Rechter Terror in Halle: Was falsch an der Einzeltäterthese ist

11.10.2019, Lesezeit 10 Min.
Gastbeitrag

Am 9.10.2019 verübte der Rassist Stephan B. einen rechten Terroranschlag. Die Politik vertritt einmal mehr die Einzeltäterthese, doch in Zeiten verschärften Rechtsrucks ist diese These nicht nur politisch gesehen eine Lüge, sondern auch gefährlich.

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Bild der Synagoge in Halle: Von AllexkochEigenes Werk, CC BY-SA 4.0, Link

In Videoausschnitten, die derzeit auf unterschiedlichen Nachrichtenseiten zu sehen sind, ist ein Mann erkennbar, der durch die Straßen der Stadt Halle/Saale zieht. Er trägt einen dunklen Kampfanzug, einen Helm und führt ein Maschinengewehr mit sich. Dieser Mann heißt, wie sich später herausstellte, Stephan B. Er hat am vergangenen Mittwoch (9. Oktober 2019) versucht, in die Synagoge in Halle/Saale einzudringen, indem er auf die Eingangstür schoss und Sprengsätze vor ihr deponierte. Zu diesem Zeitpunkt sollen sich unterschiedlichen Angaben nach 50 bis 80 Menschen in ihr befunden haben, um gemeinsam den höchsten jüdischen Feiertag, das Versöhnungsfest Jom Kippur, zu zelebrieren. Als sein Versuch, mit dem offensichtlichen Ziel ein Massaker zu verüben in die Synagoge einzudringen, fehlschlug, ermordete er eine Frau vor der Synagoge und einen Mann vor einem Dönerladen. Zwei weitere Menschen sind verletzt worden.

Rechter und antisemitischer Anschlag

Schon kurz nach den Ereignissen in Halle/Saale ist klar, dass es sich um einen rechtsterroristischen Anschlag handeln muss, schließlich hat der weiße Rassist Stephan B. versucht, bewaffnet in eine Synagoge einzudringen. Wenig später tauchen dann auch Hinweise auf, die dies bestätigen. So hat Stephan B. seine Tat mit einer Kamera, die sich vermutlich an seinem Helm befand, gefilmt und live auf der Streamingplattform Twitch gezeigt – wie beim rassistischen Terroranschlag in Christchurch, Neuseeland, im März 2019. Im Stream leugnet der Täter von Halle nicht nur den Holocaust, sondern spricht auch über das Motiv seines Anschlags: Berichten zufolge sagte er, dass Feminismus zu weniger Geburten führe, wodurch die Masseneinwanderung steige. Die Schuld daran gibt er „dem Juden“.

Anhand dessen lässt sich mutmaßen, dass der erste Mord nicht zufällig war, sondern aus Hass gegenüber Frauen verübt wurde. Der zweite Mord, verübt an einem Dönerstand, erinnert an den Terror des NSU. Neben dem Video hat das US-Analyseunternehmen SITE intelligence group eine PDF-Datei ausfindig gemacht, in welcher unter anderem Fotos von exakt den Waffen und der Munition, die Stephan B. eingesetzt hat, zu sehen sind. Auch dieses PDF-Dokument zeigt deutlich, dass es sich um einen rechten und antisemitischen Anschlag handelte, ist darin doch zu lesen, dass möglichst viele „Anti-Weiße“, vorzugsweise Juden*Jüdinnen getötet werden sollten.

Die erneute Mär vom Einzeltäter

Ebenso kurz nach den Anschlägen ist auch in der Öffentlichkeit, in der Politik und in den Medien explizit von rechtem Terror gesprochen worden, was nicht selbstverständlich ist, wird bei rechtem Terror doch zu oft der Versuch der Bagatellisierung und Verharmlosung vorgenommen. Erinnern wir uns an die Blutspur des NSU, dessen Morde als „Dönermorde“ bezeichnet wurden. Die Polizei richtete in diesem Zusammenhang sogar die sogenannte „Soko Bosporus“ ein, führte ihre Untersuchungen vielmehr im familiären Umfeld der Opfer durch, kriminalisierte und stigmatisierte die Hinterbliebenen, anstatt rechten Terror in Betracht zu ziehen, eine unfassbare Verhöhnung derjenigen Menschen, die dem Terror des NSU zum Opfer gefallen sind, und ihrer Familien. Der Christchurch Attentäter und Rassist Brenton Tarrent, der am 15. März 2019 mehr als 50 Menschen in einer Moschee ermordete, wurde anschließend ganz freundlich von der Polizei abgeführt, während Donald Trump in einem Tweet nicht einmal erwähnte, dass dieser Anschlag rassistisch motiviert war. Weiße Terrorist*innen werden als unzurechnungsfähig bezeichnet, ihre Taten nicht als rassistisch motiviert angesehen, sondern soziale oder familiäre Probleme werden für ihr „Ausrasten“ verantwortlich gemacht. Währenddessen erfahren BIPoCs (Black, Indigenous, People of Color) extreme Kriminalisierung.

Doch dies ist nur ein Aspekt der perfideren Maschinerie. Ein weiterer ist der Rückfall in alte und gängige Muster, nämlich das, der Behauptung des Einzeltäters. Denn, so schnell man von rechtem Terror sprach, so schnell wurde von der Politik und der Polizei von einer einzelnen Person ausgegangen, die für den Terror verantwortlich war, nämlich von Stephan B..

Die Einzeltäterthese ist aber grundsätzlich falsch: Nehmen wir den unwahrscheinlichen Fall an, dass der Rechtsterrorist Stephan B. die Taten vom 9. Oktober 2019 ganz alleine geplant und ausgeführt hat – was zuallererst bewiesen werden muss, denn die blutigen Erfahrungen vom NSU oder Oktoberfestattentat lehren etwas anderes. Doch selbst dann, wenn er keinerlei Unterstützung für die Tat selbst hatte, so ist es doch Tatsache, dass die Taten nicht isoliert statt fanden, sondern im Kontext des allgemeinen Rechtsrucks gesehen werden müssen.

Der Rechtsruck und die Einzeltäterthese

Wir dürfen den Begriff Rechtsruck nicht rein plakativ benutzen, sondern müssen ihn in aller Deutlichkeit benennen. Zuerst macht er deutlich, dass Stephan B. und alle anderen Rechtsterrorist*innen nicht alleine gehandelt haben. Denn seit Jahren verschärft der deutsche Staat, sowie auch viele andere Staaten, die Repressionen gegen Geflüchtete in Form von Gesetzen, Lagern und Abschiebungen. Damit einher geht einerseits eine extreme äußere Militarisierung, die sich in verbrecherischen Deals mit diktatorischen Regimen wie der Türkei und Libyen, sowie mit dem stetigen Ausbau des Frontex-Regimes zeigen, und andererseits eine innere Militarisierung, die ihren Höhepunkt in den Polizeiaufgabengesetzen gefunden hat – vorerst. Teil des Rechtsrucks sind die andauernden Brandanschläge auf Geflüchteteneinrichtungen und Linke.

Seinen Ausgang findet diese Verschärfung aber auch auf parlamentarischer Ebene, wo mit der AfD seit 2015 eine Partei vertreten ist, deren Mitglieder eine 180-Grad Wende in der Erinnerungspolitik fordern und das Holocaustmahnmal in Berlin als ein „Denkmal der Schande“ bezeichnen, womit der Antisemitismus massiv angefacht wurde. Doch an dieser Stelle darf nicht ausschließlich die AfD angeklagt werden, denn auch die Unionsparteien oder die FDP fördern diesen Kurs. Während der Pressekonferenz zu den Anschlägen in Halle/Saale sagte Innenminister Seehofer: „Wir müssen vor allem angehen: Die Hassparolen und das, was im Internet abläuft. Hass ist immer ein Vorläufer von Gewalt.“ Diese Aussage Seehofers ist zutiefst heuchlerisch und zynisch, ist er es doch selbst, der mit seiner Politik und seiner Partei den Rechtsruck im Tauziehen mit der AfD weiter verschärft und mit den „ANKER-Zentren“ ein menschenverachtendes Lagersystem aufgebaut hat. Wie normal der Umgang mit extrem rechten Inhalten ist und wie weit diese in das bürgerliche Spektrum vorgedrungen sind, lässt sich zwischenzeitig auch schon an der SPD und den Grünen beobachten, die zumindest auf kommunaler Ebene bereits einzelne Bündnisse mit der AfD eingehen. Mit den Unionsparteien geschieht dies bekanntlich schon lange.

Die Anschläge in Halle/Saale dürfen demnach nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssen in den Kontext der aktuellen Politik gesetzt werden, die Taten wie diesen einen Boden bereiten. Einen Einzeltäter gibt es somit politisch betrachtet nicht.

Nur im gemeinsamen Kampf kann dem faschistischen Terror etwas entgegengesetzt werden

Wir verurteilen die rechten und antisemitischen Terroranschläge des 9. Oktober aufs Schärfste. In Gedanken sind wir in erster Linie bei den Familien der Opfer, aber auch bei denjenigen, die der Tat entkommen konnten, wie den Menschen, die sich in der Synagoge befanden. Denn das Massaker hätte, so traurig es klingt, noch weit größeres Ausmaß annehmen können.

Die Ereignisse in Halle/Saale zeigen uns aber auch erneut in aller Deutlichkeit, dass wir uns in Bezug auf rechten Terror, der nicht nur Deutschland betrifft, sondern weltweit agiert, nicht auf den Staat und seine Organisationen verlassen können. Deshalb widersprechen wir den Rufen nach mehr Polizei, die selbst eine Menge antisemitischer und rassistischer Skandale hat, und Kontrolle durch den mit dem NSU verstrickten Inlandsgeheimdienst („Verfassungsschutz“), die jetzt von allen Seiten kommen. In seiner sowohl politischen als auch organisatorischen Beziehung zur extremen Rechten ist der Staat selbst ein Teil des Problems.

Es ist notwendig, eine wirksame Verteidigung gegen den Rechtsruck aufzubauen. Dafür müssen wir fragen, wer sind diejenigen, die sich in den letzten Jahren dem Rechtsruck entgegen gestellt haben. Dazu gehören die Jugendlichen, die in den letzten Jahren gegen NSU, Rassismus und Lagersystem, aber auch gegen polizeistaatliche Maßnahmen wie die Polizeiaufgabengesetze auf die Straße gingen, und jetzt als Schüler*innenbewegung fürs Klima streiken. Dazu gehören Geflüchtete und Migrant*innen, die nicht nur Angriffsziele rechten Terrors, sondern auch ständiger staatlicher Gewalt sind. Dazu gehört der Frauen*streik, der sich gegen die sexistische Gewalt richtet und gegen die staatliche Einschränkung und Sanktionierung von Geschlecht und Sexualität. Und dazu gehören die Arbeiter*innen, die in Streiks gegen Outsourcing und Prekarisierung die ökonomische Basis des Rechtsrucks bekämpfen, denn der Neoliberalismus, der kapitalistischen Ausverkauf 1990, Hartz IV und die Agenda-Politik haben einen Nährboden hervorgebracht, auf dem rechte Demagogie gedeihen kann, wenn die Antworten der linken Regierungen unglaubwürdig sind. Die Arbeiter*innenklasse kann den Rechtsruck und den damit einhergehenden erstarkten Antisemitismus, der in Deutschland mangels Abrechnung mit dem Faschismus immer lebendig blieb, besiegen, wenn sie sich auf ihre eigenen Beine stellt. Ein erster Schritt dafür ist, dass gewerkschaftliche Strukturen in Solidarität mit jüdischen, muslimischen, migrantischen, geflüchteten und weiteren von rechtem Terror bedrohten Kolleg*innen mobilisieren und so die ersten Bausteine für einen Selbstschutz legen.

Weiterführende Artikel

Rechte Massaker sind eine Produkt des Imperialismus – Ein Artikel, veröffentlicht als Reaktion auf die rechten Anschläge in den USA im August 2019, die ebenfalls von Tätern, die sich auf Christchurch beziehen, verübt wurden.

Antisemitischer Angriff in München-Schwabing: Kein Friede mit dem deutschen Imperialismus! – Rede von Mitgliedern der marxistischen jugend zu einer Kundgebung gegen Antisemitismus vor einigen Wochen in München.

NSU Prozess: Urteil, aber noch lange kein Schlussstrich – Eine kritische Bilanz der NSU-Prozesse.

Chemnitz: Der Rechtsstaat wird uns nicht vor den Faschist*innen schützen, das können wir nur selber tun – Ein Artikel, der stärker auf die Verteidigung gegen den Rechtsruck eingeht.

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