Revolutionärer Feminismus: Was bedeutet das und welche Organisation brauchen wir dafür?
Debattenbeitrag anlässlich der Konferenz "15 Jahre Solid und Linkspartei – Welche Organisation für den Klassenkampf?" | von Freddy und Tom Krüger (Solid Nord-Berlin)
Feminismus ist nach wie vor ein sehr aktuelles Thema. Nicht zuletzt während der Pandemie haben wir gesehen, dass die Zahlen der Fälle an häuslicher Gewalt, zumeist wird diese an Frauen ausgeübt, explodierten. Wir sehen aktuell, dass auch in Bereichen, die sehr wichtig für den Erhalt des Systems und die Gesellschaft sind, wie Krankenhäuser (in denen zukünftige Arbeiter:innen geboren werden) und Schulen (in denen zukünftige Arbeiter:innen ausgebildet werden) chronisch unterbesetzt und unterfinanziert sind.
Aktuell kämpfen in München Hebammen und Kinderkrankenpfleger:innen für den Erhalt ihres Kreißsaals. Ebenso soll in Neubrandenburg eine Frühchenstation geschlossen werden.
Was hat die Linkspartei diesbezüglich für Lösungen anzubieten? Man muss nur eine oberflächliche Bilanz ihrer Regierungsbeteiligungen ziehen, und sieht: gar keine. So werden in Bremen unter R2G beständig Stellen in Krankenhäusern reduziert. Auch in Berlin musste letztes Jahr ein harter Kampf in den Krankenhäusern gegen R2G geführt werden. Da sich die Linkspartei alleine auf Veränderungen durch den bürgerlichen Staat fixiert, ist sie gezwungen, innerhalb ihrer Regierungsbeteiligungen für minimalste Reformen zentrale Kämpfe wie im Krankenhaus opportunistisch aufzugeben.
Dies ist unserer Perspektive diametral entgegengesetzt. Krankenhäuser sind besondere Arbeitsplätze. Die große Mehrheit der Menschen kommt nicht nur in Krankenhäusern auf die Welt, sondern stirbt auch in ihnen. Sie sind zentrale Orte für die Aushandlung darüber, wer in einer Gesellschaft Sorgearbeit übernimmt.Insbesondere pflegerische Tätigkeiten werden im Kapitalismus hauptsächlich von Frauen und Queers übernommen. Gleichzeitig werden diese oft besonders schlecht bezahlt und sind dazu mit sehr viel Stress und allgemein schlechten Arbeitsbedingungen verbunden. Der Kampf darum, dass sich das ändert, ist also ein zentraler Kampf für die Verhandlung der gesellschaftlichen Sorgearbeit allgemein. Wir kämpfen gegen die systematische Abwertung, Unterdrückung und Ausbeutung weiblicher Arbeitskraft. Das heißt: kämpfen für eine gleitende Skala der Löhne, für die Verstaatlichung von Krankenhäusern unter Arbeiter:innenkontrolle, die es möglich macht, wesentlich entlastender zu planen. Genauso liegt es nahe und müssen wir auch den Kampf mit über die unmittelbare Arbeit hinausgehenden Forderungen verbinden: Krankenhäuser sind auch ein Ort, an dem Gewalt an Frauen besonders sichtbar wird, sind sie doch der Ort, den man nach besonders schlimmen Übergriffen aufsucht. In dieser Perspektive wollen wir den Kampf in den Krankenhäusern verbinden mit dem Kampf für mehr Frauenhäuser, mehr Sozialarbeiter:innen und mehr Psycholog:innen.
Wie oberflächlich die Linkspartei mit dem Thema sexualisierter Gewalt umgeht, zeigt der komplette Umgang mit LinkeMeToo. Während ein Großteil der Beschuldigten unbehelligt ihre Karriere im Apparat der Linkspartei fortsetzen, wird Betroffenen von sexualisierter Gewalt eine Kommission angeboten, die aufklären soll. Die Zusammensetzung dieser wurde vom Parteivorstand bestimmt, der maßgeblich selber in den Skandal verwickelt war. Janine Wissler wusste, dass ihr Mann sexuell übergriffig war und trat als Parteivorsitzende zurück, nur um kurz darauf wieder zu kandidieren und gewählt zu werden. Ob sie ihre Rolle in der Vertuschung sexualisierter Gewalt aufgearbeitet hat, bleibt fraglich.
Anstatt die Aufklärung sexualisierter Gewalt zur “Expert:innenfrage” zu erklären, müsste es Kommissionen von Betroffenen und Basismitgliedern geben, die kollektiv Vorfälle untersuchen und entsprechend Konsequenzen ziehen können. Der Apparat der Linkspartei will aber genau dies verhindern, da dies bedeuten würde, dass bestehende Seilschaften gebrochen werden würden und man keine Kontrolle mehr darüber hätte, wer Konsequenzen für sein Handeln bekommt. Für die Linksparteibürokratie, die Größtenteils finanziell abhängig von ihrer Politikkarriere im bürgerlichen Staat ist, unvorstellbar.
Den Boden, auf dem solche umfassende sexualisierte Gewalt möglich wird, ist das fehlende feministische Programm der Linkspartei. Im Zentrum steht nicht, die materielle Grundlage für ein besseres Leben zu ermöglichen und Ausbeutung und Unterdrückung zu beenden, sondern der hauptsächliche Vorschlag der Linkspartei für Frauen und Queers sind Quoten auf Wahllisten und generell mehr Repräsentation. Es bringt jedoch nichts, mehr Frauen und Queers in Vorständen oder im Bundestag zu haben, wenn diese dieselbe an den Staat angepasste Politik mittragen müssen, sondern degradiert sie zu Quotenerfüller:innen.
Die Anhänger:innen des Reformismus glauben, dass wir durch kleine Schritte im Parlament die Welt nennenswert verändern können, und dass wir uns darauf konzentrieren sollten, statt auf eine Revolution hinzuarbeiten. Sie glauben nicht daran, dass der bürgerliche Staat zerschlagen werden muss, um einen neuen sozialistischen Staat aufzubauen. Wir sind nicht gegen Reformen. So bringt der Wegfall des “Werbeverbots” für Schwangerschaftsabbrüche viel Erleichterung für ungewollt Schwangere, die sich nun einfach im Internet informieren können, welche Praxen Abbrüche durchführen. Auch, dass die Namen- und Personenstandsänderung vereinfacht wurde, ist ein entscheidender Fortschritt für viele Menschen. Diese Reformen helfen, unser Leben ein bisschen erträglicher zu machen.Wenn man sich vor Augen führt, dass an mehr als jedem dritten Tag ein Femizid in Deutschland begangen wird, der höchsten Inflationsrate seit den 1950er Jahren, und der Gesundheitskrise, sind sie jedoch höchstens ein Tropfen auf dem heißen Stein. Reformistische Organisationen, dazu gehören auch Stiftungen oder NGOs, verlassen sich darauf, dass ihre Appelle an den Staat auf offene Ohren fallen. Wir wissen jedoch, dass die bürgerlichen Regierungen uns ein paar Brotkrumen zuwerfen, aber am Ende des Tages immer noch das Kapital schützen, weiter abschieben und die Polizei hochrüsten.
Ein weiterer Aspekt, der uns oft im reformistischen Feminismus begegnet, ist die Bestrafungslogik. Gegen sexistische und queerfeindliche Gewalt hilft es nicht, schärfere Gesetze umzusetzen. Dies führt dazu, dass die Polizei mehr Befugnisse erhält. Wir wissen, dass wir uns nicht auf sie verlassen können, und dass durch Gefängnisaufenthalte Gewalttäter:innen oftmals noch mehr radikalisiert werden. Sofern sie überhaupt den für die von Gewalt betroffene Person demütigenden Gerichtsprozess verlieren. Dies kann also nicht das sein, was wir Menschen, die patriarchale Gewalt erlebt haben, anbieten können. Ebenso heißt das, dass wir zwar sehen, dass Sexarbeit meist mit hohen gesundheitlichen Risiken für die zumeist weiblichen und queeren Personen die sie ausüben, verbunden ist. Jedoch würde das “Nordische Modell”, was Freier kriminalisiert, ebenfalls in diese Logik der Ausbau von Polizei und Staatsgewalt fallen. Auch die Sexarbeiter:innen hätten erschwerte Arbeitsbedingungen und müssten sich größtenteils in die Illegalität zurückziehen, was sie ebenfalls nicht weiterbringt.
Stattdessen braucht es Komissionen von Gewerkschaften und Sexarbeiter:innen, um Orte an denen Sexarbeit stattfindet auf Menschenhandel zu kontrollieren. Zusätzlich braucht es kostenlose Hygiene- und Verhütungsmittel, um Sexarbeit so sicher wie möglich ausführen zu können. Schlussendlich muss die Polizei zurückgedrängt und entwaffnet werden, die viel zu oft Sexarbeiter:innen schikaniert und misshandelt.
Wir denken, dass dies nur Übergangslösungen sein können. In einer Gesellschaft, in der demokratisch die gesamte Produktion und Reproduktion geplant wird, denken wir nicht, dass Menschen abgestellt werden sollten, um mit Menschen Sex zu haben, mit denen sie nicht auch in ihrer Frezeit schlafen würden.
Gegen Gewalt und Unterdrückung, die auch innerhalb unserer eigenen Organisationen passieren kann, müssen wir uns zur Wehr setzen, indem wir den Menschen dabei helfen selbstbewusst zu werden und sich zu trauen sich zu wehren oder um Hilfe zu bitten, wenn sie Gewalt oder Diskriminierung erfahren. Zudem muss die gesamte Organisation wachsam sein und alle Mitglieder, die Gewalt o.ä. mitbekommen, müssen einschreiten. Zusätzlich können Kommissionen gewählt werden, die sich darum kümmern, Fälle von Gewalt oder Diskriminierung zu bearbeiten, die nicht im Gruppenkontext oder nur von den beteiligten Personen direkt bearbeitet werden können. Dies ersetzt aber nicht, dass alle Mitglieder sich dafür verantwortlich fühlen, darauf zu achten, dass es den anderen gut geht. Auch wenn alle Mitglieder sich entsprechend einer revolutionären Moral zueinander verhalten, kann die aber auch keine Lösung für Sexismus sein, es reicht also nicht, besonders sexismusfreie Orte zu schaffen. Sexismus kann nur überwunden werden, wenn wir den Kapitalismus besiegen und den bürgerlichen Staat zerschlagen.
Wir wollen eine Organisation aufbauen, die gegen sämtliche Formen von Unterdrückung und Ausbeutung kämpft. Für uns ist klar, dass dies nur geht, wenn diese den Klassenkampf in ihren Fokus setzt, d.h. der Kampf der Arbeiter:innenklasse gegen die aktuell herrschende Klasse, die Bourgeoisie, mit dem Ziel, den aktuellen Staat, die Regierung und die Kapitalist:innen zu stürzen, und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. In einem sozialistischen System würden Sexismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit, Behindertenfeindlichkeit usw. nicht automatisch verschwinden, da die Menschen immer noch individuelle Vorurteile hätten. Jedoch würde die materielle Basis für diese Unterdrückung wegfallen. Menschen würden nicht mehr auf Grund von Merkmalen wie Geschlecht, Ethnie, usw. eine bestimmte (geringe) Leistungsfähigkeit zugeschrieben bekommen, und nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden (wie in der Erzählung, dass Geflüchtete den weißen Arbeiter:innen ihre Jobs wegnehmen würden). Zudem würde Hausarbeit vergesellschaftet werden durch Waschküchen, Kantinen, usw., in denen bezahlte Arbeiter:innen sich um die Versorgung der Menschen kümmern. Mit dem Wegfall der unbezahlten Haus- und Sorgearbeit, die in jeder Familie separat anfällt und meistens hauptsächlich von Frauen oder queeren Menschen erledigt wird, wären diese weniger vereinzelt, hätten eine geringere Verantwortung und Arbeitslast, und hätten ebenso mehr Zeit, sich anderen Dingen zu widmen. Innerhalb des Kapitalismus können diese Veränderungen nicht erkämpft und Rassismus, Patriarchat, usw. nicht überwunden werden. Das kapitalistische System interessiert sich nicht dafür, wie es den Arbeiter:innen geht und ob sie ein erfülltes Leben haben, sondern vor allem dafür, wie die Profite maximiert werden können. Die Linkspartei, die Rosa-Luxemburg-Stiftung, Solid und SDS und auch feministische NGOs stellen durchaus feministische Forderungen auf, die unterstützenswert sind. Jedoch reicht es nicht aus, sie innerhalb des Kapitalismus umsetzen zu wollen, da wir, wie dargelegt, im bestehenden System das Patriarchat nicht wirklich schädigen und überwinden können.
Wir denken, dass die Arbeiter:innen diejenigen sind, die alle ausgebeuteten und unterdrückten Menschen im Kampf gegen Staat und Kapital anführen.
Die Arbeiter:innen sind diejenigen, die auf Grund der Rolle, die sie im Produktionsprozess einnehmen, die strategische Macht haben, die gesamte Wirtschaft lahmzulegen und zu schädigen. Schon ein kurzer Streik in den Logistikzentren, wie wir im Sommer am Hamburger Hafen gesehen haben, oder in der Automobilindustrie, führt zu massiven finanziellen Verlusten. Längere und flächendeckende Streiks in Schulen oder Kindergärten, würden, obwohl diese keinen direkten Profit für Kapitalist:innen produzieren, ebenso die Wirtschaft angreifen. Viele Eltern könnten nicht mehr arbeiten gehen, wodurch die Wirtschaft Verluste machen würde. Aus diesen Gründen kann es für uns keine revolutionäre feministische, antirassistische oder queere Bewegung geben, die nicht Teil der Arbeiter:innenbewegung ist.
Deshalb müssen auch feministische und antirassistische Forderungen Teil von gewerkschaftlichen Kämpfen sein. Genau das wird jedoch wohl wissend von der zwischen Kapital und Arbeit vermittelnden Gewerkschaftsbürokratie verhindert. Anstatt für weibliche, queere oder rassistisch diskriminierte Beschäftigte zu sprechen, lassen sie deren Interessen im Dienst des Kapitals unter den Tisch fallen. Wir denken deshalb, dass wir in den Gewerkschaften für echte demokratische Mitbestimmung kämpfen müssen. Dies geht nicht nur, indem wir uns selber gewerkschaftlich organisieren, sondern auch indem wir, z.B. bei Streikposten, mit anderen Kolleg:innen darüber diskutieren, welche Angebote von den Kapitalist:innen und der Gewerkschaftsführung gemacht werden, welche Forderungen von wem aufgestellt werden sollten, und wie wir die Art wie wir arbeiten und leben verbessern können. Wir müssen uns selbst organisieren und selber über unsere Streiks und Kämpfe entscheiden, anstatt stumpf Vorgaben vom gewerkschaftlichen Formalismus und Hauptamtlichen zu bekommen. So können wir auch bestimmen, bestimmen, für was wir kämpfen wollen. Zentraler Bestandteil davon muss sein, mit der Gewerkschaftsbürokratie und der von ihr diktierten Vorstellung zu brechen, dass gewerkschaftliche Kämpfe nur um mehr Lohn geführt werden können, sondern es ist zentral, feministische Forderungen in alle Kämpfe einfließen zu lassen und diese auch durchzusetzen.
Ebenso wenig wie auf die Gewerkschaftsbürokratie, können wir uns auf NGOs oder bürgerliche Parteien verlassen, um diese Kämpfe zu führen. Das Beispiel des DWE Volksentscheids zeigt, was mit Bewegungen passiert, die in das Parlament umgelenkt werden: das Mobilisierungspotential auf den Straßen schwindet, wenn man dem Narrativ glaubt, dass die Linkspartei (o.ä.) sich schon kümmern werden, während die Bewegung versandet und Volksentscheide oder Entscheidungen über Reformen die uns zu Gute kommen würden (wie z.B. auch beim Selbstbestimmungsgesetz zu sehen) verschleppt werden.
Wir brauchen deshalb eine Organisation, die sich komplett unabhängig vom bürgerlichen Staat aufbaut und die Arbeiter:innenklasse ins Zentrum stellt. Aber nicht als gesichtslose Masse ohne Ansehen von Geschlecht, Sexualität, Hautfarbe usw., sondern im Gegenteil als Klasse, die insbesondere in einem Land wie Deutschland multiethnisch ist und immer weiblicher und offen queerer wird. Sie muss eine antibürokratische Strömung in den Gewerkschaften bilden und im Kampf gegen Staat, Kapital und Gewerkschaftsbürokratie anführen. Sie muss diese Kämpfe in den Gewerkschaften mit den Kämpfen der feministischen Bewegung verbinden und aus der Kontrolle der NGOs lösen. Nur eine solche Kraft kann die bestehende Spaltung der Arbeiter:innenklasse überwinden. und sie im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung für den Sozialismus vereinen.
Debatten über einen revolutionären Bruch mit der Linkspartei und Solid
Zur Vorbereitung der Konferenz „15 Jahre Solid und Linkspartei – Welche Organisation für den Klassenkampf?“ am 14./15. Januar 2023 wurden von verschiedenen Organisationen und Einzelpersonen Debattenbeiträge geschrieben. Hier geht es zu allen Beiträgen.