Schüler von ’68: Drei Kugeln auf Rudi Dutschke
Vor knapp 50 Jahren, am 11. April 1968, gab es ein Attentat auf Rudi Dutschke. Die Springer-Presse hatte monatelang gegen die Galionsfigur der Studierendenbewegung gehetzt. Nach einer Vollversammlung zogen Tausende zum Springer-Hochhaus in Kreuzberg und zündeten Auslieferungsfahrzeuge an. Der Berliner Aktivist Michael Prütz, damals 15, erinnert sich an diese "Osterunruhen".
Im März 1968 hatte sich die politische Lage in West-Berlin ein wenig beruhigt. Zwar diskutierten, organisierten und stritten wir uns in der APO fleißig weiter, größere Aktionen fanden aber nicht statt. Die Springer-Presse, die weiterhin täglich gegen den SDS hetzte, fand weniger Anklang in der Bevölkerung. Auch meine Eltern hatten sich inzwischen, unter Annahme einer vorübergehenden pubertären Phase, mit meiner Teilnahme an politischen Versammlungen abgefunden. Im Gegenzug zu dieser Akzeptanz verlangten sie aber, dass ich mich an ihrem gesellschaftlichen Leben beteiligte.
Am Gründonnerstag 1968, dem 11. April, waren wir bei den Schulzes eingeladen. Die Schulzes waren verheiratet und verbeamtet, hatten zwei reizende Kinder, und waren auch sonst der Prototyp des West-Berliner Spießertums: antikommunistisch bis zur Hysterie, besserwisserisch und geizig. Wir verreisten regelmäßig gemeinsam mit den Schulzes an die Adria – wenn meine Eltern mit meinem Bruder und mir in die Eisdiele gingen, mussten die Kinder der Schulzes auf der Straße warten und sich dann ein Eis teilen.
In den Augen meiner Eltern hatten die Schulzes es „geschafft“: ein hohes Einkommen und eine gesicherte Position im Staatsdienst. So wurde dann auch immer wieder scherzhaft geplant, dass ich irgendwann die gleichaltrige Geli Schulze heiraten sollte, weswegen meine Anwesenheit beim Gründonnerstagskaffee auch dringend notwendig war.
Während wir bei Kaffee und Kuchen zusammensaßen, dudelte im Radio der Sender RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor), ein antikommunistischer Propagandasender unter Kontrolle der Amerikaner*innen. Gegen 17 Uhr wurde ich von einer Eilmeldung aus meiner Langeweile gerissen: „Studentenführer Dutschke vor SDS-Zentrum niedergeschossen!“
Es war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, ob Dutschke durch die Schüsse getötet worden war – mir war aber klar, dass ich sofort von dieser Kaffeeversammlung weg musste. Ich täuschte heftige Magenschmerzen vor und bat meine Eltern leidend um den Wohnungsschlüssel (einen eigenen hatte ich noch nicht). Sobald die Wohnungstür der Schulzes hinter mir ins Schloss gefallen war, rannte ich zum SDS-Zentrum, dass nur wenige hundert Meter entfernt war. Dort gab es keine konkreten Informationen, also rannte ich weiter zum Republikanischen Club in der Wielandstraße. Ich erfuhr, dass noch am gleichen Abend ein großes Teach-In in der Technischen Universität stattfinden sollte.
Ich landete also abends in einem völlig überfüllten Hörsaal, in dem eine gedrückte und unsichere Stimmung in der Luft lag und niemand so recht wusste, was jetzt passieren sollte.
Bernd Rabehl, einer der Student*innenführer*innen, ergriff das Mikrofon und sprach laut und deutlich aus, wer für die Schüsse auf Rudi verantwortlich gemacht werden musste: die Springer-Presse mit ihrer täglichen Hetze und der West-Berliner Senat, der sich unbelehrbar jedem Dialog verweigerte. Während Rabehl sprach, tauchten im Hörsaal erste Exemplare der von Bildzeitung und BZ herausgegebenen Extrablätter auf, die heuchlerisch und verlogen ihr Mitgefühl mit Rudi Dutschke bekundeten – demselben Rudi Dutschke, den sie monatelang verleumdet hatten. Die Stimmung kehrte sich vollkommen um, und es war klar, dass sofort eine politische Aktion passieren musste. Auf einmal ging es wie ein Lauffeuer durch die Reihen: „Auf zum Springer-Hochhaus in der Kochstraße!“
Die meisten der 22.000 West-Berliner Polizist*innen waren schon im Osterurlaub und die aufgestellte Notbesetzung konnte den Demonstrationszug nur schwer in den Griff bekommen. In der Kochstraße kam es dann auch zu heftigen Auseinandersetzungen. Auslieferungsfahrzeuge der Bild und BZ wurden angezündet. Springer bestellte Taxifahrer*innen, die die Zeitungen ausliefern sollten. Die depressive Stimmung des Teach-Ins wurde von einer ungeheuren Wut abgelöst.
Nachts um drei kam ich erschöpft nach Hause. Statt mit vorgetäuschten Magenschmerzen ging ich mit den schon üblichen Backpfeifen zu Bett.
Ich hatte Rudi Dutschke vor dem Attentat nicht kennen gelernt, seine Diskussionsbeiträge auf Versammlungen waren für mich, wie für viele andere auch, schwer verständlich. Ich erinnere mich aber gut an die Empathie, die Rudi schon damals ausstrahlte, und die ich bei linken Männern vorher noch nicht erlebt hatte. Jahre später habe ich ihn dann auch persönlich kennen gelernt, und im persönlichen Gespräch wurde dieser Eindruck bestätigt: Rudi war ein zugewandter, solidarischer Typ, der sich für sein Gegenüber interessierte und immer dialogbereit war.
In Folge des Attentates kam es Ostern 1968 in Berlin und ganz Westdeutschland zu den größten Straßenschlachten seit Kriegsende und überall waren die Losungen dieselben: „Springer hat geschossen!“, „Enteignet Springer!“. Meine Radikalisierung war unumkehrbar – die Schulzes und ihre für mich vorgesehene Tochter habe ich nie wiedergesehen.
Aufgeschrieben von Mascha Bartsch.
In zwei Wochen berichtet Michael Prütz an dieser Stelle über den 1. Mai 1968.