Rebellenoffensive gegen Assad: Kehrt der Bürgerkrieg in Syrien zurück?
Die HTS-Miliz hat eine großangelegte Offensive in Syrien gestartet. Es besteht die Gefahr eines Wiederaufflammens des Bürgerkriegs.
Seit dem 26. November geschieht im Nordwesten Syriens eine größere militärische Eskalation. Hay’at Tahrir al-Sham (HTS), eine ehemalige Al-Qaida-Organisation, die sich mit pro-türkischen Gruppen abstimmte, startete eine Offensive mit dem Namen „Abschreckung der Aggression“. Die Geschwindigkeit dieser Operation überraschte viele Beobachter:innen: In nur drei Tagen drangen HTS und seine Verbündeten tief in Aleppo ein, die zweitgrößte Stadt Syriens, die seit 2016 unter der Kontrolle des Assad-Regimes steht.
Durch die Offensive, die gleichzeitig an mehreren Fronten durchgeführt wurde, konnten die Rebellen rund 20 Orte und strategische Positionen erobern, darunter die Universität von Aleppo, das Polizeihauptquartier sowie den Flughafen von Aleppo. Auf diesen Vorstoß reagierten russische und syrische Luftangriffe, die am Samstag zum ersten Mal seit 2016 das Zentrum von Aleppo ins Visier nahmen, während die islamistischen Organisationen weiter nach Hama vorrückten und behaupteten, die Kontrolle über die Stadt Khan Sheikhoun übernommen zu haben. Mehreren Quellen zufolge haben die HTS-Rebellen auch die Kontrolle über die Autobahn M5 übernommen, die wichtigste Verkehrsader Syriens, die den Norden mit dem Süden des Landes verbindet und militärische und logistische Bewegungen erleichtert. Der Verlust der Kontrolle über diese Straße durch die Regierungstruppen erschwert ihre Operationen erheblich und behindert den Transport von Truppen, Ausrüstung und wichtigen Versorgungsgütern.
Diese groß angelegte und sehr gut koordinierte Offensive stellt einen bedeutenden Fortschritt für HTS (und die Türkei) dar, die nun wichtige Positionen in einem historisch umstrittenen Gebiet kontrollieren. Die Geschwindigkeit und Tiefe des Angriffs verdeutlicht die Schwäche der Streitkräfte von Baschar al-Assad und seiner Verbündeten. Die Offensive wirft jedoch auch andere Fragen auf, insbesondere in Bezug auf die in der Region lebenden Minderheiten wie die Kurd:innen. Einige Quellen sprechen davon, dass mehr als 200.000 Kurd:innen nun von „pro-türkischen“ Kräften in Aleppo „eingekesselt“ seien. Am Wochenende soll es bereits zu Zusammenstößen zwischen den von kurdischen Kämpfern dominierten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) und pro-türkischen bewaffneten Gruppen gekommen sein.
Die Türkei wird versuchen, die Offensive für sich zu nutzen
Der rasante Durchbruch der HTS und ihrer Verbündeten in der Region Aleppo erfolgte zu einem Zeitpunkt, an dem die pro-iranischen Kräfte, insbesondere Hisbollah, Anzeichen von Schwäche zeigten. Seit mehreren Monaten hat Hisbollah, die wichtigste Bodenunterstützung des Assad-Regimes, einen Teil ihrer Kräfte verlagert, um der israelischen Offensive im Südlibanon entgegenzutreten. Darüber hinaus haben die jüngsten israelischen Luftangriffe die iranische Militärinfrastruktur in Syrien geschwächt und ein strategisches Vakuum in Schlüsselregionen hinterlassen. Der Tod eines iranischen Generals der Revolutionsgarden in Aleppo verdeutlicht ebenfalls die Erosion der iranischen Kontrolle in diesem Gebiet. Die HTS haben somit von diesem Moment der Schwäche profitiert.
Obwohl die Türkei jegliche direkte Unterstützung der Offensive abstreitet, beteiligen sich pro-türkische Rebellengruppen, die unter dem Banner der Syrischen Nationalarmee (SNA) zusammengefasst sind, aktiv an den Operationen. Diese Zusammenarbeit wirft ein Schlaglicht auf die Ambivalenz der Türkei, die zwar ideologisch gegen HTS eingestellt ist, aber im Kampf gegen das syrische Regime und seine Verbündeten gemeinsame taktische Ziele verfolgt, um ihren Einfluss in Nordsyrien zu vergrößern.
Für einige Analyst:innen gibt es keinen Zweifel an der direkten Beteiligung der Türkei hinter dieser Offensive. Kamran Bokhar vom Think Tank Newlines Institute for Strategy and Policy, der über die Bedrohung des Assad-Regimes durch die Türkei sprach, sagte: „Syrien und die Türkei sind sich in Fragen wie der Bekämpfung des kurdischen Separatismus einig, aber ganz allgemein ist die Türkei viel eher eine Bedrohung als ein Verbündeter. Die türkischen Streitkräfte halten große Teile des syrischen Territoriums im Norden besetzt. Ankara ist der wichtigste Unterstützer der syrischen Rebellen. Noch wichtiger ist, dass Assad sich nicht vom Iran entfernen will, um gegenüber einem anderen Land mit regionalen Ambitionen verwundbar zu werden.“
Für ihn bot sich Erdogan eine historische Gelegenheit: „Er wusste nicht, dass der Iran und die Hisbollah so schnell [durch die israelische Offensive] geschwächt werden würden. Ihre Verwüstung war eine historische Gelegenheit, die sich die Türkei einfach nicht entgehen lassen konnte. Die Geschwindigkeit, mit der die pro-türkischen Streitkräfte eingesetzt wurden, legte nahe, dass Ankara sich lange im Voraus auf diese Gelegenheit vorbereitet hatte. Und die Tatsache, dass sie Aleppo so schnell einnehmen konnten, spiegelt wahrscheinlich die Schwächung des Iran in der Levante wider.“
So versucht das türkische Regime, das durch die Schwächung des Iran im Land entstandene Machtvakuum zu füllen und ihren Einfluss in Syrien, der Region und innerhalb der sunnitischen Gemeinschaft zu stärken. Um dies zu erreichen, scheint Ankara trotz offizieller Erklärungen und Aufrufen zur Zurückhaltung bereit zu sein, den reaktionären syrischen Bürgerkrieg wiederzubeleben.
Russland in einer schwierigen Lage
Die Offensive von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) und ihren pro-türkischen Verbündeten im Nordwesten Syriens hat das Ende des 2020 zwischen Russland und der Türkei unterzeichneten Waffenstillstands besiegelt. Als Reaktion auf diesen Vorstoß intensivierte Russland seine Luftangriffe in der Region. Am 29. November führten russische Flugzeuge Angriffe auf Rebellenstellungen in Idlib durch, was eine deutliche Eskalation der Feindseligkeiten bedeutete.
Die Wirksamkeit der russischen Reaktion wird jedoch durch seine militärischen Verpflichtungen in der Ukraine eingeschränkt, wo ein erheblicher Teil seiner Luftressourcen stationiert ist. Dies erschwert Moskaus Fähigkeit, die Streitkräfte des syrischen Regimes angesichts der anhaltenden Rebellenoffensive voll zu unterstützen. Darüber hinaus werden die ohnehin schon komplexen Beziehungen zwischen Ankara und Moskau durch die Position der Türkei im Ukraine-Konflikt geschwächt. Ankara spielt zwar eine Vermittlerrolle bei Abkommen wie dem über Getreideexporte über das Schwarze Meer, liefert aber auch Bayraktar TB2-Drohnen an die Ukraine, die erfolgreich gegen russische Truppen eingesetzt werden. Dieses Doppelspiel irritiert das russische Regime, welches die Lieferungen als Provokation betrachtet.
Im syrischen Kontext verstärken diese Divergenzen die Reibungen. Durch die Unterstützung von Rebellengruppen wie der Syrischen Nationalarmee (SNA) versucht die Türkei, den russischen und iranischen Einfluss im Norden Syriens zu begrenzen. Als Reaktion darauf intensiviert Russland seine Angriffe auf Gebiete unter Rebellenkontrolle und sendet eine klare Botschaft an Ankara, indem es einen pro-türkischen Stützpunkt bombardiert, der sich in einer „Sicherheitszone“ unter türkischer Kontrolle befindet.
Wiederbelebung des syrischen Bürgerkriegs?
Die beiden Länder, die am meisten von dieser Eskalation in Syrien profitieren könnten, sind die Türkei und Israel. Auf türkischer Seite bietet die Rebellenoffensive der Türkei eine strategische Gelegenheit, zu den Grenzen von 2019 zurückzukehren, die in den Deeskalationsvereinbarungen für Idlib vorgesehen waren, die zwischen Moskau und Ankara vereinbart, aber im März 2020 vom syrischen Regime verletzt wurden. Sollte es der Türkei gelingen, ihr Einflussgebiet im Nordwesten Syriens auszuweiten, würde dies folglich die Dominanz der von Washington unterstützten kurdischen YPG-Truppen schwächen.
Für Israel könnte eine Verringerung der iranischen Präsenz in Syrien und ein Vordringen von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) in die Region die lebenswichtigen Versorgungslinien einschränken, über die die Hisbollah im Libanon versorgt wird. Israel versucht, einen Wiederaufbau der Hisbollah nach der Enthauptung ihrer militärischen Führung und der Ermordung von Hassan Nasrallah um jeden Preis zu verhindern. Eine Übernahme der Kontrolle über strategische Straßen, wie die zwischen Aleppo und Damaskus, durch HTS wäre für Israel eine Garantie, dass die Hisbollah ihre militärischen Kapazitäten in naher Zukunft nicht weiter ausbauen kann.
Schließlich stellt ein Rückgang der iranischen Militärpositionen in Syrien auch für Israel einen großen Fortschritt in seinem Kampf um regionalen Einfluss dar. Seit dem 7. Oktober 2023 verstärkt Israel seine Militäroperationen an mehreren Fronten und versucht, das Gleichgewicht der Mächte in der Region neu zu gestalten und sich als die dominierende Macht im Nahen Osten zu etablieren. Eine Verringerung des iranischen Einflusses in Syrien passt perfekt in diese Strategie.
Mittelfristig stellt jedoch auch das Erstarken bewaffneter sunnitischer Strömungen keine „Erleichterung“ für Israel dar. Diese Organisationen könnten sich auf die eine oder andere Weise schnell gegen Israel wenden. Die Stärkung pro-türkischer Milizen könnte Erdogan eine zentrale Rolle verschaffen, der einen günstigeren Gesprächspartner für die Interessen des israelischen Staates darstellt. Doch obwohl Erdogan seine Interessen gut mit denen Israels in Einklang zu bringen weiß, ist dies keineswegs eine sichere Garantie für Netanjahu. Ein wahrscheinliches Szenario scheint die Wiederaufnahme des syrischen Bürgerkriegs zu sein. Kamran Bokhari sagte: „Die Rebellen waren schon immer stark gespalten, was ihre Fähigkeit einschränkt, Damaskus und ihre Hochburgen an der Mittelmeerküste einzunehmen. Selbst wenn es ihnen diesmal gelingt, das Regime zu stürzen, wird das Land in einen Zustand der Anarchie mit verschiedenen bewaffneten Fraktionen, die von unterschiedlichen Regionalmächten unterstützt werden, stürzen.“ Ein solches Szenario könnte Netanjahu Zeit verschaffen, aber es ist schwer zu sagen, ob es die von Israel – und auch von seinen westlichen Verbündeten – gewünschte Perspektive darstellt.
Russland versuchte zwar im Laufe des Samstags zu reagieren, doch das Land ist durch den Krieg in der Ukraine geschwächt und scheint nicht bereit, Truppen nach Syrien zu entsenden. Eine solche Eskalation wird Russland jedoch dazu veranlassen, seinen Marinestützpunkt in Tartus zumindest zu schützen und die Sicherheit dieser strategischen Gebiete zu gewährleisten.
Nach dieser Offensive und dem Wiederaufflammen der Kämpfe und der Gewalt in Syrien sind die Aussichten für die Arbeiter:innen, die Jugend und die unterdrückten Sektoren des Landes (und der Region) mehr als düster. Über das Wochenende tauchten Videos von schrecklichen Kriegsverbrechen auf, die an die schlimmsten Zeiten des Bürgerkriegs erinnerten. Der syrische Bürgerkrieg war von Anfang bis Ende ein reaktionärer Konflikt, der von regionalen Mächten wie dem Iran, Russland oder der Türkei für ihre eigenen Interessen instrumentalisiert wurde und in dem keiner der verschiedenen Protagonisten in irgendeiner Weise eine fortschrittliche Agenda verfolgte – mit Ausnahme vielleicht der kurdischen Kämpfer:innen, die jedoch teilweise vom nordamerikanischen Imperialismus kooptiert wurden. Wenn der Bürgerkrieg wiederbelebt wird, erwartet die Arbeiter:innen und Unterdrückten in Syrien und der Region nichts Gutes.
Dieser Artikel erschien zunächst am 2. Dezember auf Révolution Permanente.