Reden wir über Gaza, Nam Duy Nguyen
Der Leipziger Direktkandidat Nam Duy Nguyen möchte die LINKE in Sachsen retten. Dafür vermeidet er alle Themen, die ihn in Konflikt mit der rechten Verbandsmehrheit bringen könnten. Den Genozid in Gaza inklusive.
Nam Duy Nguyen setzt auf moderne Wahlkampf-Methoden. Ein guter Fotograf, ein professionell produziertes Wahlkampf-Video, tausende Haustürgespräche, für die ihn dutzende junge Aktivist:innen aus dem Umfeld des SDS (Sozialistisch-Demokratischer Studierendenverband) unterstützen und vor allem eine gute Geschichte. Seine Herkunft als Sohn einer vietnamesischen Gastarbeiter:innenfamilie, die in den späten 80er Jahren in die DDR immigriert ist, stellt er in den Mittelpunkt seiner Ansprache. Die erste Person of Color möchte er im sächsischen Landtag werden. Fragt man hingegen nach seinem politischen Programm, so findet sich erstaunlich wenig Konkretes. Und das bei einem Kandidaten, der angeblich auf dem äußeren linken Flügel der Partei DIE LINKE steht.
Im Interview mit dem Jacobin-Magazin sagt Nguyen es brauche eine Kombination aus einer „klassenpolitischen Ansprache“ welche auch „antirassistisch und multiethnisch“ sein müsse. Doch er will keine „Blumenstraußpolitik“ machen, sondern möchte sich politisch auf einige wenige ausgewählte Themenbereiche fokussieren. Es gehe darum, sich damit auseinanderzusetzen, was den Leuten wichtig ist, und daraus linke Perspektiven zu entwickeln. Dass aber Gaza, der Ukraine-Krieg sowie überhaupt die Außenpolitik nicht darunter fallen, ist nicht verwunderlich. Stattdessen spricht er hauptsächlich über ökonomische Anliegen: Mieten, Inflation und kostenlosen ÖPNV.
Diese seltsame Aussparung der Außenpolitik hat aber nicht etwa den Grund, dass sich die Bewohner:innen des Leipziger Ostens nicht dafür interessieren würden. Denn dem ist durchaus nicht so. Man muss nur einmal über die Eisenbahnstraße gehen und hört die Menschen an jeder Ecke über ein zentrales Thema reden: das Schicksal Gazas und die Möglichkeiten eines Endes des Gemetzels. Doch diese Menschen, deren Interesse von den bürgerlichen Parteien völlig übergangen wird, kann Nguyens Kampagne nicht erreichen. Denn das Kräfteverhältnis innerhalb des Landesverbandes der LINKEN Sachsen lässt eine solche offene Konfrontation mit den Interessen des deutschen Staates nicht zu. Indem sich Nguyen und seine Verbündeten an diese Spielregeln halten, werden sie zum linken Feigenblatt einer Parteibürokratie, die für die Chance, den deutschen Imperialismus endlich mitzuregieren, buchstäblich über Leichen geht.
Ein Bündnis mit den Buchhalter:innen des Klassenfeindes
Sachsens LINKE-Landesverband ist traditionell besonders rechts eingestellt. Bestehend hauptsächlich aus dem alten PDS-Apparat, orientierte sich die Partei, wie in allen Ostbundesländern stets auf ein politisches Bündnis mit der Sozialdemokratie und verehrte den Ministerpräsidenten Bodo Ramelow im benachbarten Thüringen immer für seinen „Pragmatismus“. Über den Krieg in der Ukraine und das Sanktionsregime gegen Russland, das in Ostdeutschland massiv die Preise getrieben hat, wird hier traditionell geschwiegen, wodurch heute besonders Sahra Wagenknechts Projekt profitiert. Man bezieht lieber eine „kritisch solidarische“ Pro-NATO-Position, die sich alle Türen für eine etwaige Regierungsbeteiligung offen hält.
Nguyen wurde auf dem Leipziger LINKE-Parteitag im Januar 2024 auf einer Plattform der „Erneuerung“ der LINKEN zum Direktkandidaten gewählt, auch mit den Stimmen solcher Regierungslinken. Natürlich kann man sich darüber freuen, dass sein Gegenkandidat Michael Neuhaus, der zum widerlichsten Schlag pro-imperialistischer Linker gehört, gegen Nguyen unterlag, aber es bedeutet nicht, dass Nguyen damit auf einer Plattform der unversöhnlichen Opposition gegen den staatstragenden Kurs der LINKEN zum Direktkandidaten gewählt wurde. Seine Wahl war stattdessen nur möglich, weil er einen Kompromiss einging, auf dem jetzt auch der gesamte Wahlkampf der LINKEN Leipzig beruht. Die eine Seite, die jungen SDS-nahen Aktivist:innen, die sich selbst häufig als revolutionäre Antikapitalist:innen begreifen, halten freiwillig zentrale Elemente ihres Programms aus den öffentlichen Wahlkampfauftritten der Partei heraus, während der rechte Flügel die Inhalte des Wahlkampfes dominiert. Nur so kann es passieren, dass Nam Duy Nguyen und Juliane Nagel auf einem gemeinsamen Podium sitzen und ein und dasselbe sagen. Nagel gehört zu den aggressivsten Befürworter:innen einer unbegrenzten Solidarität mir den Kolonialprojekt Israels im Westjordanland und Gaza und attackiert palästinasolidarische Aktivist:innen notfalls mit Gewalt.
Im Oktober 2022 griff Nagel propalästinensische Aktivist:innen der Gruppe Handala, die sich der „Jetzt reicht’s! Wir frieren nicht für Profite!“-Demonstration mit antiimperialistischen Forderungen angeschlossen hatten, tätlich an. Der Grund: ein Schild, auf dem die Umrisse Palästinas abgebildet waren. Ganz in der völkischen Logik der antideutschen Ideologie, erschien Nagel diese Darstellung zugleich als Vernichtungswille gegenüber dem israelischen “Staatsvolk”, eine vollkommen unzulässige Verquickung von Nationalstaat und Bevölkerung, die selbst eine antisemitische Schlagseite aufweist. Die Augenzeugin Mae-Ann berichtete Klasse Gegen Klasse damals von diesem Vorfall:
Plötzlich wurde die Person mit dem Schild von jemandem angesprungen – ich dachte, eine Prügelei wäre losgegangen.
Die angreifende Person war Juliane Nagel. Damit nicht genug, Nagel zitierte am 13. Juli 2024 auf X einen palästinensischen Aktivisten, der gegenüber der TAZ sagte:
Ich glaube, dass die Forderung nach einem #Waffenstillstand allein, ohne Entwaffnung & Sturz der #Hamas, ohne sofortige Freilassung der Geiseln, niemandem etwas bringt…
Damit stellt sich Nagel implizit gegen die Forderung eines sofortigen, bedingungslosen Waffenstillstandes und vertritt damit haargenau das Programm Netanjahus, das Programm der unbegrenzten Vernichtung Gazas. Denn wann die Hamas „entwaffnet und gestürzt“ ist, das entscheidet man allein in Tel Aviv.
In einem Interview mit dem Neuen Deutschland beschwerte sich Nagel überdies auch über den zunehmenden Einfluss „roter Gruppen“ in der politischen Landschaft Leipzigs und warf ihnen vor, die Bewegung zu spalten:
Wenn es solchen Gruppen dann wichtiger ist, am Internationalen Frauentag Nationalfahnen zu schwenken, statt den gemeinsamen feministischen Kampf in den Vordergrund zu stellen, dann gibt es eben keinen Konsens und dann müssen sich Wege auch trennen.
Wer spaltet hier?
Es wird noch bunter: Eine Parteigenossin Nagels, die Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz, brachte im März 2024 in einer Landtagssitzung sogar das Verbot der Gruppe Handala ins Spiel. Angeblich eine Maßnahme im Kampf gegen Antisemitismus.
Indem Nguyen zu solchen Aussagen schweigt und auf dem Plakat lächelnd neben Nagel posiert, deckt er die linke Flanke dieser Kriegstreiber:innen vor berechtigter Kritik und wird in diesem Zuge mehr oder weniger zu einem linken Einheitskandidaten.
Gleichzeitig schürt er die Illusionen in die Positionen der Partei die LINKE, wenn er im Interview mit Jacobin behauptet, die LINKE habe „sehr klare Positionen, die den Krieg in Israel und Palästina und auch die völkerrechtswidrige Besatzung seitens der israelischen Politik verurteilen.“ Daraufhin beschwert er sich darüber, dass diese Position kaum nach außen kommuniziert wird, weil es eine „krasse Angst davor“ gäbe, „klare Stellung zu beziehen.“ Nicht nur haben wir oben bereits gesehen, dass Pro-Genozid-Aussagen, wie die von Nagel problemlos mit den von Nguyen so hochgelobten Positionen der Partei vereinbar sind oder zumindest innerhalb der Partei kommentarlos toleriert werden, sondern er verkennt auch, warum seine Partei zu diesem Thema möglichst schweigt und der Palästinabewegung passiv bis feindlich gegenübersteht. Das liegt nicht an der „Angst“ vor schlechter Presse. Es folgt direkt aus der reformistischen Strategie der Partei, aus ihrer ganzen inneren Logik. Geht man davon aus, dass der Staat durch die Wahlurne erobert und umgebaut werden kann, nimmt man in Kauf, dass man sich den Zwecken dieses Staates, seiner Verfassung, seiner Staatsräson unterordnen muss, weil sonst der Zugang zur Regierung verwehrt bleibt. Eine tatsächlich praktische Kritik, die sich nicht auf humanitäre Phrasen und das Hochhalten der reaktionären Utopie einer Zwei-Staaten-Lösung beschränkt, sondern aktiv in die Bewegung gegen die deutschen Waffenlieferungen an Israel eingreift und diese vorantreibt, ist dieser Partei vollkommen unmöglich.
So vermisst man seit über 300 Tagen jeden offenen Auftritt der LINKEN Leipzig auf den zahlreichen pro-palästinensischen Demonstrationen. Das ist auch der Gruppe Handala aufgefallen. Sie forderte Nguyen am 17. August via Instagram auf, seinen Worten Taten folgen zu lassen:
Du wünschst dir, dass sich deine Partei klar und deutlich äußert. Wir, die wir von Repressionen betroffen sind, wir, die wir Familie und Freunde in Palästina haben, wir wünschen uns von dir, dass du deine Positionen klar und deutlich äußerst. Habe den Mut dazu! Unser Angebot steht: Komm zu unserer nächsten Demo und halte eine Rede!
Dieser Aufforderung wird er nicht nachkommen. Die hunderten und tausenden jungen Aktivist:innen, die durch den Genozid in Gaza zum politischen Leben erwacht sind, organisieren sich aus diesen Gründen bewusst außerhalb der Strukturen der Partei DIE LINKE und betrachten sie zurecht als ihren politischen Gegner. Die Linken innerhalb der LINKEN können keine organische Verbindung zu diesen Schichten aufnehmen, sie sind durch die Partei gefesselt bzw. fesseln sich durch ihr Festhalten an der organisatorischen „Einheit“ der Partei, die inhaltlich natürlich schon längst gespalten ist, selbst.
Der Marxist Karl Radek hat dieses Dilemma in der Diskussion mit Rosa Luxemburg, im Februar 1917 um die Notwendigkeit der Abspaltung der Revolutionär:innen von der bankrotten SPD bereits erkannt:
Zwei durch grundsätzliche Differenzen geschiedene Richtungen können nur solange in derselben Partei verbleiben, als die eine von beiden auf ihr selbstständiges Auftreten in der Oeffentlichkeit verzichtet.
Seine Schlussfolgerung daraus war eindeutig:
Die Linksradikalen müssen, ob die Verhältnisse für sie günstig sind oder nicht, an die Bildung einer eigenen Partei gehen, wenn sie ihre historische Aufgabe erfüllen wollen.
Wenn Nguyen und Genoss:innen sich weiterhin als revolutionäre Antikapitalist:innen begreifen, dann müssen sie genau diesen Schritt tun: mit der LINKEN brechen und unter eigenem Banner ein glasklar revolutionäres Programm vertreten, welches auch über die Verbrechen des deutschen Imperialismus in Gaza, in der Ukraine und überall auf der Welt nicht schweigt und diesem Staat den erbarmungslosen revolutionären Kampf ansagt.
Mit Haustürgesprächen zur „sozialistischen Mitgliederpartei“?
Zentrales Anliegen der Kandidatur Nam Duy Nguyens ist es, exemplarisch zu demonstrieren, wie eine andere, eine „erneuerte LINKE“ aussehen könnte. Dabei bedient man sich großzügig an den Erfahrungen der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) und der Partei der Arbeit Belgiens. Nebenbei beides reformistische Projekte, die mit der bestehenden Eigentumsordnung nicht brechen wollen. Für diese „Erneuerung“ kommen die Konzepte des „Organizings“ zum Einsatz, die von Klasse Gegen Klasse bereits hier und hier kritisch diskutiert wurden. Nguyen erklärt:
Ich glaube, dass man Haustürgespräche und Organizing nicht nur technisch betrachten sollte. Man erschließt sich dadurch nicht nur die demografische und politische Zusammensetzung eines Wahlkreises. Sie sind auch der Versuch, Menschen systematisch in politische Arbeit zu involvieren. Wir wollen politische Frustration überwinden und diese hat viel mit Ohnmachtsgefühlen zu tun. Die Anliegen und Meinung der Menschen spielen normalerweise in der Politik keine Rolle, deshalb fühlen sie sich abgehängt.
Konzepte wie Stadtteilversammlungen, Haustürgespräche, Beratungsangebote sollen also einerseits Werkzeuge zur Stärkung der schwächelnden Linkspartei sein und gleichzeitig den Menschen ein verlorenes Gefühl der Selbstwirksamkeit zurückgeben. Ist das Organizing wirklich eine solche „eierlegende Wollmilchsau“?
Zunächst muss zugestimmt werden: Gewiss ist ein konzentrierter Wahlkampf mit Methoden des Organizings und motivierten Aktivist:innen in der Lage, Erfolge zu erzielen, die mit den alten PDS-Methoden nicht möglich sind. Aber erstens ist ein solcher Einsatz einer im bundesweiten Maßstab kleinen Gruppe von Aktivist:innen nicht in der Lage, die historische Entwicklungsrichtung der Partei DIE LINKE umzukehren. Selbst wenn sich diese Herangehensweise als vorbildhafter „Leuchtturm“ auf andere Teile der Partei ausweiten würde, würden diese Versuche schnell an objektive Grenzen stoßen, denn der Verfall der LINKEN hat tieferliegende ökonomische und soziale Ursachen, etwa die verschärfte ökonomische Krise seit Corona, die den Spielraum für Sozialreformen, die die Grundlagen der kapitalistischen Eigentumsordnung nicht angreifen wollen, noch einmal erheblich eingeschränkt hat und die beiden heftigsten Schläge, der Ukrainekrieg und der Gaza-Krieg, die die fragile Einheit, der sich unversöhnlich gegenüberstehenden politischen Strömungen innerhalb der Partei zerstört und die Partei gespalten hat. Gegen solche mächtigen gesamtgesellschaftlichen Zentrifugalkräfte ist jeder Versuch, die Partei allein durch die Veränderung der Wahlkampfmethoden vor ihrer Marginalisierung zu retten, macht- und sinnlos. Doch eine Offensive der gesellschaftlichen Linken möchten diese Aktivist:innen auch gar nicht erreichen. Ihnen geht es, im pessimistischen Geiste von Mario Candeias’ Strategiepapier zur Zukunft der LINKEN aus dem letzten Jahr, welches Klasse Gegen Klasse hier bereits kritisiert hat, eher darum, die LINKE Sachsen als „Insel des Überlebens“ im Landtag zu halten, denn sie gehen wie Candeias davon aus, dass
sie [die gesellschaftliche Linke] […] für mindestens ein Jahrzehnt oder länger eine defensive Position einnehmen und kaum Gestaltungsraum haben wird.
Mit diesem rein defensiven Ansatz der Verteidigung der letzten Hochburgen des linken Reformismus haben diese Akteur:innen, wie man sieht, alle Hände voll zu tun und können währenddessen auf neue Klassenkampfphänomene wie die Hafenstreiks, die kommenden TVöD-Streiks und die zeitweise mächtig angeschwollene Palästinabewegung kaum eingehen. Während Organisationen der radikalen Linken, die das tote Gewicht der LINKEN nicht auf ihrer Schulter tragen müssen, erfolgreich in diese Bewegungen intervenieren können.
Doch die eigentliche Diskussion sollte sich um den zweiten Teil dieses Zitates drehen: die Frage nach dem Gefühl der Selbstwirksamkeit, die ein solcher Organizing unterstützter Wahlkampf erzeugen könnte. Gewiss ist es eine gute Erfahrung, „gewinnbare politische Nahziele mit aller Energie zu verfolgen und dann einen sicht- und fassbaren Erfolg“ davonzutragen. Stellt man jedoch die Frage anders, nämlich: „Führt die aktive Unterstützung der Kandidatur von Nguyen tatsächlich zu mehr Selbstwirksamkeit?“, so stellt sich heraus, dass dies per se erstmal überhaupt nicht der Fall ist. Der Einzug Nguyens in den sächsischen Landtag verändert an den kapitalistischen Verhältnissen und am bürgerlichen Staat rein gar nichts. Dementsprechend hat die Gewinnung des Direktmandates auch erstmal keinen direkten Einfluss auf das Leben der Aktivist:innen und Wähler:innen. Eine weitere Stimme im Parlament, sei sie migrantisch oder nicht, ist für sich genommen erstmal vollkommen neutral. Selbst wenn dieser Abgeordneter sein Gehalt auf 2500 Euro im Monat begrenzen möchte und den Rest an „Menschen in Notlagen, soziale Initiativen und die Linke“ weitergeben will. Diese Geste mag zwar die Authentizität des Abgeordneten erhöhen und ist durchaus lobenswert, aber entscheidend bleibt letztlich, was dieser Abgeordnete für ein Programm vertritt und was er tut, um dieses Programm zu verwirklichen.
Revolutionäre Sozialist:innen waren auch historisch nicht gegen die Teilnahme an bürgerlichen Wahlen, jedoch nahmen sie an solchen Wahlen niemals mit dem Ziel teil, die Illusionen der großen Masse der Bevölkerung in die Veränderbarkeit der Gesellschaft durch das Parlament zu stärken, sondern mit dem Ziel, diese Illusionen zu zerstören und das Parlament als Bühne des Klassenkampfes zu benutzen. Nguyen sagt im Interview:
Ich und meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter werden uns Gedanken darüber machen, wie man das Parlament als Bühne für die Kämpfe nutzen kann, die unsere Klasse führt. Und das sind für mich keine Sonntagsreden. Es geht darum, wie man die Kämpfe der Menschen im Parlament abbilden kann, ohne dass ich zwingend für sie spreche.
Aus dieser Stelle geht zwar hervor, dass er selbst kein Vertrauen in die bürgerlichen Institutionen hat, doch bleibt hier offen, ob er sich seine Rolle lediglich als passives „Sprachrohr der Bewegung“ vorstellt, welches ihre Forderungen durch das Parlament verwirklichen möchte, vergleichbar etwa mit Projekten wie der „Klimaliste“ oder den Wahlantritten der „Letzten Generation“, oder ob er tatsächlich gewillt ist, auch im Gehege des Klassenfeindes ein revolutionär-sozialistisches Programm offen zu vertreten und seine hervorgehobene Stellung für das aktive Voranbringen der Kämpfe der Arbeiter:innenklasse und der Jugend zu benutzen, indem er nicht nur die ökonomischen Forderungen wiederholt, sondern sie mit Übergangsforderungen anreichert, die über die engen Grenzen des gewerkschaftlichen Kampfes hinausgehen und die Selbstorganisation der Arbeiter:innen, der Jugend und der Unterdrückten vorantreiben. Letzteres wäre wiederum nur denkbar, wenn er mit dem Fraktionszwang der LINKEN im Landtag offen bricht, der Partei mit wehenden Fahnen den Rücken zukehrt und den Aufbau einer revolutionär-sozialistischen Kraft vorantreibt, die wirklich das Potenzial hat, diesen Staat aus den Angeln zu heben und die Gesellschaft zu transformieren.
Wird er sich auf ersteres beschränken, so wird jedes Gefühl von „Selbstermächtigung“, welches sich jetzt einstellt, letztlich eine Illusion bleiben und sein Einzug ins Parlament wird statt einer Unterstützung des Klassenkampfes, eine Bremse des Klassenkampfes, weil er so die Illusionen der Arbeiter:innen und Unterdrückten in die Erreichung ihrer Forderungen durch das bürgerliche Parlament stärken würde.
Am Ende bleibt also die Frage, ob Nam Duy Nguyen und Genoss:innen die Interessen der Arbeiter:innen und Unterdrückten wichtiger sind als ihre Verwurzelung in den Parteistrukturen der überkommenen LINKEN. Revolutionärer Bruch und die organisatorische und politische Vorbereitung der Offensive der Arbeiter:innenbewegung auf Staat und Kapital oder passives Verharren und damit Herabsinken zum reformistischen Feigenblatt des deutschen Imperialismus, das sind ihre Optionen.