Seehofer-Aufstand: Symptom des endenden Merkelismus
Seehofer rettet sich gerade noch vor seinem Rücktritt. Sein Aufstand endet mit einer Einigung. Aber die Krise der GroKo vertieft sich.
Am Sonntagabend schien es so, als geschehe in Berlin und München Historisches. Vom Rücktritt des Innenministers Horst Seehofer wurde da berichtet. Die Zukunft der Bundesregierung und die Gemeinschaft von CDU und CSU waren ungewiss. Zu einem Bruch soll es nun (vorerst) doch nicht kommen. Nach stundenlangen Krisengesprächen verkündete am Montagabend die CSU eine Einigung. Teil des Kompromisses ist die Einrichtung von Transitzentren an der deutsch-österreichischen Grenze. Von dort sollen ankommende Geflüchtete gleich wieder in diejenigen EU-Staaten abgeschoben werden, die für das Asylverfahren zuständig sind. Dafür sollen Regelungen mit den entsprechenden Staaten ausgehandelt werden.
Tatsächlich ist es eine Einigung, die die Anliegen sowohl von Merkel als auch von Seehofer berücksichtigt: Die Bundeskanzlerin kann die Verhandlungen auf europäischer Ebene weiterführen. Der Innenminister hat gesichtswahrend mit seiner Rücktrittsdrohung eine Lösung erzwungen, bei der de facto Geflüchtete an der Grenze (zumindest zu Österreich) abgewiesen werden. Nachdem es am Tag zuvor noch so schien, als habe Seehofer sich in eine unumkehrbare Sackgasse manövriert, verkündete er nun triumphierend in die Kamera: „Es hat sich wieder einmal gezeigt, es lohnt sich, für eine Überzeugung zu kämpfen“.
Rassismus auf beiden Seiten
In der Auseinandersetzung zwischen Merkel und Seehofer geht es nicht um migrations-„freundliche“ oder „feindliche“ Politik. Im Gegenteil ist der Plan, den die Bundeskanzlerin beim EU-Gipfel Ende vergangener Woche verhandelt hat, ebenfalls zutiefst rassistisch. Unter andrem werden“Kontrollzentren“ in verschiedenen europäischen Ländern geschaffen, in die Geflüchtete eingepfercht und ihre Asylverfahren schnellstmöglich abgefertigt werden sollen, damit sie dann abgeschoben werden können – und zwar in geschlossene Abschiebelager in nordafrikanischen Ländern, die „Ausschiffungsplattformen“ heißen sollen. Der Gipfel-Abschluss ermöglicht auch die Aushandlung bi- und multilateraler Abkommen zur Grenzsicherung, wodurch die Inhaftierung, Internierung und Abschiebung von Geflüchteten zwischen verschiedenen Ländern einfacher ausgehandelt werden kann. Zugleich werden die EU-Mittel für die „Bekämpfung illegaler Migration“ erhöht.
Seehofer hätte mit diesen Ergebnissen gut leben können, deuten sie doch auf noch mehr und mehr Abschottung hin. Doch er wollte noch mehr – und fast wäre er damit gescheitert. Mit seinem Vabanquespiel ist Seehofer gerade noch durchgekommen. Ob es ihm dauerhaft nützt, ist fraglich. Denn er hat nicht nur medial eine schlechte Figur abgegeben. Es sind auch beide Unionsparteien angezählt. Der Kompromiss stellt nur eine vorübergehende Einigung dar, kann aber die strategischen Fragen der deutschen Europapolitik nicht lösen.
Der Streit geht um die zukünftige Ausrichtung der EU
Der Konflikt ist für Merkel deshalb so entscheidend, weil er die zukünftige Ausrichtung der Europäischen Union mit dem deutschen Führungsanspruch in Frage stellt. Seehofers „Masterplan Migration“ gibt Ländern wie Italien, Griechenland, dem Spanischen Staat, Ungarn oder Österreich die Möglichkeit der nationalen Alleingänge. Durch die kapitalistische Krise wurden sie in der EU der deutschen Dominanz unterworfen. Eine besondere Rolle kommt Frankreich zu. Präsident Emmanuel Macron versucht, die EU in einem französischen Sinne zu stärken, indem er Merkel zu Zugeständnissen etwa in der Finanzpolitik drängt.
Die Forderung einer Politik des „nationalen Alleinganges“ ist keine feindliche Haltung der CSU gegenüber der EU. Es ist eine andere Ausrichtung, die die deutsche Position innerhalb der EU auf anderen Wegen stärken will. Seehofer sucht seine Verbündeten nicht in den Brüsseler Gremien, sondern in bilateralen Gesprächen mit Staatschefs wie von Österreich, Italien oder Ungarn. Die Einigung auf Abschottung Europas ist ein Erfolg von Seehofer. Hinter dieser Abschottungspolitik sehen wir aber auch den Erfolg von Österreich, Italien und Frankreich.
Deshalb ist die riskante Eskalation von Seehofer nicht nur ein innenpolitisches Problem, das sich aus dem Druck der AfD von rechts erklären ließe. Auf europäischer Ebene beginnt sich das Machtzentrum immer weiter nach rechts zu bewegen und die deutsche Hegemonie in Europa immer mehr in Frage zu stellen. So ist die Krise zwischen Seehofer und Merkel genauso tief wie die Krise der Europäischen Union. Denn Merkel als Vertreterin der deutschen imperialistischen Bourgeoisie hat in der Periode der Weltwirtschaftskrise zunächst sehr gute Leistung für das Kapital erbracht, als sie mit dem Kurs der Spardiktate die gesamte EU unter die deutsche Führung gebracht hat. Aber die Krise der EU und der Druck der USA mit Donald Trump erlauben es der deutschen Bourgeoisie nicht, dauerhaft ihren Einfluss auf die EU zu beschränken.
Daher führen Merkels Pläne bereits über Europa hinaus. In ihren Aussagen über den Konflikt mit Seehofer hat sie immer wieder die Notwendigkeit der Investitionen in Nordafrika hervorgehoben. Mit der Geflüchtetenkrise sieht das deutsche Kapital mit Krediten und Direktinvestitionen die Möglichkeit, seine Einflusszone auszuweiten. Die Abschottungsabkommen mit den afrikanischen Ländern wie Sudan und Libyen dienen als Vorbereitung zur verstärkten Ausbeutung der Region.
Perspektiven für die Innenpolitik
Die Infragestellung der deutschen Position innerhalb der EU wird neue Konflikte in die deutsche poltische Landschaft tragen. Die strukturelle Stabilität des deutschen Kapitals und der Innenpolitik hat Merkel bisher geholfen, ihre Koalitionspartner als unterwürfige Juniorpartner zu behandeln. Doch jetzt kann sie nicht mal die CSU unter Kontrolle halten und ist auf Kompromisse angewiesen. Mit der jetzigen Einigung ist Merkel zwar erleichtert, aber jede weitere Initiative von ihr wird von solchen Krisen geprägt sein.
Seehofer hat hohes Risiko gespielt. Dass es soweit kam, zeigt die Tiefe der Regierungskrise. Aber eine volle Eskalation, nämlich die selbstständige Abweisung von Geflüchteten gegen die Zustimmung der Kanzlerin, hat er doch nicht gewagt – dann lieber noch seinen Rücktritt angedeutet. Denn eine Spaltung der Union von Seiten der CSU wäre auch ihr eigenes Grab. Noch ist es nicht so weit, dass in einer historischen Entscheidungsschlacht die Kanzlerin gestürzt wird. Denn ihre Politik ist für die deutsche Bourgeoisie weiterhin alternativlos. Aber Seehofers Aufstand zeigt die Krisenanfälligkeit der Regierung, die die Endphase des Merkelismus begleiten wird.