Schüler von ’68: Neue Bewegung an den Schulen
Nach dem 1. Mai 1968 entstanden neue Gruppen an etwa 80 Schulen in West-Berlin. Michael Prütz, damals 15, war in einer solchen Gruppe am Gymnasium zum Grauen Kloster aktiv. Er erinnert sich an die erste Protestaktion gegen den Direktor – die erste direkte Konfrontation mit den Autoritäten.
Nach dem 1. Mai 1968 breitete sich die außerparlamentarische Opposition auf alle Lebensbereiche in West-Berlin aus. Stadtteilgruppen und Betriebsgruppen wurden gegründet, und an den Oberschulen – vor allem an den Gymnasien, aber auch an den Haupt- und Realschulen – bildeten sich sogenannte Schulkollektive. Mitte 1968 existierten bereits etwa 80 solcher Kollektive. Wir diskutierten die großen politischen Themen wie den Vietnam-Krieg ebenso wie die „kleinen“, konkreten Themen unserer schulischen Ausbildung: Schüler*innenmitverwaltung, alternative Lehrinhalte, und die Herausgabe unabhängiger, unzensierter Schüler*innenzeitungen.
An meiner Schule, dem Gymnasium zum Grauen Kloster, hatten sich etwa 30 der insgesamt 400 Schüler*innen fest organisiert. Unsere erste Aktion war gegen die Heuchelei unserer Schulleitung (als Stellvertreter der politischen Machthaber*innen) im Biafra-Krieg gerichtet. Biafra, eine Provinz Nigerias, die sich von der Zentralregierung abgespalten hatte, war durch den Bürger*innenkrieg einer Hungerblockade ausgesetzt, der zwischen 1967 und 1970 mindestens eine Million Menschen zum Opfer fielen. Überall gab es Spendenaufrufe für die „armen schwarzen Kinder“ – ohne jemals zu thematisieren, wie die imperialistischen Großmächte in diesen Krieg involviert waren: Großbritannien unterstützte die nigerianische Zentralregierung, Frankreich unterstützte die Abtrünnigen.
Anfang Mai erhielten unsere Eltern ein Rundschreiben unseres Direktors, in dem er sie mit christlicher Nächstenliebe bat, uns Kindern Spendengelder mitzugeben, die dann in der wöchentlichen Andacht am Mittwochmorgen eingesammelt werden sollten. In der Nacht vor dieser Andacht stiegen ein paar von uns in die Schule ein und pflasterten die Wände im Flur, der zur Aula führte, mit klebenden, triefenden Schmalzstullen. Wir verabredeten außerdem, dass wir, sobald der Direktor das Wort ergreifen und zur Spende aufrufen sollte, geschlossen die Aula verlassen würden. Dies war das erste Mal, dass wir die direkte Konfrontation mit den Autoritäten suchten, und dementsprechend groß war die Aufregung.
Die Andacht begann, der Direktor ergriff das Wort, und mein Freund Helmut stand auf und rief laut: „Halten Sie den Mund, wir gehen jetzt!“ Augenblicklich standen ungefähr 40 der 400 versammelten Schüler*innen auf und marschierten geschlossen aus der Aula.
Im Nachspiel zu dieser Aktion wurden unsere Eltern vorgeladen und von der Schulleitung mit unseren Taten konfrontiert. Meine Eltern hatten zu diesem Zeitpunkt ob meiner politischen Aktionen schon resigniert aufgegeben – Helmuts Eltern hörten sich die Sachlage an, teilten Helmut mit, dass sie nun keinen Sohn mehr hätten, und legten sich aus Protest drei Tage ins Bett.
Ansonsten beschäftigten wir uns in der Schüler*innengruppe mit der Kritik des bestehenden Unterrichts und vor allem mit der Herausgabe einer wöchentlichen Zeitung, die jeden Sonntag von uns im Republikanischen Club abgezogen und zusammengeheftet wurde. Da wir die Zeitung der offiziellen Schulzensur entzogen, mussten wir sie vor dem Schulgebäude verkaufen. 300 verkaufte Zeitungen brachten uns wöchentlich 30 Mark – Geld, das wir für die Finanzierung weiterer Aktionen benutzten, z.B. die Organisation eines Streiks für einen entlassenen Referendar oder den späteren zentralen Berliner Schulstreik.
Der Schulalltag wurde immer repressiver: unangekündigte Klassenarbeiten, Vorladungen ins Direktoriumszimmer, Briefe an die Eltern. Wir hatten allerdings auch einen Verbündeten: den Berliner Bischof der evangelischen Kirche. Bischof Scharf, ein liberaler Geistlicher, lud unser Schülerkollektiv regelmäßig ein, um mit aller Vorsicht zu besprechen, wie wir mit der reaktionären Leitung des Gymnasiums umgehen könnten. Wir verlangten die sofortige Entlassung des Direktors – dem konnte Bischof Scharf zwar nicht entsprechen, er stärkte allerdings die Rechte der Schüler*innenmitverwaltung, und ging auf unsere Unterrichtsvorschläge ein, die dann auch umgesetzt wurden.
Anderthalb Jahre später wurde der Direktor dann doch entlassen. Unsere Treffen mit Bischof Scharf sehe ich im Nachhinein als Paradebeispiel für erfolgreiche Bündnispolitik und den Willen, an einem Strang ziehen zu wollen, auch wenn man vielleicht nicht hundertprozentig einer Meinung ist.
Die Einheit unseres Schulkollektivs, wie aller anderen Schüler*innengruppen auch, hielt exakt bis zum August 1968, als die Staaten des Warschauer Pakt die Tschechoslowakei überfielen. Ein kleiner Teil unserer Gruppe – die, die später in der SED organisiert sein würden – unterstützte dies, der größere Teil lehnte die Invasion ab.
Aufgeschrieben von Mascha Bartsch.
In zwei Wochen berichtet Michael Prütz an dieser Stelle über die große Spaltung.