Reaktionäre Invasion

02.09.2024, Lesezeit 20 Min.
Gastbeitrag
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Eine feministische Kritik am Punitivismus im Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt in sozialen Bewegungen. Ein Gastbeitrag von Laura Macaya Andrés.

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Der Punitivismus ist ein wesentlicher Bestandteil der neoliberalen Sicherheitswende. Strategien von Basisbewegungen, um sie zu überwinden, müssen reaktionäre Institutionen und die von ihnen produzierten Subjektivitäten ablehnen.

„Die Politik und die Methoden, die wir heute wählen, um die patriarchale Gewalt zu bekämpfen, die Art und Weise, wie wir vorschlagen, die Taten, deren Opfer Frauen in dieser kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft sind, zu ahnden, zu kontrollieren, zu bestrafen oder aufzulösen, kann nicht im Gegensatz zu der zukünftigen Gesellschaft stehen, die wir ersehnen und für die wir kämpfen“ (Andrea D’Atri).

Eine der besten Leistungen des Feminismus bestand darin, den strukturellen Charakter der geschlechtsspezifischen Gewalt hervorzuheben, der nicht nur Frauen ausgesetzt sind, sondern auch Menschen, die nicht den Geschlechternormen entsprechen. Der Feminismus hat die Idee entwickelt, dass die Existenz von zwei normativen Geschlechtern den Erfordernissen der gesellschaftlichen Reproduktion entspricht, die im Rahmen der geschlechtlichen Arbeitsteilung für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen politischen Ökonomie unerlässlich ist. Darüber hinaus haben bestimmte feministische Strömungen darauf hingewiesen, dass die Menschen, die diejenigen Geschlechternormen, die Männern und Frauen zugewiesen sind, nicht einhalten, häufiger von Diskriminierung, Ausbeutung, Entbehrung oder geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind. All dies hat dazu beigetragen, aufzuzeigen, dass patriarchale, kapitalistische und rassistische Strukturen an diesen Gewalttaten mitschuldig sind. Wenn diese theoretischen und politischen Kontexte uns so viel Komplexität gebracht haben, frage ich mich: Warum sollte man sich damit zufrieden geben, politische Konfigurationen zu reproduzieren, die nicht dieser feministischen Kraft entsprechen, die die strukturellen Ursachen von Prekarität und Leid entnaturalisiert und beleuchtet hat?

In diesem Artikel möchte ich einige Überlegungen zu dem anstellen, was Wendy Brown als „bestimmte gut gemeinte politische Projekte und zeitgenössische theoretische Positionen“ bezeichnet hat, „die unbeabsichtigt genau die Machtkonfigurationen und -effekte neu entwerfen, die sie zu bekämpfen versuchen“. Konkret geht es darum, dass einige feministische Vorschläge und Analysen nicht nur unwirksam sind, wenn es darum geht, Heterosexismus und geschlechtsspezifische Gewalt zu beenden, sondern auch Straflogiken und -praktiken reproduzieren und damit das Überleben neoliberaler Kontrollsysteme und geschlechtsnormativer Subjektivitäten begünstigen.

Die Zunahme des Punitivismus war ein unverzichtbares Element in der Entwicklung neoliberaler Politiken, um die Unsicherheit zu kompensieren, die durch die soziale und wirtschaftliche Prekarität und die Zerstörung von Gemeinschaftsbeziehungen nach der Zerschlagung der westlichen Wohlfahrtsstaaten entstanden ist.

Der Neoliberalismus etabliert nicht nur ein bestimmtes Wirtschaftsregime, sondern stellt auch eine Regierungsform dar. Diese bringt neue Arten von Subjekten hervor, die für die Aufrechterhaltung der sozioökonomischen Ordnung nützlich sind.Daher müssen wir auch dieser produzierenden Dimension der Macht Aufmerksamkeit schenken. Um diese Dimension zu verstehen, die vielleicht noch komplexer ist, könnten wir an die Zuschreibung von „Brutalität“ gegenüber kolonisierten Frauen denken, an die Zuschreibung von Sensibilität und emotionaler Labilität gegenüber Frauen, die die Rolle der „weißen“ bürgerlichen Ehefrauen und Töchter erfüllten, oder an die Zuschreibung von Verfügbarkeit und „exzessivem“ sexuellen Verlangen gegenüber armen Frauen. All dies sind Eigenschaften, die dem weiblichen Körper zugeschrieben werden und die die Ausbeutung, die Reduzierung auf die häusliche Versorgung oder die Entlassung von Frauen im Zuge der neuen neoliberalen Ordnung in den Ländern des Nordens rechtfertigen. Da der Punitivismus ein Schlüsselelement in der Entwicklung neoliberaler Systeme ist, müssen wir auch beachten, dass die Strafgewalt auch Wissen und Kenntnisse über die Subjekte produziert, die von denselben Gesetzen hervorgebracht werden, die sie angeblich vertreten und schützen sollen.

Im Anschluss an diese doppelte Analyse werden wir einige Überlegungen anstellen, wie gewisse politische Strategien und theoretische Ansätze des Feminismus, selbst im Rahmen von Basisbewegungen, den Punitivismus reproduzieren. Das gilt nicht nur für die Umsetzung eindeutig strafender Strategien wie Verachtung, Ausschluss, Exil und Erpressung gegenüber denjenigen, die als Aggressoren gelten, sondern auch in Bezug auf die Art und Weise, wie geschlechtsspezifische Gewalt und die paradigmatischen Subjekte dieser Gewalt interpretiert werden.

Im Folgenden werden wir sehen, welche Züge einige der feministischen Vorschläge mit dem Punitivismus der gegenwärtigen Kontrollsysteme teilen, um in der Lage zu sein, zu reflektieren und Werkzeuge für die Verbesserung unserer kollektiven Strategien des Denkens und politischen Handelns bereitzustellen. Dies ist in der Tat das Ziel dieser Analyse: einige Grundlagen vorzuschlagen, um über effizientere und kohärentere Politiken nachzudenken, und nicht so sehr als destruktive Kritik, für die die Autorin keine Verantwortung übernimmt.

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„Die antipunitivistische Erklärung, die wir anstreben, löst sich gegenüber der Dringlichkeit, der Zurschaustellung des Todes, der sexueller Panik und unseren eigenen ‚hausgemachten‘ Strategien der Militanz auf“. (Catalina Trebisacce)

Mehrere feministische Analysen weisen darauf hin, dass insbesondere seit den 1980er Jahren die Tendenz besteht, einen großen Teil der Forderungen der Frauen auf den Kampf gegen die ihnen angetane Gewalt zu konzentrieren. Wie die Philosophin Paloma Uría erklärt, neigt der Feminismus in diesem Zusammenhang dazu, Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt miteinander gleichzusetzen, und zwar in dem Maße, dass alle Erscheinungsformen der Ungleichheit gegenüber Frauen in den Bereich der Gewalt einbezogen werden. Wie auch die Juristin Tamar Pitch betont, haben „Gewalt“ und „Femizid“ in der feministischen Sprache alle anderen Begriffe verdrängt, was zu der bekannten Tendenz zu strafrechtlichen und strafenden Interventionen und zum weitgehenden Verschwinden anderer Begriffe wie „Herrschaft“ oder „Ausbeutung“ und der spezifischen Strategien zu ihrer Bekämpfung führt.

Diese ausgedehnte Verwendung des Gewaltbegriffs hat nicht nur andere Ausdrucksformen der Ungleichheit gegenüber Frauen verdrängt, sondern auch dazu geführt, dass Akte der Reproduktion von Sexismus, geschlechtsspezifische Belästigungen und sogar unerwünschte sexuelle Annäherungen, Blicke oder Angebote als Gewalt bezeichnet werden.

Diese Tendenz lässt sich innerhalbr feministischer Basisbewegungen an der extrem großen Rolle erkennen, die der Anprangerung von Gewalt gegen Frauen und den Slogans und Parolen, die die Gesamtheit aller Männer als Feinde des Feminismus, als die üblichen Verdächtigen, wenn nicht gar als potenzielle Aggressoren ins Visier nehmen, beigemessen wird. Mobilisierungen zur Verteidigung der Arbeitsrechte von Sexarbeiterinnen oder Hausangestellten, Kämpfe gegen die Ausbeutung von Arbeitskräften, das Lohngefälle, den erschwerten Zugang zu Wohnraum für arme, rassifizierte oder trans Frauen oder die polizeiliche Unterdrückung von Aktivist:innen oder stigmatisierten Gruppen werden dagegen viel weniger beachtet und unterstützt, und die Medien gehen viel weniger darauf ein.

Diese „Ausweitung“ des Konzepts der geschlechtsspezifischen Gewalt hat dazu geführt, dass sich Frauen in ihrem Alltag und vor allem in ihren Beziehungen zu Männern und bei der Nutzung des öffentlichen Raums immer stärker gefährdet fühlen. Es entsteht eine Art moralische Panik, eine sexuelle Panik, die eine Überdimensionierung der sexuellen Risiken beinhaltet, die den Handlungen bestimmter Personen oder Gruppen zugeschrieben werden, was unweigerlich zu Irrationalismus und Konservatismus führt.

Die Entstehung einer neuen Kultur der Verbrechensbekämpfung im Neoliberalismus ist gekennzeichnet durch die präventive Logik, die Masseneinkerkerung und die Stigmatisierung bestimmter sozialer Gruppen, die als potenzielle Risikoproduzent:innen gelten, im Gegensatz zum paradigmatischen neoliberalen Subjekt, dem „unternehmerischen Selbst“. Diese vermeintlichen Risikopersonen oder -gruppen werden auf der Grundlage rassistischer und klassenspezifischer Kriterien definiert, und da sie als Ursache für die wachsende Unsicherheit in der Bevölkerung identifiziert werden, wird eine Politik der Nulltoleranz gegenüber ihrem Verhalten angewandt, das härter verfolgt und bestraft wird. Andererseits werden verlogene Ankündigungen von Nulltoleranz gegenüber Verbrechen seltener gegen erfolgreiche Einzelpersonen oder gegen umweltverschmutzende oder ausbeuterische Unternehmen gerichtet. Damit wird die bekannte, sehr selektive Tendenz des staatlichen Strafsystems in Gang gesetzt, das der Verfolgung und härteren Bestrafung von Verbrechen, die eher von armen oder stigmatisierten Menschen begangen werden, Vorrang einräumt. All dies verschleiert die Tatsache, dass die wirklichen Ursachen für die wachsende individuelle und soziale Unsicherheit eher in der Entbehrung, der Armut, dem fehlenden Zugang zu Wohnraum, dem Abbau von Arbeits-, Sozial- und Bürger:innenrechten usw. liegen, die das Ergebnis eines gefestigten spekulativen und extraktivistischen Kapitalismus sind, als in den Handlungen von Einzelpersonen oder bestimmten Gruppen.

Wenn bestimmte feministische Strategien die strukturelle Natur der geschlechtsspezifischen Gewalt vergessen und ihre Interventionen auf Einzelpersonen konzentrieren, die oft Teil der eigenen politischen und affektiven Gemeinschaften des Opfers sind, oder wenn sie die gesamte Gruppe der Männer als potenzielle Risikoproduzenten definieren, reproduzieren sie die Formen, in denen die strafende Kontrolle im staatlichen Rahmen des Neoliberalismus stattfindet. Diese für den Strafvollzug typische Vereinzelung des Risikos reißt den Konflikt aus seinem gemeinschaftlichen Rahmen heraus, stellt die Interessen des Opfers denen des Angreifers gegenüber und erhebt sie sogar über die Interessen der Gemeinschaft, zu der es gehört. Der atomisierende Charakter neoliberaler Systeme kommt dabei zum Tragen, was das Gefühl der Einsamkeit, der Entwurzelung und damit des Risikos nur noch verstärkt.

Die Ursachen des Risikos werden in Richtungen umgeleitet, die das Funktionieren einer gegebenen politischen Ökonomie nicht in Frage stellen, d.h. gegen einzelne Menschen in den prekären Lebensverhältnissen, in denen das neoliberale Regime uns leben lässt, was die Kultur der Dringlichkeit und des Notstands nährt. Der strafende Diskurs des Populismus beruht auf einem Irrationalismus, der die Angst vor Verbrechen schürt und Strafmaßnahmen wie die übermäßige Verschärfung von Haftstrafen, Sicherheitsmaßnahmen oder präventive Kontrollen rechtfertigt. Auf dieselbe Weise rechtfertigen Erklärungen des „feministischen Notstands“ jede individuelle oder kollektive Maßnahme, ohne deren Kosten, Effizienz oder Zweckmäßigkeit zu bewerten. Mit schwammigen Analysen, die mit Slogans wie „sie bringen uns um“ an die Emotionalität appellieren, wird die Kultur des Notstands und der Ausnahmesituation aktiviert, die auf die Akzeptanz und Wiederholung von gesetzlichen Regelungen auf der Suche nach einer vermeintlich verlorenen Sicherheit abzielt. Dadurch wird der Punitivismus als das kleinere bekannte Übel, das am schnellsten angewandt werden kann, akzeptiert. Sowohl die Zivilgesellschaft als auch die politischen Entscheidungsträger:innen sind sich der Ineffizienz staatlicher Strafverfolgungsinstitutionen bei der Verbrechensbekämpfung bewusst. Trotzdem neigen die derzeitigen neoliberalen Kontrollsysteme, wie David Garland erläutert hat, entweder dazu, diese Fakten zu leugnen, oder sie in einer symbolischen Wendung zu akzeptieren, bei der die Möglichkeit, den Ursachen des Verbrechens auf den Grund zu gehen, aufgegeben wird. Stattdessen wird sich dann auf Maßnahmen konzentriert, um der Wut, der Angst und dem Hass, die das Verbrechen hervorruft, Ausdruck zu verleihen. Auch der Ansatz einiger feministischer Strömungen in Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt schwankt zwischen diesen beiden Extremen: Entweder wird der Punitivismus als „es muss etwas getan werden“ akzeptiert, was zu einer Verstärkung der Strafkultur führt, oder die Forschung und die rationale und ruhige Analyse der Gewaltursachen werden zugunsten einer expressiven Politik aufgegeben, bei der Wut- und Racheausbrüche zur zentralen Achse werden. Dies hat nicht nur verheerende Auswirkungen auf die emotionale Gesundheit der Aktivist:innen und der Opfer. Es stellt auch die Kontinuität eines emanzipatorischen und befreienden Vorschlags wie des Feminismus in Frage, der sich schließlich der Ohnmacht gegenüber sozialem Wandel und Veränderungen ergibt.

Aus dieser Ohnmacht heraus konzentriert der Feminismus häufig seine politischen Strategien: entweder auf die Forderung nach staatlichem Schutz und der Stärkung des Strafsystems oder auf die Reproduktion der Strafkultur. Die Verstärkung des Punitivismus vonseiten einiger feministischer Strömungen beschränkt sich nicht nur auf die Vorschläge eines Gefängnisfeminismus, der Schutz im staatlichen Zwangssystem fordert. Die Kultur der Strafe durchdringt viele feministische politische Vorschläge, weil sie ihre Logik der Individualisierung eines gesellschaftlichen Problems, der Vereinfachung des Ziels, der Radikalisierung und „Bereicherung“ des Konflikts oder der Freund-Feind-Logik reproduziert (vgl. Nuñez, Lucía).

In diesem Sinne finden sich politische Vorschläge, die als Antwort auf Taten gegen Frauen oder LGBTIQ+-Personen eine verschärfte Ahndung von Hassverbrechen oder mehr und höhere Strafmaße fordern. Dadurch wird das Strafsystem verstärkt, das massive Gewalt gegen die verletztlichsten Gruppen ausübt und gegenüber denselben Gruppen als Aggressor auftritt, die es zu schützen vorgibt.  Aber es gibt auch politische Vorschläge, die an die Selbstverwaltung von Konflikten appellieren, deren Strategien zur Bekämpfung der geschlechtsspezifischen Gewalt beispielsweise Exil, Ausschluss, Erpressung, sich als Aggressor zu erkennen zu geben, öffentliche Denunziationen ohne Garantien oder überwachte „reparative Therapien“ sind. Dies ohne auf die Slogans oder Kampagnen einzugehen, die die physische Beseitigung oder Amputation der Aggressoren fordern. Ich halte es für wichtig, diese Strategien kritisch und rigoros zu bewerten, die nicht nur die repressiven Techniken der Strafsysteme reproduzieren, sondern auch die Gewalt nicht beenden, die ethische Qualität unserer Vorschläge verschlechtern, auf eine Transformation verzichten, Gemeinschaften zerstören und schließlich die am stärksten marginalisierten und unterversorgten Teile dieser Gemeinschaften am negativsten beeinflussen. Das soll nicht heißen, dass einige dieser Vorschläge unter bestimmten Umständen nicht notwendig sind, zum Beispiel wenn es sich bei dem Täter um einen Wiederholungstäter handelt, wenn es zu einer schweren Aggression gekommen ist und keine Absicht zur Wiedergutmachung besteht, oder wenn das Opfer oder die Gemeinschaft ernsthaft gefährdet sind. Nicht alles ist erlaubt, und in den Fällen, in denen eine strafende Maßnahme kollektiv als notwendig erachtet wird, sollte sie an die Werte des notwendigen Minimums angepasst werden, ohne darauf zu verzichten, den Aggressor zu begleiten, und ausgehend von dem Bewusstsein, dass damit gegen die Auswirkungen der Gewalt, nicht aber gegen ihre Ursachen vorgegangen wird.

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„Wir haben die subjektiven Verwüstungen erlebt, die eine Pädagogik der Angst, der Scham und des Exils verursacht, weshalb wir sehr sorgfältig sein müssen, wenn es darum geht, diese Art von Politik der Transformation der Subjekte zu verstärken.” (Virginia Cano)

Einer der am wenigsten sichtbaren Kritikpunkte am Punitivismus bezieht sich darauf, wie er die Subjekte konstruiert, die er zu vertreten und zu schützen vorgibt. Strafgesetze sprechen nicht nur von Subjekten, die in ihrer eigenen Äußerung bereits existieren, sondern fungieren vor allem als Technologien des Geschlechts, das heißt, sie konstruieren normative Weiblichkeit und Männlichkeit. Eines der deutlichsten Beispiele für diesen produzierenden Charakter ist die Konstruktion einer Opferidentität, in der die Einhaltung der hegemonialen Weiblichkeitsnormen gefordert wird, um als solche anerkannt zu werden, mit der Folge, dass die Opferkategorie in den Körpern der Frauen identifiziert wird. Die neoliberale Rationalität wird zunehmend mit der von Brown als neokonservativ bezeichneten Rationalität vermengt, die „die Tugenden der Familie und des traditionellen Geschlechts predigt und eine Heteronormativität fördert, die der eines bestimmten Feminismus nicht unähnlich ist: Gewaltlosigkeit, Freundlichkeit usw.“. Eines der Merkmale der neoliberalen Kontrollsysteme ist das Wiederauftauchen des Opfers als individuellem Akteur, der häufig zur Rechtfertigung von Strafmaßnahmen zur Verteidigung seiner angeblichen Interessen herangezogen wird. Die Opfer, die in Anspruch genommen werden, sind diejenigen, die die Reproduktion der Werte der hegemonialen Weiblichkeit unterstützen, mit der bekannten Verleugnung von Opfern mit unterschiedlichen Geschichten oder Erfahrungen oder mit transgressiven Weiblichkeiten, und dem Entzug von Rechten, die ihnen zustehen sollten, unabhängig von ihrer moralischen Qualität oder ihrer Affinität zur Norm.

Leider reproduzieren einige feministische Strömungen diese Glorifizierung von Opfern und die ihnen zugewiesenen normativen Werte. Dass einige feministische Strömungen eine größere Hegemonie erreicht haben, trägt dazu bei, dass sie zu einer Maschine werden, die normatives Wissen darüber produziert, was es bedeutet, ein guter Mensch zu sein, guten Sex zu haben, eine gesunde Beziehung zu führen usw. Aufgrund des expansiven Gebrauchs des Gewaltbegriffs, den wir bereits erörtert haben, wird man bei Verstößen gegen die sexuellen Normen dieser feministischen Strömungen schnell entweder zum Täter oder zum Opfer. Kriminalisierung und Viktimisierung sind eine Paarung, die nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen Frauen selbst funktioniert. Indem jede nicht einvernehmliche sexuelle Handlung – unabhängig von ihrer Intensität – wie ein Blick, eine Andeutung oder eine sexuelle Aufforderung als Aggression eingestuft wird, werden Frauen als verletzliche, überempfindliche, lustlose und ängstliche Wesen eingestuft. Diese Eigenschaften bilden die notwendige Voraussetzung für die Entstehung eines neuen Opfersubjekts, das für die expansive Anwendung des Strafsystems und der Straflogik in unseren aktivistischen Kontexten unerlässlich ist. Aber gleichzeitig werden die Frauen zur Machtlosigkeit verurteilt, aus der heraus es für sie schwierig ist, Protagonistinnen der dringend notwendigen persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen zu sein. Die Normierung der Sexualität nach vermeintlich feministischen Werten modelliert sexuelle Erfahrungen, aber auch die Erfahrung des eigenen Körpers und unzulässige Eingriffe in diesen. Die neuen normativen Zwänge des Feminismus in Bezug auf Sexualität und Gewalt begünstigen den Ausschluss von Schutz und Misstrauen gegenüber den “falschen” Opfern und verstärken die normativen Werte weiblicher Sexualität, die der Unterdrückung zugrunde liegen.

Andererseits ist dies auch unter dem Gesichtspunkt der Begleitung der Genesung der Opfer dramatisch und in hohem Maße kontraproduktiv. Die Gewalterfahrung und die Art und Weise, wie die Opfer sie selbst interpretieren und leben, hat viel mit den vorhandenen Diskursen über Sexualität und der Vorstellung vom Körper der Frau zu tun. So begünstigen Diskurse, die eine sakralisierte Sicht der weiblichen Sexualität vorantreiben und die kleinste sexuelle Anmache oder Offerte als Aggression werten, die Entwicklung einer verletzlichen, infantilisierten und überempfindlichen Identität, die nur für jene Frauen geeignet ist, die es sich leisten können, sich in eine Position der Machtlosigkeit zu begeben, um ihr Leben in Ordnung zu bringen. Die Modellierung von Gewalterfahrungen durch den Feminismus hat perverse Auswirkungen auf unterprivilegierte Frauen: Denn indem er Bedeutungen wie Passivität, Verantwortungslosigkeit, Irrationalismus und Infantilismus übernimmt, diszipliniert er sie im Interesse der Frauen in den herrschenden Klassen und übersieht dabei, dass arme, rassifizierte, trans Frauen oder Frauen in verletztlicheren Umständen nicht die gleichen Vorrechte und die gleiche Anerkennung genießen wie weiße, heterosexuelle, einheimische oder bürgerliche Frauen. Selbst im Rahmen feministischer Basisbewegungen werden Opfer, die ermutigt wurden, ihren Fall sichtbar zu machen, und die dazu gedrängt wurden, schmerzhafte und sogar übertriebene Interpretationen ihrer Erfahrungen vorzunehmen, am Ende des Prozesses oft aufgegeben – gerade deshalb, weil die Forderungen und die Unbeweglichkeit am Ort des Opfers genährt wurden. Was anfangs einen Nutzen hat, der der eigenen politischen Existenz einen Sinn verleiht, endet in den extremsten und strafenden Praktiken als lästig für diejenigen, die aus dem Opfer politischen Profit schlagen. Denn das Opfer wird schließlich zu einem unbequemen Begleiter, aufgrund des Schmerzes und des Irrationalismus, für dessen Stärkung und Verewigung wir verantwortlich sind, indem wir es in eine Identitätstatsache umwandeln, die ihm Legitimität und Existenz verleiht.

Darüber hinaus wird durch die Bedeutungen, die der Kategorie des Opfers zugeschrieben werden (gütig, aufrichtig und unverantwortlich), die Frage der Erlangung von Rechten moralisiert, die aber auf objektiven Ursachen und nicht auf der Tugendhaftigkeit der angegriffenen Frauen beruhen sollten. Des Weiteren verleugnet diese Verteidigung der Tugendhaftigkeit und der moralischen Überlegenheit der Opfer andere komplexe Sachverhalte, wie z. B. die Realität falscher Anschuldigungen, deren Anzahl zwar gering ist, die aber dennoch existieren. Die Verleugnung dieser Realität seitens des Feminismus überlässt die Interpretation des Phänomens der extremen Rechten, die sich darauf spezialisiert hat, die mangelnde Konsequenz einiger dieser Bewegungen hervorzuheben und auszunutzen.

Im Gegensatz dazu werden die Angreifer von einigen feministischen Bewegungen auf die gleiche Weise behandelt wie das staatliche Zwangssystem, vor allem nach dem Verständnis, dass der Schutz und die Verteidigung der Interessen des Opfers mit der Bestrafung, dem Hass oder der Missachtung der Rechte oder Garantien des Angreifers einhergehen muss. Diejenigen, die angreifen, werden als Feinde betrachtet, und es ist schwer zu verstehen, dass ihre Handlungen sehr verschiedener Natur sein können, d. h. sie können punktuell und nicht wiederholt sein, sie können wiederholt werden, sie können das Ergebnis verschiedener Faktoren in der Konfiguration der Subjektivität sein und nicht nur durch den Wunsch nach männlicher Dominanz verursacht werden, sie können als Ergebnis des Unbehagens auftreten, das sich daraus ergibt, Teil einer stigmatisierten oder bestraften Gruppe zu sein, oder als Reaktion auf erlebte Ohnmacht oder andere Gewalt. Das Verständnis dieser Komplexität bedeutet nicht, dass der Aggressor nicht zur Verantwortung gezogen wird, wie es manchmal dargestellt wird, sondern vielmehr, dass die Analyse rigoros sein muss, um die richtigen politischen Strategien zur Verhinderung und Behebung von Gewalt im Rahmen unserer politischen und affektiven Gemeinschaften zu finden.

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„Ein Feminismus, der sich dafür einsetzt, unsere Handlungsfähigkeit, unsere Entscheidungsgewalt zu erweitern, der sich dafür einsetzt, die strukturellen und individuellen Spielräume für Freiheit und Sicherheit für Frauen zu erweitern, aber in dem Wissen, dass das Leben unsicher ist und dass totale Sicherheit unmöglich ist und im Widerspruch zur Freiheit stehen kann.“ (Cristina Garaizábal)

Wie eingangs erwähnt, trägt all dies zum Fehlen struktureller Analysen der Gewalt bei, auf die wir unsere politischen Strategien stützen können. Die punitivistische Tendenz zum Partikularismus, zur Atomisierung und zur Zerstörung der Gemeinschaft ist das Ergebnis eines essentialistischen und identitären Feminismus, der Einheit und Treue zu den internen Axiomen fordert, die den privilegiertesten Teilen der Gruppe der Frauen und LGBTIQ+-Personen am meisten nützen. Ausgehend von der Unbeweglichkeit und der Unmöglichkeit interner Kritik etabliert dieser Feminismus Zensur und den Vorwurf der Komplizenschaft mit dem „Feind“ als Strategien zur Neutralisierung von Personen, die von den hegemonialen Positionen abweichen. Damit werden nicht nur interne Säuberungen und der Ausschluss der schwächsten Teile der Gruppe der „Frauen“, wie Sexarbeiterinnen oder Transfrauen, gerechtfertigt, sondern es werden auch Botschaften, Slogans und Analysen unterstützt, die nicht nur lasch, sondern geradezu lächerlich sind. Zusammen mit den summarischen Urteilen über das Leben von Genoss:innen, die darauf zurückzuführen sind, strukturelle und übergreifende Kämpfe zugunsten des Feminismus als „Lebensweise“ aufgegeben zu haben, besteht die Gefahr, dass die transformative Kraft einiger Strategien des Feminismus verloren geht.

Wie die argentinische Philosophin Moyra Pérez sagt, „bin ich persönlich mehr daran interessiert, darüber nachzudenken, wie ein Justizsystem aussehen würde, das auf Gleichheit und soziale Gerechtigkeit für alle Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, ausgerichtet ist, aber das Geschlecht als einen Faktor – neben anderen – von Ungerechtigkeit und Unterdrückung berücksichtigt“. Von diesem Standpunkt aus können wir an eine emanzipatorische Bewegung denken, zu der feministische Strategien ebenso gehören wie die anderer spezifischer Bewegungen. Eine kollektive Kraft, die, wie Núria Alabao sagt, die laufenden Kämpfe zusammenführen kann, nicht nur die zur Verteidigung der sexuellen und geschlechtlichen Freiheit, sondern auch die, die sich auf der Grundlage der Umverteilung des Reichtums und der Herausforderung der neoliberalen Kräfte artikulieren.

Wir können es uns nicht leisten, auch nur im Geringsten zur Stärkung reaktionärer Institutionen beizutragen, die Gewalt und Benachteiligung gegenüber den weniger Privilegierten verursachen. Diese Notwendigkeit wird umso deutlicher, je vielfältiger unsere Gemeinschaften werden und je mehr wir uns bewusst werden, wen wir zurücklassen, wenn wir bestimmte politische Konfigurationen befürworten. Aus diesem Grund plädieren viele von uns ungeniert dafür, sich nach gemeinsamen politischen Zielen zu organisieren, aber ethisches und politisches Engagement und Solidarität über eine politisierte Identität zu stellen.

Dieser Artikel wurde zuerst auf Katalanisch in der Monographie Nr. 5 „Vom Persönlichen zum Politischen“ der katalanischen Zeitschrift Catarsi (Herbst-Winter 2021) veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung basiert auf der spanischen Erstübersetzung bei Ideas de Izquierda vom 27. Februar 2022.

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