu den Bildern der Unterdrückung äußern und bestritt den Einsatz einer Schallkanone durch die Sicherheitskräfte mit der Begründung, man „könne sie weder sehen noch hören“. Eine schamlose Lüge des serbischen Präsidenten, der versucht, die Gewalt der Unterdrückung herunterzuspielen und die Schuld auf die Demonstrant:innen abzuwälzen. Insbesondere in dieser Zeit der politischen Krise könnte der Einsatz dieser für die Opfer traumatisierenden Waffe von seinen dringend benötigten internationalen Unterstützern negativ gesehen werden

Zu den Unterstützern von Vučić gehört die Europäische Union, die Serbien aufgrund seiner Lithium- Reserven und für den Kauf von Waffen als strategischen Verbündeten betrachtet, sich jedoch durch die aktuelle Bewegung, die ihre eigenen Interessen in Serbien bedroht, in Verlegenheit gebracht sieht. Während das Europäische Parlament eine Resolution zur Unterstützung der Mobilisierung verabschiedet hat, bleibt die Europäische Kommission „vorsichtig“, da sich Vučić trotz der autoritären Ausrichtung des serbischen Regimes immer als zuverlässiger Partner der EU erwiesen hat. Selbst wenn die europäischen Imperialisten beschließen würden, die liberale Opposition zu unterstützen und zur Bildung einer Übergangsregierung und zu Neuwahlen aufzurufen, wäre dieses Unterfangen riskant, da nicht garantiert ist, dass die neue Regierung die EU-Projekte in Serbien wie die Lithiummine in der Region Jadar oder andere Finanzprojekte schützen wird.

Welche Perspektiven hat die Bewegung?

Die Demonstration versetzte der Regierung durch ihre Größe, die Vielfalt der an der Mobilisierung beteiligten Sektoren und ihre Fähigkeit, über die Städte hinaus auch die ländlichen Bevölkerungsschichten zu mobilisieren, einen echten Schlag. Darüber hinaus hatte sie ein weltweites Echo: Die Bilder der Unterdrückung gingen um die Welt, während die Bewegung von den bürgerlichen Medien bewusst unsichtbar gemacht wurde, die befürchten, dass die serbischen Studierenden die Jugend anderer europäischer Länder inspirieren könnten.

Angesichts dieses ständigen und unnachgiebigen Drucks sind die Tage von Vučić als Präsident gezählt, auch wenn er sich mit Leib und Seele an seinen Posten krallt. Sein Abgang von der Präsidentschaft könnte eine Zeit politischer Unsicherheit innerhalb der Bewegung einleiten, da Oppositionsparteien wie die Demokratische Partei Serbiens oder andere Oppositionsparteien die Bewegung opportunistisch über die Wahlurne kanalisieren könnten. So nahm beispielsweise der ehemalige Präsident Boris Tadić an der Demonstration am vergangenen Samstag teil und kündigte auf seinem X-Account an, dass er die UN-Instanzen wegen des Einsatzes von Schallwaffen zur Unterdrückung der Demonstration anrufen werde. In der serbischen Nationalversammlung haben die liberalen Oppositionsabgeordneten ebenfalls ihre Unterstützung für die Mobilisierung zum Ausdruck gebracht, indem sie während einer Parlamentssitzung Transparente entrollten und Rauchbomben warfen. Es ist jedoch schwierig, das tatsächliche Gewicht der liberalen Oppositionsparteien in der Bewegung zu analysieren, auch wenn die Abgeordneten und Führungskräfte ihrer Parteien immer mehr Aktionen zur Unterstützung der Studierenden durchführen. Die aktuelle Bewegung basiert auf einem anerkannten Prinzip der Selbstorganisation und der „direkten Demokratie“, und es sind nur wenige öffentliche Persönlichkeiten der Bewegung aufgetreten, um die politische Vereinnahmung zu begrenzen.

Im Zuge ihrer Ausweitung wurde die Bewegung auch von Sektoren unterstützt, die traditionell die Wähler:innenbasis der Partei des Präsidenten bilden. Die Veteranen der 63. Fallschirmbrigade der serbischen Armee haben beispielsweise mehrmals an den Demonstrationen teilgenommen. Diese Einheit der serbischen Armee wurde während der Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren eingesetzt, und es ist nicht sicher, dass ihre Veteranen fortschrittlichste Forderungen vertreten. In den Demonstrationen sieht man auch immer mehr Verweise auf den serbischen Nationalroman wie den ersten serbischen Aufstand von 1804 gegen das Osmanische Reich oder religiöse Bezüge mit orthodoxen Ikonen, die die Demonstranten tragen.

Die Kosovo-Frage taucht auch in den Demonstrationen wieder auf, und es sind einige Fahnen mit der Karte des Kosovo und der serbischen Flagge im Hintergrund zu sehen, die den Kosovo als serbische Region beanspruchen. So versuchen einige reaktionäre Strömungen, Einfluss in einer Bewegung zu gewinnen, die jedoch durch ihre außergewöhnliche Fähigkeit zur Selbstorganisation auffällt und gegen alle neoliberalen Politiken und gegen die strukturellen Probleme des Regimes kämpft. Aber gerade weil die Bewegung keine klaren Antworten und Forderungen im Kern hat, versuchen bürgerliche und reaktionäre Strömungen, die Bewegung zu kooptieren und zu Neuwahlen und zur Einsetzung einer Übergangsregierung aufzurufen.

Indem die Bewegung neben politischen Forderungen, die stärker auf Strukturen ausgerichtet sind, auch weiter gefasste Forderungen nach Lohnerhöhungen, der Verteidigung öffentlicher Dienstleistungen und der Verbesserung der Lebensbedingungen stellt, kann sie sich an die Teile der Arbeiter:innenklasse wenden, die am stärksten von der neoliberalen Politik der serbischen Regierung betroffen sind, und dank der Traditionen und Methoden der Arbeiterklasse wird die Bewegung schließlich siegreich sein. In den letzten Tagen haben die Studierenden beschlossen, ihr Konzept des „Plenums“ (Generalversammlung) auf alle Städte auszuweiten, indem sie „Zbor“ gründeten, Bürger:innenräte, die die direkte Demokratie auf breiterer Basis in die Praxis umsetzen, eine sehr fortschrittliche Resolution, die es ermöglicht, zu einer noch weiter fortgeschrittenen Stufe der Selbstorganisation überzugehen, weit über die Universität hinaus, auf der Ebene eines Stadtviertels oder einer ganzen Stadt.

Mehr zum Thema