Rosa Luxemburg und der Massenstreik (oder wie man die Kraft des Proletariats freisetzt)

08.01.2019, Lesezeit 10 Min.
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Massenbewegungen wie aktuell in Frankreich oder große Streiks, wie es sie 2018 in ganz Europa zuhauf gab, zeigen immer wieder ihr Potenzial für die Lähmung der Wirtschaft. Angesichts des 100. Jahrestages der Ermordung Rosa Luxemburgs wollen wir ihre Perspektive auf eine Debatte wieder aufnehmen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die europäische Sozialdemokratie durchdrungen hat. Es stellte sich die Frage, wie man die enorme soziale Macht der arbeitenden Massen freisetzen kann.

Immer wieder stoßen fortschrittliche Bewegungen der Massen an die Grenzen ihrer Macht, die ihnen von einer bürokratischen Kaste an der Spitze der Gewerkschaften aufgezwungen werden. Das aktuellste Beispiel für diese Dynamik ist die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich, die es bisher nicht vermocht hat, den Gewerkschaftsspitzen den Generalstreik aufzuzwingen.

Ohne Angst zu haben, das Ziel zu verfehlen, könnte man sagen, dass die Debatten über diesen Widerspruch inzwischen mehr als hundert Jahre alt sind. In diesem Rahmen und trotz aller Unterschiede zu damals wollen wir hier auf eine der Diskussionen zurückkommen, die die internationale sozialistische Bewegung in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts geprägt haben.

Damals kreuzte die polnische Revolutionärin Rosa Luxemburg Lanzen mit Karl Kautsky, dem wichtigsten Theoretiker der Sozialdemokratie. Die Polemik beschäftigte bei weitem nicht nur ihre beiden Hauptakteur*innen, sondern umfasste eine Vielzahl von Akteur*innen und Publikationen. Es gibt nicht wenige Lehren, die aus dieser interessanten Diskussion gezogen werden könnten.

Frische Luft aus dem Osten

Die Diskussion war von einem Kontext enormer sozialer Umbrüche geprägt. In Europa fand gerade der Übergang zum Klang des „bewaffneten Friedens“ vor dem Ersten Weltkrieg statt. Seit Jahren war die Arbeiter*innenklasse des Kontinents Protagonistin einer mächtigen Streikbewegung. In politischer und wirtschaftlicher Hinsicht erlebte die ganze Welt die Konsolidierung einer neuen Ära unter imperialistischer Herrschaft.

Der neue historische Moment bedeutete auch die Rückkehr der sozialen Revolution, nach drei Jahrzehnten Abwesenheit. 1905 beteiligte sich die russische Arbeiter*innenklasse an einer mächtigen Bewegung gegen den Zarismus. Der politische Generalstreik wurde zur Methode des Kampfes par excellence.

Die Splitter der russischen Explosion erreichen den europäischen Kontinent und Deutschland. Dort wartete der unruhige Geist von Rosa Luxemburg.

In ihrer Broschüre Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906) erklärte die Revolutionärin, dass „die russische Revolution eine gründliche Revision des alten Standpunkts des Marxismus zum Massenstreik erforderlich macht“.

Davon ausgehend entwickelte sie einen permanenten Kampf gegen die bürokratische Gewerkschaftsführung, einen konservativer Faktor in der deutschen politischen Landschaft. Im gleichen Text heißt es:

Die Gewerkschaften vertreten nur die Gruppeninteressen und eine Entwicklungsstufe der Arbeiterbewegung. Die Sozialdemokratie vertritt die Arbeiterklasse und ihre Befreiungsinteressen im ganzen.

Der zunehmende Prozess der Bürokratisierung in Gewerkschaften drückt sich auf der organisatorischen Ebene auf. Noch im selben Jahr veranstaltet die SPD in Mannheim einen neuen Parteitag, auf dem dieser Bürokratie eine weitgehende Autonomie gewährt wird.

Duell der Titanen

Die Debatte über den Massenstreik wurde 1910 reaktiviert, in der Hitze starker Mobilisierungen, die eine Wahlreform in Preußen fordern.

Rosa Luxemburg stürzte sich in die Arena, um eine Perspektive der Radikalisierung des Prozesses voranzutreiben. Diesmal stand Karl Kautsky, der wichtigste ideologische Anführer der internationalen sozialistischen Bewegung, ihr gegenüber.

Wieder war die Spannung der Revolutionärin auf den Kampf gegen den konservativen Apparat der Gewerkschaften fokussiert. Der Kampf implizierte auch, auf die freie Entwicklung der politischen Selbsttätigkeit der Arbeiter*innenklasse zu setzen. In ihren Überlegungen scheint die Perspektive des Massenstreiks mit Marx‘ Definition verbunden zu sein, dass die Befreiung der Arbeiter*innenklasse ihr eigenes Werk sein wird.

In dem Artikel, der die Debatte eröffnete, bemerkte Rosa:

Mag ein allgemeiner politischer Massenstreik im ersten Gefolge die Schwächung oder Beschädigung mancher Gewerkschaft nach sich ziehen – nach kurzer Zeit werden nicht bloß die alten Organisationen neu aufblühen, sondern die große Aktion wird ganz neue Schichten des Proletariats aufrütteln.

Bereits in der ersten Antwort auf Kautsky argumentierte Rosa, dass die Agitation über die Idee eines Generalstreiks

die Möglichkeit [gibt], die ganze politische Situation, die Gruppierung der Klassen und Parteien in Deutschland in schärfster Weise zu beleuchten, die politische Reife der Massen zu steigern, ihr Kraftgefühl, ihre Kampffreude zu wecken, an den Idealismus der Massen zu appellieren, neue Horizonte dem Proletariat zu zeigen.

Im Denken der polnischen Revolutionärin erscheint der Massenstreik als ein gewaltiger Hebel, um die Energie der Arbeiter*innenklasse als Ganzes zu freizusetzen und ihre verschiedenen Teile in Aktion zu bringen.

Er ist auch ein grundlegendes Instrument zur Stärkung des Vertrauens der Klasse in ihre eigenen Kräfte, im Gegensatz zu einer versöhnlichen Politik gegenüber der liberalen Bourgeoisie. Rosa schrieb:

Nicht darauf kommt es an, plötzlich von heute auf morgen einen Massenstreik in Preußen zu kommandieren (…), sondern (…) geschichtlich, ökonomisch, politisch den Massen klarzumachen, daß sie nicht auf bürgerliche Bundesgenossen und nicht auf die parlamentarische Aktion, sondern bloß auf sich selbst, auf die eigene entschlossene Klassenaktion angewiesen sind.

Der Generalstreik und die Macht der Arbeiter*innenklasse

In ihrm Buch Sozialistische Strategie und Militärkunst erklären Emilio Albamonte und Matías Maiello, dass „das, was in Luxemburg als Diskussion über Taktiken zur Intervention in Ereignisse beginnt, Kautsky in Begriffen der Strategie umformuliert“.

So stellte Kautsky, der Autor von Der Weg zur Macht, seine Perspektive der Ermattungsstrategie derjenigen der Niederwerfungsstrategie entgegen, die er Rosa zuschrieb.

Die erste definierte er als diejenige, die „die Gesamtheit der bisherigen Praxis des sozialdemokratischen Proletariats seit dem Ende der sechziger Jahre“ charakterisiert. Eine Praxis, die darauf abzielt, dass sich in der Konfrontation mit dem kapitalistischen Staat „das Proletariat beständig stärkt, seine Gegner beständig schwächt, ohne sich dabei zu einer Entscheidungsschlacht provozieren zu lassen, solange wir die Schwächeren sind“.

Indem Kautsky die Fakten und Worte verbiegt, erhebt er Friedrich Engels in den Rang eines „Vaters“ dieser Konzeption. Er tat dies ausgehend von seiner (gekürzten) Einleitung von 1895 in die Schrift Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850.

Kautsky schlug vor, über den Massenstreik zu polemisieren. Für ihn würden die Bedingungen in Deutschland eine andere Dynamik entwickeln als das, was in Russland geschah: Die kraftvolle politische und organisatorische Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie stehe einem Staat gegenüber, der von einer hochkonzentrierten Bourgeoisie unterstützt wird.

In diesem Zusammenhang unterschied er zwischen Demonstrationsstreiks und Zwangsstreiks. Rosa Luxemburg kritisierte ihn gerade dafür, dass er diese Taktik auf die Idee eines friedlichen Streiks beschränkte, der von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften geplant wird, um etwas von der Regierung zu verlangen.

Für die polnischen Revolutionärin bestand der politische Streik demgegenüber aus einem viel breiteren Prozess, der die Radikalisierung von Massensektoren mit der Aktion der Partei verbindet, um diese voranzutreiben und ihr eine politische Richtung zu geben.

Es lohnt sich, einen Moment über Kautskys Definition des Massenstreiks nachzudenken:

Der Massenstreik wirkt dadurch, daß er die Staatsgewalt zu der außerordentlichsten Machtentfaltung zwingt und gleichzeitig ihre Machtmittel möglichst lähmt. Dies bewirkt er schon durch seine Massenhaftigkeit. Er wirkt um so stärker, je mehr die Lohnarbeiterschaft in ihn eintritt; nicht bloß in den Großstädten und den Industriegegenden, sondern auch in abgelegenen Fabrikorten. Besonders wirksam würde er, wenn auch die Landarbeiter auf den großen Gütern in ihn einträten.

Die Definition veranschaulicht eine riesige Distanz zwischen einer isolierten Kampfmaßnahme – wie einem einzelnen landesweiten Streik – und einem politischen Generalstreik, der die Grundlagen der kapitalistischen Macht trifft.

Logischerweise eröffnet diese Dynamik die Perspektive der Konfrontation durch die Staatsmacht, wie sie 1905 in Russland stattgefunden hatte. Dieses Problem bemerkte Kautsky selbst, der schrieb:

Ich vermag mir unter Verhältnissen, wie sie in Deutschland bestehen, einen politischen Massenstreik nur als ein einmaliges Ereignis vorzustellen, in den das ganze Proletariat des Reiches mit seiner ganzen Macht eintritt, als einen Kampf auf Leben und Tod, als einen Kampf, der unsere Gegner niederringt oder die Gesamtheit unserer Organisationen und unsere ganze Macht für Jahre hinaus zerschmettert oder mindestens lähmt.

In der Debatte blieb diese wesentliche Frage von der polnischen Revolutionärin unbeantwortet. Die Grenze von Rosas Konzeption liegt in der mangelnden Definition angesichts dieser Situation. Der politische Generalstreik wirft das Problem der Macht auf, löst es aber nicht. Nur ein wissenschaftlich vorbereiteter Aufstand kann die Staatsmacht erobern und den Triumph der Arbeiter*innenklasse vollenden, indem er die gesamte Wirtschaft lähmt.

Von Strategien und Interessen

Insgesamt fungiert Kautskys politischer und theoretischer Diskurs als Rechtfertigung für eine Praxis, die nach mehreren Jahrzehnten dazu führte, konservative Fraktionen innerhalb der Sozialdemokratie zu stärken. Sie festigten sich rund um den Gewerkschaftsapparat und den mit der parlamentarischen Wahltaktik verbundenen Sektor der Partei.

Dies hob Rosa hervor

Da Genosse Kautsky nundiesemso gedachten Massenstreik unsere altbewährte Taktik des Parlamentarismus entgegenstellt, empfiehlt er in Wirklichkeit vorläufig und für die gegenwärtige Situation einfachNichtsalsparlamentarismus; nicht im Gegensatz zum utopischen Barrikadensozialismus, wie Engels, sondern im Gegensatz zur sozialdemokratischen Massenaktion des Proletariats zur Erringung und Ausübung politischer Rechte.

Der Opportunismus in der Spitze der Sozialdemokratie wuchs in der Folgezeit sprunghaft an. Die Realität gab der polnischen Revolutionärin im Laufe der Debatte eine weiteres Mal recht. Im Juli 1910 stimmte eine Fraktion der sozialdemokratischen Abgeordneten des Landes Baden für den Staatshaushalt. Damit brachen sie logischerweise mit der Parteidisziplin.

Ideen und Stärke

Im Jahr 1906 bemerkte Rosa:

Wird es in Deutschland aus irgendeinem Anlaß und in irgendeinem Zeitpunkt zu großen politischen Kämpfen, zu Massenstreiks kommen, so wird das zugleich eine Ära gewaltiger gewerkschaftlicher Kämpfe in Deutschland eröffnen, wobei die Ereignisse nicht im mindesten danach fragen werden, ob die Gewerkschaftsführer zu der Bewegung ihre Zustimmung gegeben haben oder nicht. Stehen sie auf der Seite oder suchen sich gar der Bewegung zu widersetzen, so wird der Erfolg dieses Verhaltens nur der sein, daß die Gewerkschaftsführer, genau wie die Parteiführer im analogen Fall, von der Welle der Ereignisse einfach auf die Seite geschoben und die ökonomischen wie die politischen Kämpfe der Masse ohne sie ausgekämpft werden.

Die polnische Revolutionärin zeigte damit ein beeindruckendes Vertrauen in die Kraft des spontanen Dranges der Massen, in ihre Fähigkeit, ihre bürokratisierten Führungen zu überwinden.

Dies offenbarte jedoch einen Schwachpunkt in ihrer Konzeption. Streng genommen hatte die Gewerkschafts- und Parteibürokratie bereits ihre Macht unter Beweis gestellt, die Tendenzen zur Mobilisierung der Massen im Kampf für die Wahlreform zu lähmen. Rosa selbst war gezwungen, es in der Debatte zu akzeptieren, indem sie darauf hinwies, dass „die Straßendemonstrationen von den Leitungsorganen der Partei einfach abgesagt wurden“.

Allgemeiner gesprochen übersah sie jedoch die Kluft, die bereits zwischen der Arbeiter*innenbürokratie an der Spitze der Gewerkschaften und breiten Schichten der Arbeiter*innenklasse bestand. In dieser Kluft müssen wir nach den tiefsten Gründen für die Strategie der kautskyanischen Ermattung suchen.

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kam es zur Entwicklung und Konsolidierung der imperialistischen Expansion auf weltweiter Ebene. Gleichzeitig entstand in der Welt der Lohnarbeiter*innen ein horizontaler Bruch zwischen der überwiegenden Mehrheit der Klasse und einem Minderheitensektor, einer wahren Arbeiter*innenaristokratie, verbunden mit den enormen Profiten, die von den Halbkolonien in die Metropolen flossen.

1915 erklärte Lenin, der dieses Phänomen auf europäischer Ebene darstellte:

Der Opportunismus entstand im Laufe von Jahrzehnten kraft der Besonderheiten jener Entwicklungsepoche des Kapitalismus, in der die verhältnismäßig friedliche und kulturelle Existenz einer privilegierten Arbeiterschicht sie „verbürgerlichte“, ihr von den Profiten des eigenen nationalen Kapitals gewisse Brocken zukommen ließ und sie vom Elend, von den Leiden und revolutionären Stimmungen der ausgebeuteten und verarmten Massen isolierte.

Die Entstehung der Arbeiter*innenbürokratie innerhalb der Gewerkschaftsorganisationen war eine historische Neuerung und bedeutete einen qualitativen Wandel im Charakter der strategischen Kämpfe innerhalb der Arbeiter*innenbewegung.

Rosa Luxemburgs politisch-ideologischer Kampf scheiterte an dieser materiellen Realität. Die Forderung an die sozialdemokratische Führung, einen revolutionären Kurs einzuschlagen, war logischerweise machtlos.

Um die soziale Macht der Arbeiter*innenklasse im Hinblick auf die Konfrontation mit dem Staat und der kapitalistischen Macht zu entwickeln, ist es notwendig, eine andere politische Kraft aufzubauen, die die kämpferischsten Sektoren des Proletariats zum Ausdruck bringt.

Es lohnt sich, noch einmal auf Albamonte und Maiello hinzuweisen, die in ihrem Buch schreiben:

Diese Konfrontation von Strategien, im Gegensatz zu all den (unzähligen) Kämpfen von Tendenzen innerhalb der Arbeiter*innenbewegung im 19. Jahrhundert (…), ergab sich nicht mehr nur im Hinblick auf den ideologisch-politischen Kampf, sondern auch im Hinblick auf die Konfrontation zwischen materiellen Kräften.

Es war Lenin, der aus der russischen Erfahrung eine neue Konzeption der Partei entwickelte, die auf die Schaffung einer materiellen Parteikraft abzielte, die in die entgegengesetzte Richtung der Bürokratie geht, das heißt in eine revolutionäre Richtung.

Betrachtet man die Debatte von 1910 in historischer Hinsicht, so liegt die Vernunft ganz auf der Seite von Rosa Luxemburg. Die reformistische Degeneration der Sozialdemokratie erfuhr einen qualitativen Sprung zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als ihre Führung dieses immense imperialistische Blutbad politisch begleitete.

Die Aktualität dieser Kontroverse liegt in der Kontinuität einer der Akteure. Der Prozess der Bürokratisierung von Gewerkschaftsorganisationen hat sich im letzten Jahrhundert nur noch weiter verstärkt. Rosa Luxemburgs Kampf um die Freisetzung der Kampfkraft der Arbeiter*innenklasse geht weiter.

Dies ist eine leicht veränderte Fassung eines Artikels vom Juli 2018 in Ideas de Izquierda.

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