Schüler von ’68: The Times They Are A-Changing
Michael Prütz war 14, als die globale Protestwelle Westberlin erreichte. Schnell fand er seinen Weg in die Reihen der trotzkistischen Bewegung, wo er 50 Jahre später immer noch aktiv ist. Zum Jubiläum von 1968 wird Prütz in einer zweiwöchentlichen Kolumne seine Erinnerungen aus dem Jahr veröffentlichen, das nicht nur sein Leben veränderte.
1967 war ich 14 Jahre alt – zu jung, um zu verstehen, was sich in der Gesellschaft für Prozesse abspielten, aber alt genug, um zu begreifen, dass sich etwas tat. Ich besuchte das evangelische Gymnasium zum Grauen Kloster, in dem die christlich-fundamentalistische Führungsriege noch 1967 Schüler von der Schule warf, weil sie lange Haare hatten.
Mein Vater war ungelernt und hatte sich im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs eine Führungsposition in einem kleinen Berliner Baubetrieb erarbeitet. Meine Mutter arbeitete in einer der unzähligen kleinen Schneidereien, die in Berlin damals als Zulieferer für die deutsche Modeproduktion fungierten. Obwohl meine Mutter die neuesten Kreationen für den Neckermann-Katalog schneiderte, steckte sie mich tagaus, tagein in kurze Hosen und Sandalen mit fleischfarbenen Socken.
West-Berlin war zum damaligen Zeitpunkt Frontstadt in der Auseinandersetzung mit der DDR und dem gesamten Ostblock und besaß eine große industrielle Arbeiter*innenklasse sowie viele Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Alle, die 1961 nach dem Mauerbau geblieben waren, hatten steuerliche Vorteile; der gesamte Altbaubestand in West-Berlin unterlag der Mietpreisbindung. Es gab faktisch keine Arbeitslosigkeit und auf den Sozialämtern drehten die Beamt*innen Däumchen.
Politisch war fast die gesamte Bevölkerung streng antikommunistisch eingestellt, wählte mehrheitlich die SPD und hasste alles, was aus dem Osten kam. Die Sozialistische Einheitspartei West-Berlin (SED-W) – aufgrund des Vier-Mächte-Status eine legale Partei in West-Berlin – war politisch völlig isoliert. Wenn sie in den Fabriken und Dienststellen auftrat, gab es körperliche Auseinandersetzungen.
1966 und auch 1967 gab es die ersten studentischen Proteste. Den Kern bildete der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), der Anfang der 60er Jahre aus der SPD ausgeschlossen worden war. Es fanden verschiedene kleinere Protestaktionen gegen den Krieg in Vietnam statt und am 2. Juni 1967 gab es eine größere Demonstration gegen den Besuch des iranischen Diktators Reza Pahlewi. Bei den schweren Auseinandersetzungen während dieser Demonstration wurde der Student Benno Ohnesorg vom Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen. (Dass Kurras neben seiner Tätigkeit als Polizist auch für die Staatssicherheit der DDR arbeitete, wurde erst Jahrzehnte später bekannt.)
Die Gewalt während der Proteste und die Ermordung Ohnesorgs waren ein großer emotionaler Schock. In der Folge überzog die gesamte Westberliner Presse die Studierenden mit zügelloser Hetze. Die Springer-Presse verglich den SDS und die Protestierenden mit SA-Schlägerbanden. Liberal eingestellte Zeitungen wie der Tagesspiegel und Der Abend waren zwar, wie die sozialdemokratische Nachtdepesche und der Telegraf, moderater im Ton, bliesen aber inhaltlich ins gleiche Horn.
Die Student*innen selbst waren kulturell noch in der bürgerlichen Nachkriegsgesellschaft verankert: Die jungen Herren kamen in Schlips und Kragen daher, die Damen im Kostüm. In der Mensa und im Hörsaal wurde sich selbstverständlich gesiezt. Diese Student*innen versuchten anlässlich der Ermordung von Ohnesorg, eine Gegenöffentlichkeit herzustellen und verteilten jeden Samstag auf dem Kurfürstendamm Flugblätter an die Passant*innen. Das flanierende West-Berliner Publikum war nicht auf den Mund gefallen: „Geht doch rüber in den Osten“ war noch eine der harmloseren Reaktionen – meistens hieß es: „Euch sollte man vergasen!“
Ein paar meiner älteren Mitschüler am christlichen Gymnasium hatten Kontakt zu fortschrittlichen Studierenden und erzählten in den Pausen von den Flugblattaktionen auf dem Ku‘damm. Wir nahmen dann unseren ganzen Mut zusammen und trafen uns am Sonnabendnachmittag zu einer Beschattungsaktion auf dem Kurfürstendamm, um uns ein eigenes Bild von den Dialogen zwischen der Bevölkerung und den Studierenden zu machen. Das Vorgehen der Student*innen und ihre Furchtlosigkeit gegenüber den reaktionären Meinungen in Bevölkerung und Presse hatten für uns eine unglaubliche Anziehungskraft und säten in mir einen politischen Keim, der zu Jahrzehnten politischer Aktivität in der Berliner Linken heranwachsen sollte.
Der Muff, die Spießigkeit und das autoritäre Gehabe in Schule und Gesellschaft hatten mich schon lange angewidert – nach dem 2. Juni 1967 war für mich nichts mehr so wie es vorher gewesen war.
In zwei Wochen berichtet Michael Prütz an dieser Stelle über den Vietnam-Kongress, der Mitte Februar 1968 an der Technischen Universität in Westberlin stattfand.
Lesetipp: 45 Jahre nach dem Vietnam-Kongress