Schulstart in Berlin: Wie bei Hempels unter’m Sofa
Der Lehrkräftemangel verursacht Chaos an Berliner Schulen. Zeitgleich werden Schüler:innen durch Erlaubnispflicht der Erziehungsberechtigten von effektiven Coronatests abgehalten.
„Zum Schulstart in Berlin fehlen tausende ausgebildete Lehrkräfte“ schreibt die GEW Berlin letzte Woche. Das Problem ist bekannt, verschärft sich allerdings zunehmend. Denn noch nie gab es in der Hauptstadt so viele Schüler:innen wie jetzt: Es sind 383.290 – mehr als ein Zehntel der Einwohner:innen.
Nun hat die Schule am vergangenen Montag wieder angefangen und wie immer geht alles drunter und drüber. Lehrer:innen und insbesondere Schüler:innen sind das Chaos schon gewohnt: Neue Gesichter im Kollegium bzw. vor den eigenen Klassen, weil mehrere Lehrkräfte wegen Burnout ausgestiegen sind.
Ein Großteil der Neuen springt ins kalte Wasser, weil die Qualifizierung für den Beruf nicht gefördert wird. So hat nur in etwa ein Drittel der zu Schuljahresbeginn Eingestellten ein Lehramtsstudium bereits hinter sich. Das heißt: In Berlin haben derweil Studierende und Quereinsteiger:innen, die das Nachholen eines (berufsbegleitenden) Lehramtsstudiums gerade erst beginnen die Klassenleitungen inne. Doch obwohl sogar Hunderte Lehrkräfte aus dem Ruhestand rekrutiert wurden, sind nach den Sommerferien 875 Vollzeitstellen unbesetzt geblieben.
RRG: Eine Milliarde Euro weniger in Schulbau
Die Arbeit der Lehrer:innen, deren Jobs noch ausgeschrieben sind, bleibt aber nicht einfach liegen. Stattdessen fällt sie auf die ohnehin schon überarbeiteten Kolleg:innen zurück. Denn die Schüler:innen sind jeden Tag aufs Neue da. Theoretisch haben sie ein Recht darauf, zu lernen.
Aber gegen den Personalmangel wird seitens der Politik einfach nichts getan. Alle drei Parteien im rot-rot-grünen Senat hatten zwar damit Wahlkampf gemacht, dem Lehrkräftemangel entgegenwirken zu wollen, doch rühren alle drei bis jetzt keinen Finger. Im Gegenteil: Im Rahmen der Haushaltsverhandlungen wurde im Mai sogar beschlossen, sieben Millionen Euro in der Lehrer:innenbildung zu sparen.
Auf SPD, Grüne und Linke ist wieder einmal kein Verlass. Wer die Situation rettet, sind die Beschäftigten selbst. „Ohne den engagierten Einsatz der Kolleg*innen in den Schulen würde der ganze Laden zusammenbrechen“, erkennt auch Tom Erdmann von der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) Berlin.
Als wäre das noch nicht genügend Grund zur Sorge, kommt hinzu, dass viele Schulgebäude komplett heruntergekommen sind. Die vermeintlich linke Regierung hatte im Juli eine Milliarde Euro gekürzt, die für den Schulbau vorgesehen waren, nachdem sie auch die letzten Jahre schon damit verbracht hatte, beim Bau von neuen sowie bei der Sanierung bestehender Schulen zu sparen.
Leiden werden darunter die Schüler:innen. Denn die Isolierung der Altbauten lässt zu wünschen übrig. Im Hinblick auf die sich verschärfende Gas- und Energiekrise diesen kommenden Herbst und Winter soll in den Klassenzimmern nur noch bis 20 Grad geheizt werden.
Aus demselben Grund dürfen auch die vorhandenen Luftfilter momentan nicht genutzt werden. Es ist ungewiss, was uns erwartet, wenn die Inzidenzen wieder hochgehen.
Denn neben dem Wegfall der allgemeinen Maskenpflicht, war „dreimal die Woche verpflichtend testen“ schon vor den Sommerferien zu „freiwillige Testung an bis zu zwei Wochentagen“ mutiert. Jetzt wird zusätzlich auch noch die schriftliche Zustimmung eines Erziehungsberichten vorausgesetzt. Ohne diese darf kein Kind getestet werden – auch nicht, wenn es das selbst will.
Nichtsdestotrotz hatte Schulsenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) bei einer Pressekonferenz vorletzte Woche verkündet: „Das Schuljahr beginnt gut vorbereitet“. Das entspricht nicht der Realität. Denn während pro Jahr nur etwa 900 Berliner:innen ihr Lehramtsstudium abschließen –werden circa 3.000 Lehrkräfte gebraucht.
Nehmen wir mal an, die zu vergebenden Plätze für ein Lehramtsstudium würden schon zum kommenden Sommersemester, dem ersten nach der Neuverhandlung der Hochschulverträge im Herbst – wegen der aktuellen Abbruchsquote von 25 Prozent – auf 4.000 erhöht. Es würde trotzdem noch Jahre dauern, bis deutlich mehr Qualifizierte in den Beruf einsteigen. In der Zwischenzeit würden aber Etliche in Rente gehen – die komplette Babyboomer-Generation kommt ja gerade in das Alter.
Es fehlt ganz konkret im Hier und Jetzt an Lehrer:innen. Sonderpädagog:innen, Erzieher:innen und Sozialarbeiter:innen werden als Spanisch- und Englischlehrkräfte eingesetzt und können ihrer eigentlichen Arbeit dementsprechend nicht nachgehen. 1.000 ukrainische Kinder und Jugendliche warten noch immer auf einen Schulplatz. Unterrichtsstunden fallen de facto seit Jahren am laufenden Band aus, Arbeitsgruppen sowieso. Niemand kann allein mehrere komplett überfüllte Klassen unterrichten, in denen zudem etliche Kinder mit diagnostiziertem und eine unbekannte Dunkelziffern an Kindern mit Förderstatus sind, die oft wegen des ebenso gravierenden Schulpsycholog:innenmangels nicht-diagnostiziert werden können.
Busse behauptet auch, das Bildungssystem in der Hauptstadt sei „grundsätzlich auf einem guten Weg“ und verweist darauf, im Mai noch davon ausgegangen zu sein, vor 920 unbesetzten Vollzeitstellen zu stehen. Jetzt sind es wie gesagt 865, also 45 Stellen weniger als angenommen. Kein Grund zum feiern.
Was können wir also tun? Derzeit plant die größte Lehrergewerkschaft Polens, die ZNP, einen Streik, welcher das Potenzial besitzt sich zu einem landesweiten Generalstreik auszubreiten. Die Gewerkschaft fordert unter anderem mehr Investionen von staatlicher Seite in den Sektoren Bildung und Erziehung. Diese Forderung soll dem Lehrkräftemangel entgegenwirken.
Daran sollte sich die GEW ein Beispiel nehmen, die ja bereits im April und im Juni einen Warnstreik für kleinere Klassen abhielt. Die Lehrer:innenstreiks in Berlin müssen weitergehen, damit die Situation zugunsten der Bedürfnissen der Lehrkräfte und Schüler:innen verändert werden kann. Kleinere Klassen, mehr Schulsozialarbeiter:innen und -psycholog:innen sind einige Maßnahmen, die von Kolleg:innen gefordert werden um die Belastung zu verringern.
Es gilt diesen Kampf fortzusetzen und zu intensivieren, um den Lehrkräften und Schüler:innen eine Perspektive zu geben. Denn bessere Arbeitsbedingungen sind das effektivste Mittel gegen den wachsenden Lehrermangel.