Revolutionäre Strategie heute – eine Debatte zu Vivek Chibbers „Weg zur Macht“
In „Unser Weg zur Macht“ skizziert Vivek Chibber (Jacobin Magazine), wie linke Politik heute aussehen könnte. Er beginnt mit der Feststellung, dass die Linke sich von der Arbeiter*innenklasse distanziert hat. Im Anschluss erklärt er, warum es heute keine revolutionäre Strategie geben kann – wir widersprechen.
Pünktlich zum 1. Mai, dem internationalen Kampftag der Arbeiter*innenklasse, erscheint in der deutschsprachigen Ausgabe von Jacobin die Übersetzung von Chibbers Artikel „Our Road to Power“ („Unser Weg zu Macht“, im Englischen 2017 erschienen). Darin übernimmt er die Analyse von Perry Anderson über den westlichen Marxismus („Considerations on Western Marxismus“, 1976). Ausgangslage ist, dass sich die Linke infolge der gescheiterten Revolutionen von der Arbeiter*innenklasse als revolutionäres Subjekt verabschiedet hat.
Vivek Chibber selbst ist Professor für Soziologie an der New York University. Er hat sich vor allem als Kritiker des Postkolonialismus einen Namen gemacht. Darüber hinaus ist er Herausgeber der Theoriezeitschrift Catalyst, welche mit Jacobin verbunden ist, die in Deutschland letztens als Jacobin.de startete. Er kann somit als ihr Cheftheoretiker bezeichnet werden.
In „Unser Weg zur Macht“ räumt Chibber mit einem Mythos auf, dass die Bolschewiki durch einen Putsch an die Macht gekommen wären. Stattdessen hatte sie von allen Parteien die tiefsten, stärksten und festesten Verbindungen zur Arbeiter*innenklasse in den industriellen Zentren des Landes gehabt. Nur dadurch gelang es den Bolschewiki, die Macht zu erobern und zu halten. Dies nimmt Chibber zum Ausgangspunkt, um für eine Linke zu argumentieren, die tiefe, starke und feste Bindungen zu den Massen aufbaut, anstatt losgelöst von ihnen an Universitäten und in Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu arbeiten und zu agitieren. Dies führe nur zu „Lifestyle-Politik moralisch inspirierter Studierender und Fachleute“.
In der Frage der Strategie jedoch möchte Chibber sich kein Beispiel an den Bolschewiki nehmen, sondern an „Progressiven“ in der Demokratischen Partei der USA. Er verwirft die revolutionäre Strategie. Diese sei seiner Ansicht nach zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine ernsthafte Option gewesen, aber seit Anfang der 1950er Jahren kein gangbarer Weg mehr. Dabei leugnet er nicht, dass es auch damals viele Sozialist*innen gab, die eher einen schrittweisen, gradualistischen (reformistischen) Ansatz befürworteten. Aber er lässt offen, welchen Weg er damals für den richtigen gehalten hätte. Sein Argument ist lediglich dass Revolutionär*innen damals keinesfalls in einer Traumwelt lebten.
Revolution heute?
Vivek Chibber argumentiert, dass der Staat heute unendlich viel größere Legitimität besitzt als noch vor 100 Jahren. Für ihn ist es daher utopisch, daran zu denken, ihn gewaltsam durch eine Revolution zu stürzen. Die politische Stabilität des Staates sei eine Realität, die die heutige Linke anerkennen müsse. Dies gelte sowohl für die abhängigen und halbkolonialen Länder als auch für die imperialistischen Zentren, wenn auch für letztere in viel größerem Ausmaß.
Dabei vergisst der Vordenker des Jacobin Magazine, um beim Beispiel der Russischen Revolution zu bleiben, dass der Zarismus auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts über Legitimität verfügte. Nicht bloß in der Bauernschaft, sondern auch unter den Arbeiter*innen in den industriellen Zentren. Jede herrschende Klasse besitzt Hegemonie. Das ist keine Besonderheit der bürgerlichen Herrschaft in einem parlamentarischen System. In Russland war es erst das Massaker an der Lena, wo die zaristische Regierung dreihundert streikende Arbeiter*innen niederschoss, das zu einer großen Welle der Empörung unter den Massen führte. Heute, drei Jahre nach der Erstveröffentlichung von „Unser Weg zur Macht“ kurz nach der Amtseinführung Trumps, besteht die Legitimität des US-Präsidenten darin, sich in einem Bunker des Weißen Hauses vor der antirassistischen Bewegung zu verschanzen und für eine Ansprache vor einer Kirche wenige Meter entfernt mit Tränengas und Gummigeschossen die Straßen räumen zu müssen.
Wir können hier auch als Beispiel die Gelbwestenbewegung in Frankreich heranziehen, der letzte solche Aufruhr in einem imperialistischen Zentrum. Auch hier bekamen die Protestierenden die Polizeigewalt des französischen Staats direkt zu spüren. Schon mit der Bewegung gegen das neue Arbeitsgesetz unter der Regierung von François Hollande hatte die Arbeiter*innenbewegung in Frankreich die Gewalt der Staatsmacht zu spüren bekommen. Aber auch historisch: Der französische Absolutismus genoss bis zu seinem Sturz eine große Legitimität. Mit dem Argument, der Staat der herrschenden Klasse genieße Legitimität, könnte man an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt eine revolutionäre Perspektive leugnen.
Über den Staat
Die Frage nach der Strategie lässt sich nicht damit beantworten, wie stabil die Hegemonie der herrschenden Klasse zu einem gegebenen Zeitpunkt ist, sondern anhand der objektiven Gegebenheiten. Wir müssen hier über den bürgerlichen Staat reden. Chibber geht nämlich der Frage aus dem Weg, was der Staat überhaupt ist. Und der Staat ist eben nicht wie ein Fahrrad, auf das man sich einfach setzen und in eine beliebige Richtung fahren kann, sondern er ist ein Machtinstrument der herrschenden Klasse.
Chibber schlägt hingegen vor „eine Bewegung aufzubauen, die den Staat unter Druck setzt, Macht in ihm ausbildet, die institutionelle Struktur des Kapitalismus verändert und die strukturelle Macht des Kapitals untergräbt“, anstatt ihn revolutionär zu stürzen. Weil der Staat aber ein Machtinstrument der herrschenden Klasse zur Durchsetzung seiner Interessen darstellt, bedeutet dieses Vorhaben am Ende, die kapitalistischen Interessen zu vertreten.
So waren es eben jene Sozialist*innen der SPD, die einen schrittweisen, gradualistischen Ansatz befürworteten, die die revolutionären Aufstände in der Weimarer Republik niederschlugen. Heute sind es SPD und Linkspartei, die als Teil von Regierungen Wohnungsräumungen und Abschiebungen mit Polizeigewalt durchsetzen. Auch beim Streik der Vivantes Service Gesellschaft (VSG), einem Tochterunternehmen der landeseigenen Klinikgesellschaft Vivantes, 2018 waren die Streikenden durchaus bereit, ihren Streikposten gegen die von SPD und Linkspartei gerufene Polizei zu verteidigen, den die Klinikleitung räumen lassen wollte. Auf Deutschland übersetzt bedeutet „Unser Weg zur Macht“ schließlich nichts anderes als eine komplizierte Formulierung für die Arbeit in der Linkspartei. Diese ist seit Jahren in Thüringen und Berlin an der „Macht“, das heißt sie leitet die Regierungsgeschäfte dort für das Kapital, das tatsächlich an der Macht ist, und Chibbers Projekt lässt sich nach der Bilanz dieser arbeiter*innenfeindlichen Regierungen der Privatisierungen, des Outsourcings und der Polizeigewalt ganz gut bewerten.
Chibber schlägt vor, die sozialdemokratischen Versuche zur Verwendung des Staats zu untersuchen, „insbesondere in ihren ehrgeizigeren Spielarten“. Die letzten Erfahrungen dieser „ehrgeizigen Spielarten“ Versuche waren wohl nicht Thüringen und Berlin, sondern Syriza (Griechenland) und Podemos (Spanischer Staat). Am Ende unterwarf sich Syriza in Griechenland dem Spardiktat der Troika. Der Vorsitzenden von Podemos im Spanischen Staat – und inzwischen Vizepräsident dieses Staats –, Pablo Iglesias, sagte auf die Frage, ob die griechische Syriza-Koalition „harte“ Maßnahmen gegen die Troika hätte ergreifen sollen, anstatt schließlich die Kürzungsmaßnahmen vorzunehmen:
Das Problem ist, dass noch bewiesen werden muss, ob jemand innerhalb eines Staats eine solche Herausforderung annehmen kann […] Wenn man aus der Regierung heraus eine harte Sache machen will, hat man plötzlich einen guten Teil der Armee, des Polizeiapparates, aller Medien und alles gegen sich, absolut alles. Und in einem parlamentarischen System die absolute Mehrheit sicherstellen, ist sehr schwierig […] Zunächst hätte man sich mit der Sozialistischen Partei einigen müssen.
Darüber hinaus spricht Chibber über das Rhen-Meidner-Modell der schwedischen Sozialdemokratie in den 1970er Jahren. Dieser entstand auf der Grundlage der massiven Vernichtung der Produktivkräfte durch den Zweiten Weltkrieg und den anschließenden wirtschaftlichen Aufschwungs in der Nachkriegszeit. Hier waren mehr Zugeständnisse möglich. Gleichzeitig setzte die Sowjetunion im Osten die Kapitalist*innen unter Druck. Natürlich kamen die Zugeständnisse nicht freiwillig, aber die Gegenwehr war doch viel niedriger als heute. Die Bourgeoisie konnte es sich schlicht erlauben Zugeständnisse zu machen. Der Plan scheiterte, weil mit der bürgerlichen Restauration die Spielräume für Zugeständnisse enger wurden. Dadurch wurde auch die schwedische Sozialdemokratie zunehmend konservativer.
Über die Schwierigkeiten des Russischen Revolution
Am Ende seines Artikels geht Chibber auch auf die politischen und wirtschaftlichen Probleme der jungen Sowjetunion ein. Er argumentiert, dass Freiheitsrechte allesamt von der Arbeiter*innenklasse erkämpft wurden, nicht von der liberalen Bourgeoisie. Deswegen müsse sich die Linke diese Rechte schützen und vertiefen. Aber auch diese Rechte wurden nicht ohne Leid erkämpft. Die bürgerlichen Revolutionen waren sehr gewaltsame Prozesse, auch wenn sie sich, wie die französische Revolution, Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit auf die Fahnen schrieben.
Die Russische Revolution 1917 hatte mit der wirtschaftlichen Rückschrittlichkeit und der heftigen Konterrevolution zu kämpfen, besonders in einem Land, in dem nur eine Minderheit der Bevölkerung der Arbeiter*innenklasse angehörte und den das Kleinbauerntum den Großteil der Bevölkerung ausmachte. Trotzdem gelang es den Arbeiter*innenräten gegenüber den bäuerlichen Schichten, eine Hegemonie zu erlangen, durch die Beendigung des Krieges und eine Landreform. Das Land der Großbauern wurde an die Kleinbauern*bäuerinnen umverteilt als diese von der Front zurückkehrten.
Dies wurde erreicht durch den Frieden mit dem Deutschen Kaiserreich. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk war aber besonders unter den Linken Sozialrevolutionären umstritten. Sie verließen die gemeinsame Räteregierung mit den Bolschewiki. So verblieben die Bolschewiki als einzige Regierungspartei. Mit Terrorakten versuchten die Linken Sozialrevolutionäre, den Frieden mit dem deutschen Kaiserreich zu sabotieren. Um den Friedensvertrag und die Revolution zu schützen, mussten die Bolschewiki sich verteidigen.
Die ganze Russische Revolution fand aber nur unter der Perspektive statt, dass sich auch in anderen Ländern das Proletariat gegen den Krieg erheben und die Macht an sich reißen würde. Dies geschah 1918 in Deutschland. Die Revolution wurde aber genau von denjenigen sabotiert, die einen „gradualistischen“ Ansatz verfolgten. Sie stellten sich gegen die Revolution. Statt einer Räterepublik nach russischem Vorbild strebten sie eine bürgerliche Republik an. Revolutionäre Aufstände wurden von der SPD mithilfe paramilitärischer Freikorps niedergeschlagen. Diese ermordeten im Januar 1919 Karl Liebknecht und Rose Luxemburg.
Da die Revolution in Deutschland scheiterte, blieb die Russische Revolution isoliert. Daraus ergaben sich auch die wirtschaftlichen Probleme. Chibber sagt:
Alle Versuche, eine geplante Wirtschaft über längere Zeit aufrechtzuerhalten, waren von Misserfolg gekrönt. Die russische Erfahrung ist dafür das beste Beispiel. Und die Tatsache dieses Scheiterns muss eingestanden und nicht umgangen werden. Es reicht nicht, sich darauf zurückzuziehen, dass ‚das nicht zählt, weil das nicht wirklich Sozialismus war‘, wie einige es gern formulieren.
Das stimmt, man müsste auch erst überhaupt einmal sagen, was Sozialismus überhaupt sein soll. Eine sozialistische Planwirtschaft, wie sie Marx und Engels formulierten, kann nur auf dem Boden einer weltweiten Revolution gelingen, weil die Produktion international organisiert ist. Darum muss sie international vergesellschaftet werden. Die Revolution in einem einzelnen Land kann nur ein Schützengraben der Weltrevolution werden.
Mit dem Scheitern der deutschen Revolution hob in Russland jedoch eine ganz andere Schicht ihr Haupt. Die Sowjetbürokratie begann den Marxismus zu revidieren. Sie stellte der Weltrevolution die Konzeption vom „Sozialismus in einem Land“ entgegen. Der Russische Revolutionär Leon Trotzki stellte sich am entschiedensten diesem Revisionismus entgegen.
Chibber hingegen nimmt die wirtschaftlichen Probleme in der Sowjetunion zum Anlass, um über eine Art „Marktsozialismus“ nachzudenken. Um aber den Menschen über den Profit zu stellen, muss der Profit abgeschafft werden. Damit die Wirtschaft wirklich dem Menschen dient und nicht der Mensch der Wirtschaft (also den Bossen), muss die Bourgeoisie enteignet und die Produktion vergesellschaftet werden, um sie am Ende in eine Planwirtschaft zu überführen. Nur dadurch kann der Mensch wirklich zum Herr über die Produktion werden. Die Willkür des Marktes muss abgeschafft werden. Chibber aber will die Willkür des Marktes begrenzen, so wie er „den Staat unter Druck setzen“ und die Macht des Kapitals begrenzen möchte.
Das läuft auf eine Strategie der Ermattung hinaus, die der Entscheidungsschlacht ausweicht und keine Stellungen für sie aufbaut. Statt den Gegner niederzuwerfen, ihm seinen Willen aufzuzwingen, versucht man ihn mürbe zu machen. Das zieht sich wie ein roter Faden durch Chibbers „Unser Weg zur Macht“. Dabei war das die ganze Ursache für das Scheitern der Sozialdemokratie, auch in ihrer ehrgeizigen Form. Wenn man gar nicht vorhat, einen offenen Kampf gegen das Kapital zu führen, findet man sich am Ende in der Rolle eines Vermittlers wieder: in der Demokratischen Partei der USA, in Syriza, Podemos oder eben der Linkspartei.