Refugees welcome?!
// JUSTIZ: „Refugees welcome“ – mit diesem Slogan setzt die Bundesregierung momentan auf eine angebliche Offenheit für Geflüchtete. Doch das gilt offenbar vor allem dann nicht, wenn Refugees aus der BittstellerInnen-Haltung austreten und gemeinsam mit solidarischen AktivistInnen selbst politische Forderungen aufstellen. Besonders im letzten Jahr wurden Proteste von Refugees und UnterstützerInnen deshalb immer wieder kriminalisiert. Am vergangenen Freitag wurde eine Anklage gegen einen Aktivisten vor dem Landgericht Berlin verhandelt. Ihm wird vorgeworfen, im letzten Jahr bei einer Versammlungsauflösung Widerstand gegen die Polizei geleistet zu haben. Ein Einblick in die deutsche Gerichtsbarkeit. //
Man stelle sich vor: Ein Mensch verlangt Schmerzensgeld, weil er angeblich verletzt worden ist. Die Beweise hierfür: nichts weiter als seine eigene Behauptung! Kein ärztliches Attest, kein medizinisches Gutachten, keine Bilder, keine ZeugInnen, nicht einmal eine Krankschreibung! Wer kann wohl so dermaßen dreist sein, dies auch noch vor Gericht einzufordern? Natürlich nur ein Polizist. Genau dies war Teil der Anklage, welche die Staatsanwaltschaft Berlin vor dem Landgericht Berlin gegen den Refugee-Aktivisten S. erhob. Neben der Anklage wegen Körperverletzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gegen S. machte der angeblich verletzte Polizist noch einen Anspruch auf Schadensersatz gegen S. geltend. Dabei kam er nicht einmal auf die Idee, Beweise für seine Behauptung vorzubringen – obwohl es sein Anspruch ist, den er vor Gericht durchsetzen will.
Was war geschehen? Am 18. Juli 2014 führte eine Gruppe von 20 bis 40 Personen aus Protest gegen die Asylpolitik Deutschlands eine Mahnwache vor dem Brandenburger Tor im Zentrum Berlins durch. Zeitgleich fand ein Fest der sich unmittelbar daneben befindenden französischen Botschaft statt. Die Mahnwache selbst sollte aufgelöst werden, weil sie angeblich unangemeldet war. Jedoch stellte Rechtsanwalt Sven Lindemann zu Beginn klar, dass es sehr wohl einE AnmelderIn gab und legte sogleich den Beweis vor. Es sollte also eine Mahnwache aufgelöst werden, die rechtmäßig angemeldet war. Die zwei Polizisten, die als Zeugen geladen waren, entfernten trotzdem den Aktivisten S. und weitere Personen mit Gewalt von der Sitzblockade. Da S. sich dagegen gesträubt haben soll, wurde unmittelbar nach der Festnahme die entsprechende Anzeige gestellt.
Etliche Widersprüche
Es kam sogleich zur Vernehmung des ersten Zeugen, nachdem der Angeklagte von seinem Recht Gebrauch machte, die Aussage zu verweigern. Dieser erste Polizist war gleichzeitig derjenige, der den Aktivisten mit Gewalt und unter Zufügung von Schmerzen von dem Platz entfernen sollte. Dabei ist zu bedenken, dass diese Gewaltanwendung die „ultima ratio des Rechts“ darstellt – folgerichtig gab dieser auch vor, den Aktivisten vorher „freundlich“ um das Verlassen des Pariser Platzes gebeten zu haben. Nachdem der Aktivist dieser Aufforderung nicht nachkam, griff der Polizist zu gewaltsamen Methoden. So griff er ihm kräftig ins Gesicht, um ihm Schmerzen zuzufügen. Lindemann stellte daher süffisant fest: „Sie wendeten also Gewalt an, um ihn unter Schmerzen dazu zu bringen, das zu tun, was sie wollen?“ „Ja.“ Daraufhin Lindemann: „In anderen Ländern nennt man das Folter“.
Es gelang dem Polizisten mit weiterer Gewalt, den Aktivisten für die Rechte der Geflüchteten festzunehmen. Nach Schilderung des Polizisten soll dieser auch nach ihm „getreten“ haben – allerdings gab es keinerlei Verletzungen! Ebenso beendete der Beamte den Einsatz nach dem angeblichen Angriff nicht und suchte auch nicht nach Hilfe ob seiner „Verletzung“ am Schienbein. Diese mehr als seltsame Schilderung warf zahlreiche Fragen auf, sodass die Vernehmung des Zeugen durch Lindemann über eine Stunde dauerte. Dabei verwickelte sich der Zeuge in etliche Widersprüche; etwa was die Art und Weise der Verhaftung angeht. So meinte der Zeuge felsenfest, dass die Verhaftung des Angeklagten klar und deutlich auf dem Video zu sehen sei … obwohl er nach eigener Aussage das Video nie gesehen hatte!
Erstaunen warf auch seine Einschätzung hervor, wonach die von AktivistInnen und Refugees besetze Fläche angeblich über 200m² ausmachte – obwohl es höchstens 40 AktivistInnen waren, die noch dazu eng beieinander (in Ketten!) waren. „Höhepunkte“ seiner Aussage waren etliche Antworten wie „Das weiß ich nicht mehr“ – obwohl viele der Beschreibungen seinerseits in der Akte zu lesen waren. Zusammengefasst also sahen wir einen Zeugen, der seiner Aussage mehrmals widersprochen und zudem die Verhaftung nicht korrekt wiedergeben konnte.
Unklarheiten bleiben
Nach der kurzen Vernehmung des zweiten Polizisten, der dem ersten Beamten nur assistierte, brachte der Strafverteidiger kurz vor Ende der Verhandlung einen weiteren Beweisantrag ein. Er verlas eine Erklärung des französischen Botschafters, wonach dieser erklärte, dass er – entgegen der Annahme der Polizei – keinerlei Probleme mit der Mahnwache vor seinem Konsulat gehabt hätte und diese auch nicht in „Konkurrenz“ zum gleichzeitig stattfindenden Fest sah. Noch dazu erklärte er in pathetischen Worten mit Hinweisen auf die Französische Revolution sein Verständnis für das Anliegen der Refugees und AktivistInnen. Wir können also feststellen, dass die Mahnwache sehr wohl angemeldet war und auch niemanden am Pariser Platz störte. Rechtsanwalt Lindemann beantragte sodann die Ladung des Botschafters. Damit unterbrach der Richter die Verhandlung; die nächste Verhandlung ist für den 15. September 2015 angesetzt.
Während der Staat vordergründig Offenheit für die Geflüchteten durch eine „Willkommenskultur“ heuchelt, geht er hart gegen Refugees und ihre UnterstützerInnen vor. Zum einen wird die Asylgesetzgebung verschärft, wie es nach dem kürzlichen Koalitionsgipfel nun schon zum dritten Mal innerhalb von nur knapp zwei Jahren stattfinden soll. Zum anderen werden UnterstützerInnen und Refugees, die selbst aktiv werden und als Subjekte den Kampf um ihre Rechte aufnehmen, kriminalisiert und mit harten Strafen bedroht. Ziel ist die Schwächung der Bewegung durch Repression, andererseits sollen Strafverfahren die Erfolgsaussichten im Asylverfahren schmälern.