Refaat Alareer entlarvt die Fabel der Freiheit
Am 7. Dezember wurde der palästinensische Dichter Refaat Alareer bei einem israelischen Luftangriff ermordet. Doch Alareer war nicht nur Dichter, er war ebenso Professor der Englischen Literatur und lehrte außerdem kreatives Schreiben an der Islamischen Universität in Gaza. Sein Gedicht „If I must die“ geht aktuell um die Welt. Ein Nachruf.
Ich studiere Englische Literatur in Berlin. In diesem Semester belege ich ein Tutorium, das den Titel „Writing (the Self in) Poetry“ trägt. Wir lesen Gedichte, aber es geht auch darum, sie selbst zu schreiben. Ganz zwanglos, so die Idee; das Selbst betreffend, aber wenn nicht, dann ist das auch okay, uns ist die freie Wahl gegeben.
Vor ein paar Wochen schon hörte ich Nachrufe über meine Kommiliton:innen in Gaza, sie haben ihre letzten Worte sorgfältig gewählt. Vor wenigen Tagen nun hörte ich von Refaat Alareer. Auch für ihn war das Dichten nicht zwanglos, auch er hielt so seine Stimme fest, besonders als sie ihre letzten Momente erlebte. Momente, die sich für ihn nicht neu anfühlten. Bereits 2011 schrieb er in „If I must die“ eine Todesangst nieder, die in diesen Tagen ungeheuren Widerhall findet. Ich habe es übersetzt:
Wenn ich sterbe,
musst du meine Geschichte weitertragen
meine Dinge verscherbeln
ein Stück Stoff erwerben
und etwas Faden
(mach daraus einen langen Schweif, weiß muss er sein)
So wird ein Kind, irgendwo in Gaza
es guckt den Himmel
es wartet auf Papa
der im Rauch verschluckt wurde
der keinen Abschied vorbereitet hat
von niemandem
nicht einmal von sich selbst,
von seinem eigen Fleisch und Blut
einen Drachen sehen
einen Drachen den du fliegen lässt
und an einen Engel denken
einen Engel der die Liebe zurückbringt
Wenn ich sterbe
Lass meine Stimme Hoffnungsträger sein
Hör meine Geschichte und mach sie dein
Auf Youtube habe ich eine Vorlesung von ihm gefunden. Was ist Dichtung, was ist Rhythmus, was ein Reim? – Alles vertraute Inhalte. Inhalte, von denen ich überzeugt bin, dass sie zu verstehen das Leben bereichert. Ähnlich muss es den Studierenden in Gaza gegangen sein, als sie sich dazu entschlossen, ebenfalls das Studium der Englischen Literatur aufzunehmen. Doch da enden die Parallelen schon.
Denn während mir diese Inhalte ohne große Probleme zugänglich gemacht werden, sind sie in Gaza nicht frei. Dort lernen die Studierenden unter den Zuständen der israelischen Besatzung; dort ist ihr größter Stress nicht die Klausurenphase, sondern die Angst um ihr Leben, und das ihrer Familien; dort fallen die Gebäude nicht auseinander, weil sie kaputtgespart sind, sondern weil israelische Bomben auf sie einregnen; dort wird die Lehre unterbrochen, weil die Dozierenden gewaltvoll aussterben.
Dichtung, Literatur, so erklärt es Alareer in seiner Vorlesung, war der Besatzung schon immer ein Dorn im Auge. Dichtung erschwert den Krieg, indem sie aufzeigt, dass die Bekriegten leben wollen und Leben haben. Besonders im historischen Kontext des Zionismus, in dem die Siedlungspolitik damit verteidigt wurde, dass das Land Palästinas unbewohnt gewesen sei und dort niemand zu Schaden käme wenn ein israelischer Staat errichtet würde, ist Literatur ein Teil des Widerstands. Sie bringt den Leser:innen nah an die Leben und die Gefühle der Schreibenden. Sie widerlegt die Irrtümer dieser rassistischen und kolonialen Politik.
Eine Politik, die sich nicht nur materiell auf die Menschen auswirkt, sondern auch emotional. Doch wem Menschlichkeit gebührt, wer erlaubt ist zu fühlen, Glück zu spüren, sich in Sicherheit oder Freiheit zu wägen, ist politisch bestimmt. Wem erlaubt ist zu studieren, sich zu bilden, über das Gelernte zu schreiben, und andere zu unterrichten – auch das ist ein stetiger Kampf, auch das gilt nicht für jeden Menschen gleich.
Doch so widerständig Alareers Worte sind, frei sind sie dennoch nicht. Die israelische Besatzung hat ihm sein Leben entrissen sowie die Möglichkeit, Gedichte zu schreiben, deren stärkste Emotionen nicht von Krieg und Unfreiheit geformt werden; Gedichte, deren Selbst in Freiheit lebt, mit freien Gedanken und der Möglichkeit, frei zu handeln. Nie wird er letzte Worte niederschreiben, die nicht veröffentlicht werden müssen, damit er vor der Welt posthum seine Menschlichkeit bezeugen kann.
Alareers Tod zeigt uns, dass Bildung und Gefühle Menschenrechte sind, die stets erkämpft werden müssen. Dafür müssen wir in tiefer Solidarität mit Studierenden und Lehrenden weltweit stehen, die wir als unsere Kommiliton:innen und Kolleg:innen betrachten müssen, die ihre Berufung aufgrund von Krieg und Besatzung nicht ausführen können. Dafür müssen wir die Universität als politischen Raum verstehen und ihn von einem Sprachrohr des bürgerlichen Staates in ein Sprachrohr des Widerstandes umwandeln.
Dass Universitäten nicht nur Räume der Lehre und Forschung sind, sondern auch politische Räume, und insbesonders Räume, wo die Jugend ihr Weltverständnis erlernt, wusste auch Alareer. Das von ihm mitbegründete Projekt We Are Not Numbers setzt sich zum Ziel, den Austausch mit englischsprachigen Autor:innen zu fördern und palästinensischen Jugendlichen Gehör zu verschaffen.
Das Projekt zeigt beispielhaft, dass die Möglichkeit zur tiefen Auseinandersetzung mit Literatur und Wissen, wie sie die Universität ermöglichen sollte, nicht gegeben ist, sondern an der Universität selbst erkämpft werden muss. Die Universität muss zu einer Bastion werden, in der die Jugend lernt, ihrer eigenen und der Zukunft des Proletariats zu dienen. Denn nur wenn jedem das Recht auf Bildung zukommt, und jeder es auch praktisch ausleben kann, können wir von freier Bildung sprechen. Nur ohne Krieg und Kapitalismus können die Bildung und der menschliche Geist sich frei entfalten. Und nur im politischen Kampf können wir so eine Bildung verwirklichen.