„Remigration“ beginnt nicht erst mit der AfD
Hunderttausende demonstrieren gegen Rechts, aber ignorieren oft die reche Politik der Ampel und stellen sich gegen Palästinasolidarität. Wie sind die aktuellen Proteste zu bewerten? Ein kurzer Kommentar.
In den vergangenen Tagen sind insgesamt anderthalb Millionen Menschen in Deutschland auf die Straße gegangen, um gegen die AfD und den Rechtsruck zu demonstrieren. Anlass waren Enthüllungen über Treffen der AfD mit anderen Rechtsextremen, in denen „Remigrationspläne“ geschmiedet wurden. Im Folgenden teile ich meine Gedanken vom letzten Sonntag zu den Protesten.
Es ist ein schmaler Grat zwischen Freude über Hunderttausende Menschen gegen Rechts auf der einen Seite, aber auch Unmut über das Unverständnis vom Rechtsruck der Ampelregierung.
Natürlich ist es gut, wie nach dem „Geheimplan“ der AfD in Berlin am Sonntag 350.000 Menschen an einer Demonstration gegen die AfD teilgenommen haben. Auch in anderen Städten nahmen Hunderttausende teil – bundesweit waren insgesamt über 1,5 Millionen Menschen auf den Straßen.
Aber die Illusion, dass nur die AfD „Remigrationspläne“ schmiedet und dass nur die AfD den Rechtsruck bedient, ist super gefährlich und fatal. Denn die Wahrheit ist – sie alle, also alle Regierungsparteien und auch DIE LINKE, nähren den Rechtsruck, der gerade stattfindet.
Zum Rechtsruck gehören die Zehntausenden Abschiebungen jedes Jahr durch die Koalition von SPD, GRÜNEN und FDP auf Bundesebene, aber auch durch die Mitwirkung der CDU/CSU und der Linkspartei auf Landesebene. Berlin hatte in Relation als Stadtstaat beispielsweise trotz rot-rot-grüner Regierung aus SPD, LINKE und GRÜNE die höchsten Abschiebezahlen in ganz Deutschland.
Vor ein paar Tagen wurde auch die Rückführungsoffensive erleichtert mit einem verschärften Abschiebegesetz, das Deportationen nun einfacher und schneller geschehen lässt. Dieses Gesetz wurde nicht von der AfD initiiert, sondern von der Ampelregierung.
Christian Lindner steht auf einem Podest vor einer versammelten Bäuer:innendemonstration und gibt alle Schuld den Migrant:innen und den Erwerbslosen. Olaf Scholz spricht davon, „in großem Stil“ abzuschieben und lässt seinen Worten auch direkt Taten folgen.
Ja, einige Sachen wären unter Umständen schlimmer, wenn die AfD die Regierung stellen würde. Stärkere Verfolgung von linken Organisationen und Aktivist:innen, schnellere und einfachere Aushebelung von Grundrechten für Migrant:innen oder noch mehr Befugnisse für die Polizei.
Aber sich nur gegen die AfD zu stellen, impliziert, dass es gerade „nicht so schlimm sei“. Dass gerade gar nicht so viel abgeschoben würde, dass gerade nicht so viel Polizeigewalt herrsche, dass gerade nicht Grundrechte für Migrant:innen ausgehebelt werden und ihnen wegen Dingen wie Palästinasolidarität literally Staatsangehörigkeiten verwehrt und künftig eventuell sogar abgenommen werden sollen.
Auch gab es immer wieder Angriffe gegen pro-palästinensische Gruppen auf jenen Demos. Das Verständnis von „israelbezogenem Antisemitismus“ unter den Demonstrierenden wird auch parteiübergreifend indoktriniert. Die Kriminalisierung der Palästinasolidarität durch die Regierung und die deutsche Staatsräson tragen auch hier ihre Früchte.
Und diese Regierung geht weit über diese rassistische Politik hinaus. Berlin ist ein Vorzeigebeispiel: Hier wird überall gespart, wo es nur geht, damit mehr Geld für die Polizei und das Militär übrig bleibt.
Denn aktuell gibt es sehr viel Protest. Zum Beispiel für Palästina, der gerade am stärksten kriminalisiert wird, aber auch Proteste gegen die türkische Militäroffensive, Proteste, um auf die Zustände in Kongo, Sudan und Jemen aufmerksam zu machen, auch Proteste in Solidarität mit der argentinischen Bevölkerung, die gerade einen ultrarechten Präsidenten an der Backe haben, finden gerade statt – nicht nur in Deutschland. Und überall werden sie mit derselben Härte oder gar noch härter niedergeschlagen. Denn all diese Proteste sind potentiell ein Dorn im Auge der deutschen Regierung, denn sie alle adressieren die Taten und Mitwirkungen Deutschlands. Ihren Imperialismus, ihre Waffenexporte an die Armeen der Unterdrücker und vieles mehr.
Die jetzige Regierung sieht in uns eine Gefahr. Und dieser Gefahr entgegnet sie jetzt schon mit noch mehr Polizei, noch mehr Befugnissen für diese (Tasereinsätze, längere Präventivhaft, etc.) und noch mehr Geld für das Militär, um ihre Interventionen zu erweitern und sich „kriegstüchtig“ zu machen. All das nicht, um die „Sicherheit“ im Land zu stärken, sondern um uns zu bekämpfen, damit wir keine flächendeckende Aufstände auf die Beine stellen können, damit wir nicht protestieren können.
Um ein konkretes Beispiel zu nennen: 350.000 Menschen waren am Sonntag in Berlin auf der Demo – etwa doppelt so viele Menschen sind 2022 obdachlos gewesen in Deutschland. Menschen sind obdachlos, weil es nicht genügend bezahlbare Wohnungen gibt, weil nicht genügend Sozialwohnungen gebaut werden, weil nicht genügend Geld in Angebote und Unterkünfte für Obdachlose investiert wird. Stattdessen gibt es Zehntausende leerstehende Wohnungen von Privatunternehmen, die auf hohe Mieten spekulieren.
100 Milliarden Euro Sondervermögen wurden im selben Jahr in das deutsche Militär gesteckt. 100 Milliarden. Damit hätte man 400.000 Wohnungen (jeweils 50 Quadratmeter) bauen können. Damit wäre mehr als die Hälfte des Wohnungsdefizits 2022 (700.000 fehlende Wohnungen) gelöst gewesen.
Was hat das alles mit dem Rechtsruck zu tun?
Die Menschen sind nicht dumm: Sie alle sehen diese Zahlen immer öfter. Sie merken es bei der Wohnungssuche. Sie sehen jeden Tag Obdachlose auf den Straßen in jeder Stadt Deutschlands.
Und die Regierung nutzt das aus und sagt: Das ist alles die Schuld von Migrant:innen und Geflüchteten. Die nehmen alle Wohnungen weg. Die nehmen euch die Arbeit weg. Oder die gehen gar nicht arbeiten. Wir müssen so viel Geld für die bezahlen, deswegen bleibt nichts für euch.
Und das, liebe Leute, ist der eigentliche Rechtsruck. Die AfD hat auch deshalb „aus dem Nichts“ angefangen, plötzlich so viele Stimmen zu bekommen. Thema Wohnung ist nur eins von vielen Themen, die von der Regierung ausgenutzt wurden, um die Ursachen der Probleme von sich wegzulenken.
Für die AfD ist diese „Vorarbeit“ der Regierung gefundenes Fressen, um Stimmen zu fangen. Sie propagieren nämlich dasselbe, aber sagen beispielsweise auch , dass die Regierung schuld daran sei, weil sie ja so viele Geflüchtete aufgenommen habe.
Die Proteste heute sehe ich zusammengefasst so: Ein Auge lacht vor Freude, ein Auge weint vor Unmut.
Wir machen es uns zu einfach, wenn wir denken, die AfD ist das größte Problem. Wir machen es uns auch zu einfach, wenn wir denken, nur Nazis und Rechtsextreme würden die AfD wählen. Die AfD macht klar und deutlich rechte und rassistische Politik – die Ampel macht es aber ebenso und sie wird immer deutlicher dabei.
Wer also gegen die AfD protestiert, muss auch gegen die CDU/CSU und die Ampelparteien protestieren. Und wer gegen rechts protestiert, muss auch klar die Angriffe auf pro-palästinensische Aktivist:innen ablehnen, die auf diesen Demos passieren. Man kann nicht gegen rechts in Deutschland sein, aber rechts gut finden, wenn es um Israel geht.