Seminar für klassenkämpferische Gewerkschaften
// Am 10. Januar versammelten sich über 40 Menschen in Berlin für ein Seminar der Revolutionären Internationalistischen Organisation //
„Wenn man Deutschland von außen betrachtet, mit einem wachsenden Niedriglohnsektor und ausufernden Befristungen, dann denkt man sich: ‚Dieses Land bräuchte Gewerkschaften.‘ Nicht ohne Erstaunen stellt man fest, dass dieses Land bereits Gewerkschaften hat – ziemlich große sogar.“ Mit dieser Bemerkung begann das Seminar für klassenkämpferische Gewerkschaften am 10. Januar im Haus der Demokratie in Berlin. RIO, die Revolutionäre Internationalistische Organisation, hatte VertreterInnen der wichtigsten Arbeitskämpfe der letzten Jahre in Deutschland eingeladen, um zu diskutieren und gemeinsame Lehren zu suchen.
Anwesend waren ArbeiterInnen von Amazon (aus Bad Hersfeld und Brieselang), den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG), der Deutschen Bahn (DB), der Charité Facility Management (CFM), Siemens und anderen Betrieben. Sie waren in vielen verschiedenen Gewerkschaften organisiert: vor allem ver.di, aber auch in der GDL, der EVG, der IG Metall, der IG BCE und der GEW. Dazu kamen viele Studierende und SchülerInnen, die praktische Solidarität für die Streiks bei Amazon und im Einzelhandel organisiert haben. Während des Seminars wurde simultan ins Türkische und ins Spanische übersetzt, denn die ArbeiterInnenklasse in Deutschland ist multinational. Außerdem wurde durchgehend Kinderbetreuung angeboten.
Austausch unter KollegInnen
Zum Auftakt des Seminars ging es um Erfahrungen mit Streiks der letzten Jahre. Was können kämpferische ArbeiterInnen tun, wenn die eigene Gewerkschaft bremst? Das emblematische Beispiel hierfür ist der neunmonatige Streik beim Hamburger Verpackungshersteller Neupack, der von der IG-BCE-Führung regelrecht sabotiert wurde. Die Gewerkschaftsbürokratie wollte unbedingt „Sozialpartnerschaft“, obwohl das gewerkschaftsfeindliche Familienunternehmen nicht verhandeln wollte. Auch der dreizehnwöchige Streik bei der CFM am Berliner Universitätsklinikum wurde in eine Sackgasse ohne Ergebnisse geführt.
Aus anderen Betrieben und Gewerkschaften gibt es ähnliche Geschichten. Bei der BVG arbeitet die ver.di-Bürokratie mit der Geschäftsführung eng zusammen und KritikerInnen an der Basis werden schikaniert. „Es wird sogar gedroht, uns aus der Gewerkschaft rauszuwerfen!“, so ein Busfahrer. Nur durch die Bildung von kritischen Basisgruppen könne die Einzelpersonen vor solchen Angriffen schützen.
Selbst bei Amazon, wo ver.di so kämpferisch auftritt wie nie zuvor, finden aktive Gewerkschaftsmitglieder unzählige Beispiele für die Trägheit des Apparats. „Du klopfst bei der Zentrale an und sagst, ‚wir wollen kämpfen‘, aber oft haben die FunktionärInnen erst mal keine Zeit,“ so ein Kollege. Als Fazit des Austausches mahnte ein Arbeiter: „Gerade während Streiks müssen wir unsere Gewerkschaft öfter kritisieren.“
In den letzten Jahren gab es nicht nur mehr kleine aber harte Arbeitskämpfe in Deutschland, sondern auch mehr Solidarität. Emblematisch ist hier wiederum Neupack, wo ein breiter und aktiver Solikreis der Belegschaft half, trotz der Sabotage der Gewerkschaftsbürokratie einen der längsten Arbeitskämpfe in der BRD durchzuhalten. Jetzt entstehen Solidaritätsstrukturen für den Amazon-Streik in ganz Deutschland. Hier können solidarische Studierende nicht nur praktische Hilfe leisten, sondern den Kampf auch politisieren und radikalisieren.
Politische Diskussionen
In einem zweiten Workshop ging es um die politischen Rahmenbedingungen für die ArbeiterInnenklasse in Deutschland. Hartz IV, vor genau zehn Jahren eingeführt, macht das „Modell Amazon“ erst möglich. Gesetze, die unter Rot-Grün eingeführt wurden, erlauben Befristungen, die einen riesigen Druck auf die ArbeiterInnenschaffen. Teilzeit und Leiharbeit breitet sich immer mehr aus, nicht nur im Dienstleistungssektor sondern auch in der Metallindustrie. Und nicht nur die Politik arbeitet für die Verschärfung der Ausbeutung: Ein Arbeiter beim Seminar erzählte von der „Klassenjustiz“, die radikale Kampfformen zu unterbinden versucht.
ArbeiterInnen in Deutschland brauchen deswegen eine politische Alternative, um gegen neue rassistische Bewegungen wie PEGIDA zu kämpfen. Ein eigenes Programm gegen Prekarisierung ist nötig, um die Demagogie der Rechten entgegenzutreten. Dazu muss sich die Kultur der Solidarität stärken – so war es schön zu erleben, wie VerkehrsarbeiterInnen aus der GDL, der EVG und ver.di, die offiziell miteinander verfeindet sein sollen, als KollegInnen zusammenarbeiteten. Genauso wird es bei den anstehenden Streiks der ErzieherInnen nötig sein, dass andere Sektoren in Solidarität streiken – das ist unerlässlich für KollegInnen mit Kindern, die sowieso an Streiktagen in den KiTas nicht arbeiten können!
Zur Abwechslung gab es auch einen Vortrag und eine Fotoausstellung über die Druckerei Donnelley in Buenos Aires in Argentinien. Als das Unternehmen mit Schließung drohte, hat die Belegschaft die Fabrik besetzt und produziert nun unter ArbeiterInnenkontrolle – sie brauchen keine Profite, sondern drucken kostenlose Schulbücher für die Kinder in der Community. Das ist nur möglich, weil sich die ArbeiterInnen über Jahre als Teil der klassenkämpferischen Gewerkschaftsbewegung organisiert haben. Das bedeutet, dass alle Entscheidungen der Gewerkschaft in Versammlungen getroffen werden, und FunktionärInnen werden direkt gewählt, verdienen nur einen ArbeiterInnenlohn und können jederzeit abgewählt werden. Ein gutes Beispiel für ArbeiterInnen weltweit!
Als letzten Workshop gab es eine Diskussion über Frauen in Arbeitskämpfen. Bei vielen Streiks sind Frauen unterrepräsentiert – aber nicht etwa, weil sie per Natur weniger kämpferisch seien, sondern weil sie besonders unterdrückt werden. Eine Aktivistin von RIO erzählte, wie Frauen in der erste Reihe stehen können. Dafür kann es hilfreich sein, eigene Frauenkommissionen zu gründen, um besondere Forderungen weiblicher ArbeiterInnen zu entwickeln, zum Beispiel gegen sexuelle Belästigungen im Unternehmen. Genauso kann es hilfreich sein, bei Streiks eine eigene Kinderbetreuung zu organisieren.
Podiumsdiskussion und Demonstration
Zum Abschluss des Seminars gab es eine Podiumsdiskussion über die wichtigsten Arbeitskämpfe in letzter Zeit. Ein rumänischer Bauarbeiter, der beim Mall of Berlin arbeitete und nicht bezahlt wurde, erzählte von ihrem Kampf für ihre grundlegenden Rechte: „Wenn niemand protestiert, werden sie einfach weitermachen.“ Ein Lokführer bei der Deutschen Bahn berichtete, dass auch in der kämpferisch wirkenden GDL die Basis sich selbst organisieren muss. Ein Kollege von Amazon in Bad Hersfeld sprach über den Arbeitskampf, der seit fast zwei Jahren läuft, und die wachsende Entschlossenheit der Beschäftigten.
Am Podium wurde auch festgehalten, dass kämpferische ArbeiterInnen in Deutschland eine klassenkämpferische Basisbewegung in den Gewerkschaften aufbauen müssen, um ihre Erfahrungen permanent auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen. Eine solche Bewegung muss fragen: „Wem gehören die Gewerkschaften? Und wem gehören die Produktionsmittel?“, so die Worte eines Redakteurs der RIO-Zeitschrift „Klasse Gegen Klasse“. Dazu müssen Basisgruppen in den Betrieben aufgebaut und vernetzt werden. Die SeminarteilnehmerInnen einigten sich, den Kampf der Amazon-ArbeiterInnen in Brieselang gegen Befristungen zu unterstützen. Außerdem begann eine Diskussion über das eigene politische Instrument der ArbeiterInnenklasse, das heißt eine revolutionäre Partei.
Am nächsten Morgen fand die traditionelle Gedenkdemo für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg statt. Die beiden GründerInnen der Kommunistischen Partei Deutschlands wurden 96 Jahre zuvor ermordet. RIO bildete zusammen mit der Jugendgruppe Red Brain und der Hochschulgruppierung Waffen der Kritik einen Block für klassenkämpferische Gewerkschaften. Ein Block der Amazon-ArbeiterInnen lief direkt daneben und es wurde auch breit zur Unterstützung der Streiks bei Amazon eingeladen. Denn Liebknecht und Luxemburg zu gedenken bedeutet in erster Linie, ihren Kampf für die Selbstbefreiung der ArbeiterInnen fortzusetzen. Insgesamt war dieses „Luxemburg-Liebknecht-Lenin-Wochenende“ ein kleiner aber bedeutender Meilenstein im Aufbau von RIO als revolutionäre Organisation, die erste Schritte dahin macht, einen Platz in der ArbeiterInnenbewegung zu erkämpfen.