Reproduktion und Kapitalismus: Was wäre Gorillas ohne CEO?

31.07.2021, Lesezeit 9 Min.
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Quelle: Ringo Chiu / Shutterstock.com

Wie sich die Kämpfe der Plattform-Beschäftigten mit einer Perspektive der Vergesellschaftung von Reproduktionsarbeit verbinden lassen.

Unter Reproduktionsarbeit verstehen wir alle Tätigkeiten, die zur (Wieder-)Herstellung der Arbeitskraft notwendig sind. Zu den klassischen Formen der Reproduktionsarbeit zählen Einkauf, Haushalt, Kindererziehung und Kochen, die meist familiär organisiert sind, unbezahlt und überwiegend von Frauen erledigt werden. Wer es sich leisten kann, kann vieles davon heute per App als Dienstleistung bestellen: Gorillas liefert in zehn Minuten Supermarktwaren, mit Helpling findet sich eine Haushaltshilfe, mit Pfle­gix eine Pflegekraft. Amazon ersetzt den Gang ins Kaufhaus und das Essen bringt Lieferando. Dabei wird gleichzeitig auch die Zeitnot und der Arbeitsstress der Kund:innen genutzt, die teils gezwungenermaßen auf diese Angebote ausweichen.

In diesem Beitrag werden wir anhand des Beispiels Gorillas aufzeigen, welche Konsequenzen es hat, wenn Plattformen solche Dienste marktförmig organisieren. Denn unter kapitalistischen Bedingungen der Profitmaximierung gehen diese Plattformen einher mit der Prekarisierung der Arbeiter:innen und der Fortsetzung patriarchaler und rassistischer Strukturen. Gegen diese Praktiken regt sich nun Widerstand: Die Arbeiter:innen von Gorillas wehren sich derzeit mit Streiks und Kampagnen. Wir diskutieren, wie sich ihre Kämpfe mit einer sozialistischen Perspektive nach Vergesellschaftung von Produktions- und Reproduktionsarbeit verbinden lassen.

Gorillas löst das Problem der Reproduktion nicht, sondern vertieft nur die Prekarität

Im „Manifest“ des Unternehmens Gorillas behauptet der CEO des Lieferdienst-Startups, Kağan Sümer: „Gorillas existiert, um dir sofortigen Zugang zu deinen Bedürfnissen zu ermöglichen. Wir sind keine Geschäftsleute, die einen Lieferservice aufbauen – wir sind Lieferleute, die ein Geschäft aufbauen.“ Er verspricht also ein Geschäftsmodell, das es sich zum Ziel setzt, die Reproduktionsarbeit jedes:jeder Einzelnen zu erleichtern. Das ist schon deshalb falsch, weil es sich nicht alle leisten können, sich auf diese Weise ihren Supermarkt-Einkauf liefern zu lassen. Dazu kommt, dass die Dienstleistungen des Unternehmens auf die Kosten der Arbeiter:innen gehen, die den Einkauf dann liefern. Sie sind schlecht bezahlt und unter prekären Bedingungen beschäftigt; die Rider berichten zu allem Überfluss regelmäßig von überfälligen Lohnzahlungen. Entgegen des Versprechens von Sümer dient diese marktförmige Auslagerung der Reproduktionsarbeit nicht der Befriedigung von Bedürfnissen, sondern lediglich den Profitinteressen der Eigentümer:innen des Unternehmens.

Das Unternehmen Gorillas hat auf Grundlage dieser extrem prekären Arbeitsbedingungen Millionen-Umsatz gemacht. Schlecht ausgerüstete Arbeiter:innen beliefern auf Knopfdruck Privathaushalte mit Lebensmitteln. Das Versprechen des Unternehmens an Kund:innen, jede Bestellung innerhalb von zehn Minuten zu erhalten, führt zu einem gefährlichen Zeitdruck für die Arbeiter:innen. Hinzu kommen weitere Praktiken des Unternehmens wie der Lohnausfall bei krankheitsbedingter Abwesenheit und unzureichender Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Das Management des Unternehmens stützt sich zudem auf ein rassistisches Arbeitsvisa-Recht. So ist die Arbeitserlaubnis vieler der Arbeiter:innen an sogenannte „Working Holiday Visas“ gekoppelt, die auf wenige Monate befristet sind. Gorillas macht sich diese Beschränkung zunutze, denn die Fristen der Visa überschneiden sich mit der von dem Unternehmen festgelegten Probezeit von sechs Monaten. Eine Kündigung nach dieser Zeit ist damit problemlos möglich.

Auffällig ist, wie sehr sich das Unternehmen bemüht, diese prekären Verhältnisse der Arbeiter:innen für die Kund:innen unsichtbar zu machen. Geworben wird mit Versprechen der Nachhaltigkeit, des Teamgeistes und der Diversität innerhalb der „Fahrradfahrer-Crew“. Auf der unternehmenseigenen Homepage sind demnach Sprüche zu finden wie: „Wir sind Fahrradfahrer mit Leib und Seele – die Liebe zum Fahrrad ist ein (sic) Bedingung in unserem gesamten Unternehmen“. Den Kund:innen, so scheint es, soll damit das schlechte Gewissen genommen werden, wenn sie die Angebote des Unternehmens in Anspruch nehmen. Kein Wunder, erinnern die Arbeitsbedingungen der Fahrer:innen doch an die von Tagelöhner:innen im 19. und 20. Jahrhundert, zum Beispiel bei der Hafenarbeit. Es ist den meisten Menschen unangenehm, Dienstbot:innen zu haben. Deshalb soll die Lieferung ökologisch nachhaltig mit dem Fahrrad stattfinden, die Fahrer:innen sollen hip sein und den Anschein erwecken, sie würden den Job eigentlich vor allem deshalb machen, weil sie so gerne Fahrrad fahren.

In einigen Städten bildet sich nun Widerstand gegen diese Bedingungen: Einige Arbeiter:innen des Unternehmens sind seit Februar mehrfach in den Streik getreten. Ihre Forderungen nach besseren Löhnen, besserer Ausrüstung, pünktlicher Bezahlung und sicheren Arbeitsverträgen drücken dabei die Notwendigkeit eines Kampfes für einen ganzen prekären Sektor aus. Denn die Forderungen und Streiks der Arbeiter:innen resultieren aus den prekären Beschäftigungsbedingungen, die mit einem Unternehmen unter kapitalistischer Kontrolle einhergehen – besonders wenn dieses wie Gorillas als Startup mit viel Spekulationskapital schnell einen neuen Markt erschließen soll. Immer wieder sind die Arbeiter:innen von Gorillas deshalb in einen „wilden“ Streik getreten, das heißt einen Streik, der nicht von einer rechtlich anerkannten Gewerkschaft ausgerufen wurde. Die Forderungen an die Gewerkschaften, den Streik zu legalisieren, bleiben aktuell. Die Einrichtung einer Streikkasse, wie von den Gorillas-Arbeiter:innen in Berlin begonnen, ist eine wichtige Lehre für die Selbstorganisierung und Ausweitung von Kämpfen sowie die Organisierung einer breiten Solidarität über den prekären Betrieb hinaus. Denn die Arbeiter:innen können so die Kraft sammeln, über spontane Aktionen hinauszugehen. Sie werden unabhängig von den Geldern der großen Gewerkschaftsapparate und können offensiver Forderungen an diese stellen. Und sie können mit der Streikkasse auch eine politische Kampagne an alle anderen Sektoren der Arbeiter:innenklasse und der Jugend richten.

Von Saragossa nach Berlin: Essen ausfahren fürs Gemeinwohl statt den CEO?

Auf der Homepage von Gorillas, das sich bisher weigert, die Forderungen des Streiks zu erfüllen, werden den Arbeiter:innen Versprechungen gemacht, Teil eines tollen Teams sein zu können: „Du liebst es Fahrrad zu fahren? Dann werde noch heute Teil der Gemeinschaft und partizipiere an unserem Erfolg!“ Tatsächlich arbeiten sie, solange das Unternehmen nicht unter ihrer eigenen Kontrolle ist, nur für den Profit von CEO und Investor:innen. Doch was, wenn es keinen CEO und keine Investor:innen mehr geben, sondern Gorillas der Allgemeinheit unter Kontrolle der Arbeiter:innen gehören würde?

Es gibt ein Beispiel eines Arbeitskampfes während der Coronakrise, das Gorillas ähnlich ist und einen Weg zeigen kann: In Saragossa (Spanischer Staat) streikten die Arbeiter:innen des Lieferdienstes Telepizza zunächst für Arbeitssicherheit während der Pandemie. Kolleg:innen, die sich weigerten ohne angemessenen Gesundheitsschutz zu arbeiten, hatten zuvor Abmahnungen erhalten. Im Zuge ihres Streiks griffen die Telepizza-Beschäftigten Forderungen von Eltern auf, deren Kinder im Rahmen öffentlicher Schulspeisungen nur mit Junk Food ernährt wurden. Anschließend an eine Kampagne für die gesunde Ernährung von 11.500 Kindern forderten die Telepizza-Arbeiter:innen, die Produktion von Telepizza unter ihrer Kontrolle auf gesunde Ernährung für Schulkinder umzustellen.

Dabei beließen es die Beschäftigten von Telepizza nicht. Sie haben mit anderen begonnen, ein Netzwerk prekärer Arbeiter:innen und Jugendlicher aufzubauen. Denn nur gemeinsam kann die Gesamtheit ihrer Forderungen erkämpft werden. Und nur gemeinsam können sie sich gegen ein Hindernis organisieren, das ihnen immer wieder im Weg ist: Die Gewerkschaftsbürokratie, das heißt die Apparate der Gewerkschaften, die politisch mit den Parteien des Regimes verbunden sind.

Das Beispiel von Telepizza Saragossa zeigt, dass es möglich ist, die Tagesforderungen eines Streiks gegen schlechte Arbeitsbedingungen mit den allgemeinen Bedürfnissen der Bevölkerung zu verbinden. Damit gewinnt der Streik nicht nur Verbündete und Autorität, er zeigt auch einen über den einzelnen Arbeitskampf hinaus weisenden Weg für die Arbeiter:innenklasse und die arme Bevölkerung insgesamt.

Die Arbeitskämpfe von Telepizza und Gorillas machen deutlich: Die Kontrolle und das Eigentum an den Produktionsmitteln darf nicht in privater Hand von CEOs und Investor:innen sein, sondern muss vergesellschaftet werden unter Kontrolle der Arbeiter:innen, um der Allgemeinheit zu dienen. Die Arbeiter:innen müssen nicht stehen bleiben bei einem Betrieb, sondern können mit ihren Kämpfen im Rücken andere Arbeiter:innen anführen. Dabei kann die kapitalistische Kontrolle über die Produktion insgesamt aufgehoben und die notwendige Reproduktionsarbeit vergesellschaftet werden, und das unter den Bedingungen der Arbeiter:innen selbst. Gerade die Kämpfe im Bereich der Reproduktion zeigen: Hier geht es nicht um Waren, die nichts mit unserem alltäglichen Leben zu tun haben. Sondern um die Tätigkeiten und Dinge, die wir alle brauchen, um zu überleben und um ein gutes Leben zu führen. Die Arbeiter:innen machen sichtbar, dass wenn wir selber über diese Bereiche entscheiden, endlich unsere Bedürfnisse im Zentrum stehen statt der Profite.

Wagen wir mit dem Beispiel von Saragossa vor Augen einmal einen Gedanken: Mit einer Milliarde Euro Spekulationskapital, das in Gorillas gesteckt wurde, wurde eine Infrastruktur geschaffen, damit Arbeiter:innen auf Fahrrädern Lebensmittel an Leute liefern, die sich das leisten können. Was wäre, wenn die bestehenden Lieferinfrastrukturen für die sinnvolle Lieferung von Hygieneprodukten und Nahrungsmitteln an die allgemeine Bevölkerung und besonders alte und bedürftige Menschen genutzt würde? Wenn die Rider keine Gewinne für einen nichtstuenden CEO reinfahren müssten, sondern ihre Arbeit zu selbst bestimmten Bedingungen der Allgemeinheit diente? Damit würde zum einen das Problem der heute prekären Arbeiter:innen gelöst, deren schlechten Arbeitsbedingungen aus dem Profitzwang des Unternehmens kommen. Zum anderen würde eine Verstaatlichung von Plattform-Unternehmen wie Gorillas unter Arbeiter:innenkontrolle den Weg zeigen, die Probleme der Reproduktion insgesamt zu lösen.

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