Räumung verhindert!

05.07.2014, Lesezeit 10 Min.
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// Etappensieg von Refugees und Unterstützer­Innen gegen die Militarisierung des Kiezes! //

Die endgültige Durchsage kam um Mitternacht von Mittwoch auf Donnerstag: „Die Absperrungen werden jetzt abgebaut“, tönte der Lautsprecher der Polizei in der Ohlauer Straße in Berlin-Kreuzberg. Hunderte Menschen übersprangen daraufhin die Polizeigitter und liefen vor die ehemalige Gerhart-Hauptmann-Schule, die neun Tage lang von weit über Tausend PolizistInnen aus mindestens fünf Bundesländern belagert worden war. Der Jubel von Geflüchteten, UnterstützerInnen und AnwohnerInnen über das Ende der Militarisierung des Kiezes brach sich mit spontanen Umarmungen, Musik und Feuerwerk Bahn. Vorausgegangen waren tagelange Verhandlungen zwischen den in der Schule verbliebenen Refugees und der grünen Bezirksregierung, nachdem diese am 24. Juni einen der massivsten Polizeieinsätze der letzten Jahre angefordert hatte, um die seit anderthalb Jahren von mehreren hundert Geflüchteten besetzten ehemaligen Schule zu räumen.

Die Geschehnisse der letzten Tage rund um die Schule zeigten in aller Deutlichkeit, was die deutsche Bourgeoisie und ihre ausführenden Organe den in Deutschland lebenden Refugees und ihren UnterstützerInnen anzubieten hat: massive Polizeigewalt, die Aushebelung von elementarsten Rechten und eine Militarisierung der Nachbarschaft, wie sie in der jüngeren Geschichte Berlins ihresgleichen sucht. Verantwortlich dafür: die Kreuzberger Grünen, der Berliner Senat und die Polizei, die in den vergangenen Tagen Kreuzberg tyrannisiert hat. Diese Politik steht in Kontinuität zur De-Facto-Abschaffung des Asylgesetzes durch CDU/CSU, SPD und FDP 1993 bis hin zur Ausweitung der Dritt-Staaten-Regelung (die die Abschiebung besonders von Roma-Familien vereinfacht), die am vergangenen Donnerstag im Eilverfahren durchgewunken wurde.

Nachdem schon im April der symbolische Oranienplatz, der seit Herbst 2012 von Refugee-AktivistInnen besetzt war, mit Hilfe perfider Spaltungsmanöver des Berliner Senats und der „Integrationssenatorin“ Kolat (SPD) geräumt wurde, war in den Augen der grünen Bezirksregierung am Dienstag letzter Woche auch die Gerhart-Hauptmann-Schule an der Reihe. Besonders scheinheilig ist dabei, dass die Grünen sich in den vergangenen Tagen immer wieder selbst als Opfer der Umstände, ja quasi als gleichermaßen vom Berliner Innensenator Henkel (CDU), von der Polizei und von den Refugees Erpresste, dargestellt haben, um vergessen zu machen, dass sie selbst es waren, die die Räumung der Schule durch schwerbewaffnete Polizeieinheiten angeordnet haben. Scheinheilig auch, dass sie den schon letzten Dienstag erzwungenen Auszug von mehr als 200 Geflüchteten und mehreren Roma-Familien als „freiwillig“ bezeichneten. Welcher freiwillige Umzug braucht über tausend „Umzugshelfer“ mit Schlagstöcken, Pfefferspray und Tränengas, Handfeuerwaffen, bis hin zu Maschinenpistolen?

Etappensieg in einem Abwehrkampf, noch kein Sieg der Forderungen der Geflüchteten

Die nach unterschiedlichen Angaben zwischen 40 und 80 Refugees, die sich der Erpressung durch die Staatsgewalt verweigerten, wurden in den letzten neun Tagen von Polizei, Bezirk und Senat massivst psychisch und physisch unter Druck gesetzt. Die Mittwoch Abend erreichte Einigung trägt denn auch deutlich die Handschrift der Verzweiflung, sowohl in ihrem Zustandekommen als auch in ihrem Inhalt.

Erreicht wurde die Einigung letztlich durch drei Faktoren: Zuallererst und angesichts der zukünftigen Perspektiven am Bedeutendsten (im positiven wie negativen Sinne) die gleichzeitige Verzweiflung und Entschlossenheit der Refugee-AktivistInnen selbst. Im vollen Bewusstsein dessen, dass in der aktuellen Situation ohne eine breite gesellschaftliche Allianz angesichts der Räumungsdrohung nur noch ihr eigener Körper als Waffe herhalten konnte, drohten sie mit Selbstmord und Brandstiftung der Schule. Ihre Entschlossenheit gibt zwar Mut für weitere Kämpfe; ganz klar wurde aber auch, dass ihre verzweifelte Lage bisher zu keiner politischen Strategie geführt hat, die über immer neue Suiziddrohungen hinaus Perspektiven des Kampfes entwickeln konnte. Der zweite zentrale Faktor war die massive Solidarität von Tausenden UnterstützerInnen und AnwohnerInnen während der Tage der Blockade der Schule. Die massive Polizeipräsenz sorgte so für eine Welle der Solidarität, wie sie in den Monaten zuvor lange nicht mehr gesehen worden war. Hunderte Menschen harrten Nacht für Nacht an den Blockaden aus, spendeten Geld, Essen, Schlafsäcke und Ähnliches, organisierten Demonstrationen, AnwohnerInnentreffen, Besetzungen von Parteizentralen der Grünen und wurden selbst immer wieder Opfer von Polizeigewalt.

Letztlich war aber der dritte Faktor wohl der entscheidende: Weil die Grünen offenbar nicht mit derart massiven politischen Kosten gerechnet hatten (Berlin-Kreuzberg ist eine ihrer Hochburgen in der gesamten Bundesrepublik), schwankten sie immer wieder zwischen „Verhandlungen“ (besser gesagt Drohungen) und dem direkten Befehl zur Räumung. Das führte zu Konflikten innerhalb der Partei, mit dem Senat und selbst mit der Polizei. Am Montag hatte Polizeipräsident Kandt der grünen Bezirksregierung ein Ultimatum gestellt, sich endlich zu entscheiden, um den Polizeieinsatz, der laut einigen Quellen über fünf Millionen Euro gekostet hat, durch Abzug oder Räumung zu beenden. Die politische Unentschiedenheit, die Kampfkraft der Refugees und die massive Solidarität sorgten dann letztlich für den „Erfolg“ der Verhandlungen.

Der fade Beigeschmack der Einigung bleibt allerdings erhalten. Zum einen, weil weiterhin unklar ist, ob alle Refugees, die in der Schule ausgeharrt hatten, der Einigung zugestimmt haben und überhaupt von ihr betroffen sind; zum anderen, weil die Konditionen der Einigung kein Wort über die eigentlichen Forderungen der Geflüchteten nach Anerkennung ihres Aufenthaltsstatus‘, nach Recht auf Bildung und Arbeit usw. verlieren. Die Einigung ist somit ganz klar kein unumstößlicher Sieg im Kampf für die Rechte von Geflüchteten, sondern lediglich die Verhinderung der Räumung durch Zugeständnisse seitens der Refugees an den grünen Bezirk. Oder anders gesagt: Die Kreuzberger Grünen haben die Kräfteverhältnisse unterschätzt, die reaktionäre Asylpolitik, für die sie selbst mitverantwortlich sind, gewaltsam durchzusetzen. Diese politische Niederlage der Grünen und das Ende der massiven Polizeipräsenz im Kiez (wobei die Schule weiterhin von Einheiten „bewacht“ und kontrolliert werden soll) stellen einen Teilerfolg in einem sehr defensiven Kampf dar. Fortschritte im Kampf um gleiche Rechte für alle Menschen in diesem Land sind damit noch lange nicht getan.

Im Kontext der drohenden Räumung der Schule in der Ohlauer Straße hatte am 1. Juli der Refugee Schul- und Unistreik stattgefunden. Mit einer Beteiligung von mehr als 2.000 SchülerInnen und Studierenden zog die kämpferische Demonstration in Unterstützung der Geflüchteten durch die Berliner Innenstadt auch an der Ver.di-Zentrale vorbei und forderte die Unterstützung der Gewerkschaften im Kampf für die Geflüchteten. Die Demonstration endete am Spreewaldplatz, wo die Polizei mit Gewalt in die Demo eingriff. DemonstrantInnen wurden mit Tränengas und Schlagstöcken angegriffen und drei SchülerInnen befinden sich mit Augenverletzungen und Nasenbrüchen im Krankenhaus.

Für eine Kampagne für die Rechte der Geflüchteten und gegen die massive Polizeigewalt!

Für eine Ausweitung des Kampfes ist es nicht nur notwendig, massiv SchülerInnen, Studierende, AnwohnerInnen, weitere solidarische UnterstützerInnen und Refugees zu mobilisieren, sondern den Kampf auf weitere soziale Schichten auszudehnen, insbesondere auf betriebliche und gewerkschaftliche Strukturen, die kraft ihrer Stellung im Produktionsprozess bessere Erzwingungsmöglichkeiten gegenüber dem Staat besitzen. Die massive Polizeipräsenz und staatliche Gewalt gegen Refugees, AnwohnerInnen und UnterstützerInnen der letzten Tage, die den Kiez rund um die Schule in der Ohlauer Straße in ein fast schon militärisch bewachtes Sperrgebiet verwandelt haben, ist zwar beendet, doch nichtsdestotrotz kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein reaktionärer Präzedenzfall geschaffen werden sollte: In einem historischen ArbeiterInnenbezirk wie Berlin-Kreuzberg hat die Bezirksregierung der Grünen versucht, ein Exempel der Durchsetzung der rassistischen Aufenthaltsgesetze zu statuieren. Dafür war sie sich nicht zu schade, mehr als Tausend PolizistInnen über einen Zeitraum von über einer Woche einzusetzen, um tausende Menschen zu tyrannisieren. Um minderjährige SchülerInnen krankenhausreif zu schlagen.

Um das Leben von dutzenden Refugees zu riskieren, die in ihrer Verzweiflung kein anderes politisches Mittel als die Drohung zum Selbstmord mehr sahen. In dieser Situation ist es eine unmittelbare Aufgabe für alle Linken und RevolutionärInnen, für eine massive demokratische Kampagne gegen Polizeigewalt und für die Rechte von Geflüchteten aufzurufen, und dafür breite Unterstützung von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und Menschenrechtsorganisationen zu fordern. Ein Teil dieser Kampagne kann eine Unterschriftensammlung von SchülerInnen und LehrerInnen sein, die die Gewerkschaft der LehrerInnen GEW zur Verurteilung der Polizeirepression aufruft.

Diese Kampagne muss die politische Verantwortung der grünen Bezirksregierung genau wie des schwarz-roten Berliner Senats, der Polizei mehrerer Bundesländer und natürlich vor allem der deutschen Bundesregierung anprangern, die im Verbund die reaktionären und rassistischen Asylgesetze aufrechterhalten. Denn während die Ohlauer Straße tagelang ein Sperrgebiet war, bereitet sich die Bundesregierung gerade darauf vor, die Asylgesetzgebung in Deutschland weiter zu verschärfen. Das zeigt ganz klar, dass die herrschende Klasse und ihre Parteien nicht das geringste Interesse daran haben, die Bedingungen für Geflüchtete, für MigrantInnen und für sonstige von Rassismus betroffenen Menschen zu verbessern. Im Gegenteil profitiert sie von dieser reaktionären Politik der Spaltung der Bevölkerung. Insofern ist auch klar, dass selbst kleine Etappen-Forderungen, die an die Regierung gestellt werden (etwa die Anwendung des §23 des Aufenthaltsgesetzes auf die Refugees in der Ohlauer Straße), keine Bittstellung sein können, sondern nur durch eine massive Kampagne auf der Straße, in Betrieben, Schulen und Universitäten durchgesetzt werden können. Ganz zu schweigen von einem Ende der rassistischen Asylpolitik, der europäischen „Grenzschutzmission“ Frontex und Forderungen für ein uneingeschränktes Bleiberecht, Recht auf Bildung, Arbeit und Organisation für Geflüchtete.

Der Teilsieg gegen die Räumung der Ohlauer Straße darf deshalb kein Ausruhen bedeuten, sondern muss im Gegenteil für eine neue Dynamik im Kampf für gleiche Rechte für alle bedeuten. Die Erfahrungen von Solidarität, die in den letzten Tagen gemacht wurden, sind der fruchtbarste Boden für eine breite gesellschaftliche Kampagne, die es jetzt aufzubauen gilt!

Remonstrieren als politische Alternative?

Bei den Blockaden gegen die Polizeipräsenz in der Nähe der Ohlauer Straße wurde am 1. Juli auch eine neue Forderung laut: Die eingesetzten PolizistInnen sollten Remonstrieren, d.h. die Befolgung weiterer Befehle verweigern. Tatsächlich ist es PolizistInnen legal möglich, aus moralischen Gründen oder aus Gründen ihrer eigenen rechtlichen Einschätzung der Situation Befehle zu verweigern. Insofern ist es einerseits konsequent, die PolizistInnen auf ihre eigene Verantwortung bei der gewaltsamen Durchsetzung der Interessen der Regierung und der herrschenden Klasse hinzuweisen – denn sie können sich nicht auf den legalen Zwang der Befehlsverfolgung berufen. Andererseits aber vergisst diese Forderung völlig den grundlegenden Charakter der Polizei als Garant der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung. Es ist doch geradezu zynisch, an die moralische Verantwortung einzelner PolizistInnen zu appellieren, die nur Stunden zuvor minderjährige SchülerInnen brutalst angegriffen haben, und von ihnen Einsicht zu verlangen, ihre Position zu verlassen.

Als MarxistInnen sagen wir demgegenüber ganz klar: Diese PolizistInnen wissen genau, was sie tun. Die Funktion der Polizei ist es, der bewaffnete Arm der Bourgeoisie gegen die eigene Bevölkerung zu sein. Ihr materielles Überleben ist vom Überleben des bürgerlichen Staates abhängig. Salopp ausgedrückt, PolizistInnen sind gewiss keine Schweine, aber die Polizei ist ein Saustall. Das heißt natürlich nicht, dass nicht in gewissen Situationen einzelne PolizistInnen ihr Handel in Frage stellen könnten, aber die Polizei als Institution hat per Definition die Aufgabe, Gewalt gegenüber den unterdrückten Klassen durchzusetzen. Das umso mehr, wenn es sich um Menschen handelt, die in diesem Land illegalisiert und jeglicher demokratischer, sozialer und politischer Rechte beraubt werden. Die Aufforderung an die PolizistInnen zu remonstrieren verkennt diese Tatsache völlig.

Stattdessen ist es notwendig klarzustellen: Der Erfolg im Kampf um die Rechte von Geflüchteten hängt nicht im Geringsten davon ab, ob einige einzelne PolizistInnen den Dienst quittieren, sondern im Gegenteil von der Massivität der Proteste, deren Repression in keinen Verhältnis mit den politischen Kosten steht! Es ist ein schwerwiegender politischer Fehler, auf das individuelle Gewissen einzelner Polizistinnen zu setzen, denn dadurch wird die Frage der Repression und ihr Klassencharakter verdeckt. Die einzige Alternative ist der entschlossene Kampf gegen die staatlichen Strukturen, die die reaktionären und rassistischen Asylgesetze Tag für Tag durchsetzen.

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