Schachbrett der Weltpolitik

09.10.2015, Lesezeit 8 Min.
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// SYRIEN: Nach dem militärischen Eingreifen Russlands stellen sich die Figuren neu auf. Vor welchem Hintergrund fand das Eingreifen statt? Wie werden die Kriegsparteien in Zukunft nun handeln? //

Die Kampfjets waren schon bereit. Es mussten nur noch die Tarndecken heruntergezogen werden – und schon konnten die Jets starten. Gemeint sind die Flugzeuge der russischen Luftwaffe, die in Syrien stationiert sind. In der letzten Woche bewilligte der Föderationsrat (das Oberhaus der beiden Parlamentskammern) Russlands einstimmig den Einsatz russischen Militärs zur Intervention in den syrischen Bürger*innenkrieg. Obwohl sich diese Entwicklung bereits länger abzeichnete, markiert die Intervention ein weiteres, bedeutendes Kapitel in diesem Krieg, der vor über vier Jahren ausbrach. Russland gliedert sich damit in einer Reihe mit über einem halben Dutzend Kriegsparteien ein, deren Schlachtfelder längst die Grenzen Syriens gesprengt haben.

Die Frage nach dem Warum des Kriegseintritts lässt sich vor allem durch die Schwäche des Assad-Regimes erklären, welches offenbar nicht mehr in der Lage ist, den Luftraum alleine zu kontrollieren. Seit Anbeginn der Gewalt, die vier Millionen (!) Syrier*innen aus ihrem Land vertrieb und sieben Millionen zur internen Flucht zwang, konnte sich Präsident Baschar al-Assad auf drei Verbündete verlassen: den Kreml, den Iran und die Milizen der Hisbollah. Besonders die beiden erstgenannten sorgten mit Waffenlieferungen und logistischer Unterstützung für das Überleben des Regimes, dessen Gebiet, über das es Kontrolle hat, auf 25 bis 30 Prozent geschrumpft ist. Diese Hilfe war aber nicht genug: Es müssen die 32 russischen Kampfjets ran. So erklärte folgerichtig auch ein Kommandeur des Assad-Regimes: „Die russische Luftwaffe ist uns eine große Hilfe.“

Verschiedene Interessen, gleiche Feinde

Die Motivation Moskaus gilt dabei in erster Linie dem Schutz der Regierung Assad. Der Kreml pflegt seit Jahren beste Beziehungen zu dem syrischen Diktator und besitzt in Tartus eine kleine Marinebasis. Diese Basis ist für Russland neben einer Basis in Vietnam die einzige Möglichkeit, außerhalb der Gebiete der ehemaligen Sowjetunion Einfluss auf andere Staaten auszuüben. Dieser letzte Schritt mag ein drastischer, aber logischer Entschluss sein. Denn die „moderaten“ Gegner Assad um die „Freie Syrische Armee“ (FSA) sind durch den Aufstieg des radikalen Islamismus so schwach aufgestellt wie noch nie – obwohl die von den USA geführte „Anti-IS-Koalition“ seit über einem Jahr, wenn auch begrenzte, Luftangriffe auf den IS fliegt. An dieser Koalition beteiligen sich über 60 Staaten, darunter auch Deutschland. Diese breite Koalition selbst, aber auch die Möglichkeit eines direkten Eingreifens Russlands in dieses Gebiet, machen einmal mehr die Schwächung des US-Hegemons deutlich.

Doch während die Luftschläge der USA oder Großbritanniens vor allem der Schwächung des IS dienen, konzentriert sich die russische Luftwaffe in erster Linie auf die Bekämpfung der syrischen Rebellen, also der FSA oder islamistischen Gruppen, die von den Golf-Staaten finanziert werden. Bezüglich dieser Strategie musste sich Moskau zwar Kritik anhören … jedoch keineswegs seine Strategie ändern. Denn nach eigenen Angaben wollen sie ebenso – aus Interessen der nationalen Sicherheit heraus – den IS bekämpfen. Was die Rolle des IS angeht, sind sich also Barack Obama und Wladimir Putin einig: er müsse „ausgelöscht“ werden, wie es Obama zu Beginn der Luftangriffe im August 2014 verkündete.

Die Vorstellungen über die weitere Zukunft des Landes gehen jedoch weit auseinander. Für Moskau kommt ein Sturz des Regimes (derzeit) nicht in Frage. Die „Anti-IS-Koalition“ ist sich im Gegenzug darüber einig, dass Assad erst gestürzt werden muss, bevor Friedensverhandlungen beginnen können. Unterstützt wird diese Ansicht besonders von der Türkei und Saudi-Arabien. Besonders die Türkei unterstützte den IS mit Waffenlieferungen und ließ sie ungehindert ihre Grenze passieren. Erst nach langem Zögern griffen sie militärisch den IS an – und dies äußerst zaghaft. Das hängt vor allem damit zusammen, dass sie so den kurdischen Kräften nicht viel Raum eingestehen wollen; schließlich sind diese im unmittelbaren Kampf gegen den IS.

Vor dem Hintergrund der UN-Vollversammlung

Zum ersten Mal seit zwei Jahren trafen sich die beiden Präsidenten Obama und Putin kürzlich in New York wieder. Anlass war die siebzigste UN-Vollversammlung, die das Thema Syrien zentral behandelte. Während im Vorfeld dieses Treffens über eine mögliche Konzession Obamas hinsichtlich einer Verhandlung mit dem Assad-Regime spekuliert wurde, kann davon nun keine Rede mehr sein. Obama stellte in seiner Rede klar, dass Assad ein „Tyrann“ und eine Zukunft Syriens nur ohne ihn denkbar sei. Putin wiederum betonte, dass „nur das syrische Volk über die Zukunft des Landes entscheiden kann“ – und stellte sich damit hinter Assad.

Die weiteren Schritte Russlands – die Bombardierungen – dürfte Washington nicht gutheißen. Denn in erster Linie wurden nicht nur Stellungen der syrischen Rebellen angegriffen, sondern offensichtlich auch ein Ausbildungslager, welches von den USA unterstützt wurde. Gleichzeitig konnte Putin wichtige Erfolge wie den Aufbau eines Informationszentrums im Irak zur Koordinierung des Kampfes gegen den IS feiern. Das offensichtliche Scheitern der eigenen Militärintervention, sowohl der begrenzten Lufteinsätze als auch der nun beendeten Bewaffnung der „Rebellen“ brachten Außenminister Kerry dazu, von der Notwendigkeit eines „kontrollierten Übergangs“ zu sprechen. Gleichzeitig erteilte er vielen islamistischen Gruppen, die in Syrien gegen Assad kämpfen, einen harten Schlag, indem er zum ersten Mal offen davon sprach, dass der kommende Staat „säkular“ sein sollte, was die USA mit Russland teilen würden. Und andere Mächte innerhalb der „Anti-IS-Koalition“ wie Deutschland zeigten sich sogar offen für Gespräche mit Assad bereit. Diese neue „diplomatische Offensive“ wird deutlich an Aussagen wie des französischen Präsidenten Francois Hollande, der feststellte, dass Assad „irgendwann“ verschwinden müsse – eben nicht sofort. Auch der britische Außenminister Philip Hammond stellte klar, dass Assad nicht „gleich am ersten Tag gehen muss“.

Der Kampf gegen den IS ist dabei der Vorwand, unter dem die westlichen Imperialismen und die Regionalmacht Russland in den syrischen Bürger*innenkrieg eingriffen, um ihre Interessen durchzusetzen. Dieser gemeinsame Feind ist wohl das einzige, was diese Kriegsparteien miteinander verbindet.

Kein Weg zurück

Egal, wie sehr Russland seine militärische Präsenz und seine Luftangriffe verstärken wird, es wird nicht mehr das Syrien Assads vor dem Krieg wiederherstellen können. Dieses Syrien, dessen Grenzen noch mit dem kolonialistischen Stift gezogen wurden, kann es nach über 250.000 Toten nicht mehr geben. Ebenso unwahrscheinlich ist, dass der status quo des in vier Teile aufgespaltenen Landes aufrecht erhalten wird. Zu viele Kriegsparteien sind involviert, zu sehr gehen die politischen Interessen selbst innerhalb der „Anti-IS-Koalition“ zwischen imperialistischen Mächten wie den USA, Großbritannien oder Frankreich einerseits und Regionalmächten wie Saudi-Arabien andererseits, auseinander. Während die USA den IS „auslöschen“ wollen, unterscheidet sich die Ideologie des IS nur in Nuancen von derjenigen der saudischen Monarchie.

Der russische Militäreinsatz, der nach eigenen Angaben nur einige Monate andauern soll, dient dabei vor allem zur Stärkung des Assad-Regimes und der Sicherung des eigenen Stützpunkts. Auch über eine mögliche Flugverbotszone wird spekuliert, wobei Russland die technischen Voraussetzungen dafür bereits mitgebracht haben könnte. In jeden Fall sehen sich die USA und die „Anti-IS-Koalition“ einer starken Konkurrenz nicht nur um die Lufthoheit, sondern um die allgemeine Dominanz in der Region, ausgesetzt. Die Nachrichten über gegenseitige Verletzungen des Luftraums über Syrien mehren sich.

Putin vermochte es, die Figuren auf dem syrischen Schachbrett nicht nur neu, sondern auch zu seinen Gunsten neu zu stellen. Infolgedessen wird der Kreml bei den Verhandlungen über das weitere Schicksal nicht mehr wegzudenken sein. Er will dabei die Lage in Syrien ausnutzen, um von dem Paria-Status, in den ihn die Weltmächte nach dem Ukraine-Krieg und der Annexion der Krim verdammt hatten, wieder in den Status einer Weltmacht zurück zu gelangen. Die Außenpolitik soll Putin damit den Rückenwind geben, der ihm innenpolitisch angesichts einer katastrophalen Wirtschaft fehlt.

Die russische Intervention bedeutet keineswegs, dass das Blutvergießen aufhören wird. Auch ein Ausweg aus dem Krieg in Form eines Waffenstillstandes scheint zurzeit weit entfernt, solange die imperialistischen Mächte im Gegenteil darauf aus sind, ihre Militärpräsenz zu erhöhen oder die Luftangriffe zu verstärken. Solange dies aber die imperialistischen Länder nicht dazu gezwungen werden, ihre Interventionen abzubrechen – solange wird es keinen wie auch immer gearteten Frieden geben. Nötig ist dazu aber auch ein antiimperialistischer Widerstand in den Zentren der Kriegsländer.

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