„Samtene Revolution“ in Armenien? (Teil I)
Seit mehr als einer Woche wird Armenien von Massenprotesten erschüttert. Nachdem der frühere Staatspräsident Sersch Sargsyan entgegen seiner Ankündigung nun doch zum Premierminister gewählt wurde, steigerte sich der anfängliche Protest zu einer wahrhaften Massenbewegung. Angeführt von der Jugend sehen sich die Protestierenden einem mächtigen Repressionsapparat ausgesetzt, der auch vor einem Blutbad nicht zurückschrecken würde. Eine Analyse der Ursachen der Proteste.
Prolog
Um die aktuelle Lage zu verstehen, muss mensch wissen, wie Sersch Sargsyan an die Macht kam, als er 2008 zum Staatspräsidenten „gewählt” wurde. Infolge von Wahlbetrug gingen schon damals Zehntausende auf die Straßen und forderten Neuwahlen. Nachdem die Proteste schon rund eine Woche anhielten, griff die Polizei am 1. März 2008 mit brutaler Gewalt eine Großdemonstration mit 150.000 Menschen an und löste diese auf. Diese Ereignisse stellten den Scheitelpunkt der damaligen Bewegung dar. Am selben Abend erklärte der noch amtierende Präsident Robert Kocharyan den Ausnahmezustand. Insgesamt zehn Menschen starben unter der Verantwortung des Staates in diesen Protesten. In Armenien ist seitdem „der 1. März” ein Synonym für jene schweren Ausschreitungen. Es war die blutige Geburt der Ära von Sersch Sargsyan, der das Land die nächsten zehn Jahre als Staatspräsident regieren sollte. In diesen zehn Jahren sollten mehr als 400.000 Staatsbürger*innen ihr Land verlassen.
Beginn einer neuen Periode
„Kommt heraus auf die Straßen und werdet Teil unserer Revolution. Seid mit uns und bereitet eure Befreiung vor.” — Oppositionsführer Nikol Paschinyan
Seit dem 13. April diesen Jahres gab es keinen Tag, keine Stunde und keine Minute, in der es keine politischen Aktionen gab. Der enorme Protest richtet sich gegen den vor rund einer Woche zum Premierminister gewählten Sersch Sargsyan; eben jener, der das Land die letzten zehn Jahre als Staatspräsident regierte. Aufgrund der Verfassungsreform vom Dezember 2015 kommt ihm nun als Premierminister in einer parlamentarischen Demokratie mehr Macht als dem bisherigen Präsidenten in der ehemaligen Präsidialrepublik zu. Sargsyans Amtszeit ist damit de facto fortgesetzt, sodass er der erste ist, der eine dritte Amtszeit antritt — was eigentlich nach der Verfassung untersagt ist.
In einem Land, in dem die Arbeitslosigkeitsrate nach offiziellen Zahlen bei rund 20 Prozent liegt und Korruption Alltag ist, fließen politischer und sozialer Protest zusammen. Die Rufe der Massendemonstrationen nach dem Rücktritt von Sersch Sargsyan haben gleichzeitig das Echo nach mehr Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit im Land. Sargsyan steht stellvertretend für die herrschende und das Land ausbeutende Kaste. Er ist der Repräsentant der armenischen Bourgeoisie – jener Oligarchie, deren Luxus seit Jahren scheinbar unendlich wächst, während das Land in Armut lebt. Rund 30 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.
Seit nun zehn Tagen kommt es damit zu Protesten, die große Teile des Volkes ergriffen haben und für die Regierung ein gewaltiges Problem darstellten, welches sie nur mit Gewalt zu lösen trachtet. Jeden Tag gab es Hunderte Verhaftungen, was auch mit der Aktionsform der Proteste zusammenhängt: In vielen (auch spontanen) Aktionen kommt es zu zivilem Ungehorsam. Was damit anfing, dass Studierende den Verkehr blockierten, indem sie Zebrastreifen extra langsam überquerten, weitete sich dazu aus, dass Zehntausende die größten Straßen der Hauptstadt Jerewan blockieren und abends, auf dem zentralen Platz der Republik, sich Zehntausende zur Großdemonstration und Kundgebung zusammenfinden. In Parolen wird dabei immer wieder der Rücktritt von Sersch Sargsyan gefordert.
Es ist ein Massenprotest, der von der Jugend angeführt wird und in dem nach langer Zeit die Studierenden wieder eine aktive Rolle spielen. Sie versuchten sogar, ihre Universitäten zu besetzen — alleine die gewaltige Präsenz der Polizei verhinderte dies. Überhaupt zeigte sich in den letzten Tagen wieder einmal die reaktionäre Rolle der Polizei, welche ganze Straßen absperrte und damit auch verhinderte, dass die Demonstrierenden am 14. April zum Parlament gelangen konnten, wo Sargsyan mit großer Mehrheit zum Premierminister gewählt wurde.
Die Rolle der Opposition und ihr Konzept
Nikol Paschinyan entwickelte sich zum Anführer der Bewegung, weil er mit seinem Konzept der „Samtenen Revolution” das Bedürfnis vieler Menschen, nach friedlichem Protest, erfüllen konnte. Angelehnt an die Massenbewegung in der damaligen Tschechoslowakei 1989 sieht sein Konzept vor, dass infolge des massenhaften Zivilen Ungehorsams, die Institutionen und das öffentliche Leben lahmgelegt werden. Die Straßen sollen durch Blockaden besetzt werden. Die Institutionen sollen besetzt, und so paralysiert werden, dass das Volk anschließend die Macht übernehmen könne. In Folge dessen sollen die dann gegründeten “Revolutionären Komitees” das öffentliche Leben organisieren.
Paschinyan konnte sich durch seine ständige Aktivität eine gute Reputation erarbeiten, sodass er in den Augen vieler Protestierender hohe Anerkennung genießt, obwohl er Parlamentsabgeordneter für eine kleine oppositionelle Partei ist, die bei den letzten Wahlen nur etwa acht Prozent der Stimmen bekam. Jeden Tag konnte mensch ihn live im Fernsehen bei Demonstrationen, Sitzblockaden und Auseinandersetzungen mit der Polizei sehen. Später am Abend als Agitator vor Zehntausenden von Menschen.
Damit erkämpfte er sich die Stellung desjenigen, an den selbst der neue Präsident Armen Sargsyan (nicht verwandt mit dem neuen Premier) herantreten musste. Bei der Kundgebung am Samstag stellte Paschinyan im kurzen Gespräch folgende Forderungen auf:
1.) Rücktritt von Sersch Sargsyan
2.) Das Parlament wählt einen neuen Premierminister, nach der Auswahl des Volkes
3.) Eine Übergangsregierung wird eingesetzt, solange bis das Wahlgesetz verändert wurde, welches den Übergang der Macht regelt
4.) Neuwahlen zum Parlament in einer freien und fairen Art und Weise
Wie mensch sieht, sind das ziemlich bescheidene Forderungen, da sie nicht einmal die Forderung nach der Freilassung aller politischen Gefangenen enthalten — und davon gibt es in Armenien derzeit sehr viele! Paschinyan geht es um die Ablösung der Regierung, aber nicht wirklich um eine Revolution, da sein Protestkonzept sich dem geltenden bürgerlichen Recht unterwirft. Das enge Korsett des Legalismus verhindert, dass die Aktionen militanter werden und sich zum Beispiel auf die Betriebe ausweiten, wo die Menschen arbeiten. Es gehört zur Dialektik der Ereignisse, dass Paschinyan selbst, entgegen dem Gesetz, am Sonntag verhaftet wurde.
Die Regierung hat damit zum Ziel, die Bewegung zu enthaupten. Es erscheint damit umso zynischer, dass Sargsyan in einer Unterredung mit Paschinyan vor laufenden Kameras indirekt mit der Wiederholung eines 1. März drohte, als er Paschinyan vorwarf, dass er „nichts von den Ereignissen des 1. März” gelernt habe. Nach nicht einmal zwei Minuten beendete er die Unterredung, da er nicht über seinen Rücktritt „verhandeln” wollte. Es war ein öffentlicher Eklat, nur kurz bevor Paschinyan zusammen mit Dutzenden weiteren bei einer großen Demonstration verhaftet wurde.
Die Regierung erklärte daraufhin alle Demonstrationen für illegal, und dass die Polizei das Recht habe, alle Ansammlungen aufzulösen. Umso beeindruckender, dass dennoch mehrere Zehntausende sich auf die Straßen machten und zum zentralen Platz der Republik strömten. Damit setzten sie auch die für 19 Uhr geplante zentrale Kundgebung durch, obwohl eine Polizeikette den Platz vorher sichern sollte.
Die Situation bleibt weiterhin explosiv, auch weil am 24. April der nationale Gedenktag für den Genozid an den Armenier*innen ist. Zu diesem Tag werden aus dem ganzen Land bis zu Hunderttausende Menschen erwartet.