Rekord bei der Wahlenthaltung – steht Macron vor einer explosiven zweiten Amtszeit?

25.04.2022, Lesezeit 5 Min.
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Foto: Victor Joly, shutterstock.com

Mit 58,4 Prozent der Stimmen und einem Rekord an Enthaltungen besiegte Macron Le Pen, wurde aber zum Präsident mit den wenigsten Stimmen jemals. Da er trotz seiner mangelnden Legitimität versucht, sein Programm sozialer Angriffe durchzusetzen, und da sich die extreme Rechte konsolidiert, ist es dringend notwendig, den Widerstand gegen beide Lager auf der Straße zu organisieren.

Ein Pyrrhussieg

Mit 58,4 Prozent der abgegebenen Stimmen wurde Emmanuel Macron am Sonntagabend als Präsident Frankreichs wiedergewählt. Er besiegte Marine Le Pen, die 41,6 Prozent der Stimmen erhielt. Hinter diesem Sieg verbirgt sich die höchste Wahlenthaltung bei einer zweiten Runde der Präsidentschaftswahl seit 1969.

Diesmal lag die Enthaltung bei 28,2 Prozent, gegenüber 25,3 Prozent im Jahr 2017, als sich Macron und Le Pen ebenfalls gegenüberstanden. Hinzu kamen 6,4 Prozent leere und ungültige Stimmzettel. Genug, um Emmanuel Macron zum Präsidenten mit dem historisch geringsten Anteil an Stimmen der Fünften Republik zu machen.

Diese Ergebnisse stellen ein Legitimationsdefizit dar, dem sich der neu gewählte Präsident durchaus bewusst ist. Aus diesem Grund wiederholen Kommentator:innen und enge Vertraute von Emmanuel Macron in allen Medien, dass es ein „großer Sieg“ sei. Er sei der erste Präsident der Fünften Republik, der wiedergewählt wird, ohne dass eine ihm politisch gegenübergestellte Regierung im Parlament den Premierminister stellt (sogenannte Kohabitation). Letzteres geschah in Frankreich schon häufiger: Bei der Wiederwahl des sozialdemokratischen Präsidenten Mitterrand 1986 war der konservative Chirac Premierminister. Und bei der Wahl Jospins von der Parti Socialiste 1997 als Premierminister war Chirac Präsident. In den Medien wird Macrons Wahlsieg in diesem Sinne als Triumph dargestellt. Doch das kann die Realität seines schlechten Ergebnisses nur notdürftig übertünchen.

Trotz des Drucks vor allem eine Stimme gegen die radikale Rechte abzugeben, der sich zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang noch verstärkt hat, und trotz der Aufrufe politischer und gewerkschaftlicher Organisationen, für Macron zu stimmen oder nicht für Le Pen zu stimmen, markiert dieses Ergebnis die tiefe Krise des Diskurses vom “kleineren Übel” und der „Verteidigung der Republik“. Dieser ermöglichte Marine Le Pen, ein historisches Ergebnis zu erzielen, indem sie aus der Ablehnung der Politik von Emmanuel Macron Kapital schlägt und in einigen Regionen und Überseegebieten besonders viele Stimmen erhält.

Macrons Herausforderung: Regieren mit schwacher Basis

Die Herausforderung für Macron wird also darin bestehen, das Land mit einer schwachen sozialen Basis zu regieren und seine Angriffe auf sozialen Errungenschaften fortzuführen.
Obwohl er in seiner Rede am Sonntagabend den Stimmenzuwachs zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang hervorhob, hat er in Wahrheit nur knapp 10 Millionen Stimmen von 49.000.000 registrierten Wählern erhalten. Kurz gesagt: 80 Prozent der Bevölkerung haben ihn nicht gewählt.

„Was mir neben den Ergebnissen vom Sonntag vor allem Sorgen bereitet, sind die nächsten fünf Jahre“, erklärte ein Minister vor einigen Tagen laut der Website Mediapart: „Macrons zweite Amtszeit wird anders sein als seine erste. Er wird in der Politik genauso aktiv sein müssen wie in der Wirtschaft (…) wir müssen die Debatte innerhalb der Politik wieder aufnehmen, um zu verhindern, dass der Kampf auf der Straße stattfindet“, sagte Chiracs ehemaliger Premierminister Jean-Pierre Raffarin.

Mit Maßnahmen wie dem Angriff auf die Renten, der Arbeitspflicht für Sozialhilfeempfänger, der Verdoppelung der Polizeikräfte auf den Straßen oder der Fortsetzung der islamfeindlichen Offensive werden die nächsten fünf Jahre explosiv sein. Und die radikale Linke muss sich darauf vorbereiten.

Angesichts der Angriffe Macrons und seiner Rentenreform muss sich Widerstand formieren

Im Sinne dieser Angriffe versucht Macron, seine Methoden zu erneuern, um seine allgemeine Offensive gegen soziale Errungenschaften fortzusetzen. Deshalb hat er zwischen der ersten und zweiten Runde unter anderem eine große Konferenz versprochen, auf der Sozial- und Rentenfragen diskutiert werden sollen. Die Gewerkschaftsführer:innen haben mehrfach positive Signale in diese Richtung gegeben – doch es wäre eigentlich wichtig, diese vergifteten Angebote des „sozialen Dialogs“ abzulehnen. Statt einer Rückkehr an den Verhandlungstisch ist ein Kampfplan erforderlich, der dem Ansturm der künftigen Regierung gewachsen ist.

Die Mitte-Links-Formation von Jean-Luc Mélenchon, L’Union Populaire, betonte ihrerseits, dass es darauf ankomme, an den „dritten Wahlgang“ zu denken, womit er die Parlamentswahlen am 12. Juni meint. Melenchon, der den Kampf gegen die „Präsidialmonarchie“ und den Kampf für das Ende der Fünften Republik und den Aufbau einer Sechsten Republik zu einem seiner Schlachtrösser gemacht hatte, scheint erneut entdeckt zu haben, dass der Premierminister der derzeitigen Fünften Republik letztlich alle Macht innehat. Dies mit einem Fokus auf Wahlen überwinden zu wollen und sich ausschließlich auf dem Terrain der staatlichen Institutionen zu bewegen, ist angesichts der kommenden Angriffe eine Sackgasse.

Da die zukünftigen großen Schlachten des Klassenkampfes unvermeidlich sind, ist es dringend notwendig, die Arbeiter:innenklasse mit einem Programm und einer entsprechenden Strategie auszustatten und eine einen „dritten Wahlgang“ auf der Straße durch Mobilisierungen vorzubereiten. In den letzten fünf Jahren war es die Straße und nicht etwa ein oppositioneller Premierminister, der Macron zurückgedrängt und seine Regierung erschüttert hat. In diesem Sinne ist es dringend notwendig, an der Bildung eines Widerstandsblocks zu arbeiten, der in der Lage ist, sich dem Macrons Neoliberalismus frontal entgegenzustellen und eine Antwort darauf mit Streiks und Demonstrationen vorzubereiten.

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