„Rassismus lässt sich nur aus einer materialistischen Perspektive verstehen und bekämpfen“

27.10.2016, Lesezeit 6 Min.
1

In dem Seminar "Rassismus im Kapitalismus" gehen seit letzter Woche Studierende am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften (OSI) der FU Berlin den Wurzeln dieser bestimmten Unterdrückungsform in der aktuellen Produktionsweise des Kapitalismus auf den Grund. Ein Gespräch mit der Lehrbeauftragten Eleonora Roldán Mendívil. Auf dem Titelbild: Streik beim deutschen Automobilzulieferer Hella 1973, von und mit migrantischen Arbeiter*innen aus dem Spanischen Staat.

In deinem Seminar geht es um den spezifischen Zusammenhang von Rassismus und Kapitalismus. Wieso können wir das eine jeweils nicht ohne das andere verstehen?

So wie der heutige Kapitalismus weltweit aufgestellt ist, kann er gar nicht ohne die unbezahlte oder sehr schlecht bezahlte Reproduktionsarbeit von Frauen* auskommen, also Haus- und Pflegearbeit. Genauso wenig kommt er im Imperialismus ohne eine globale Arbeitsteilung zwischen Globalem Norden und Süden aus und in den kapitalistischen Zentren ebensowenig ohne die Arbeitsteilung zwischen migrantischen und nicht-migrantischen Arbeiter*innen. Um in seiner aktuellen Form zu bestehen, braucht der Kapitalismus also patriarchale, rassistische  etc. Verhältnisse.

Ebenso ist der Rassismus (oder besser sind Rassismen) vom Kapitalismus beeinflusst: wir können ihn nicht ahistorisch begreifen, sondern müssen immer nach den spezifischen gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen fragen, die diese Unterdrückung formen und nähren. Auch zwischen verschiedenen Formen der Unterdrückung bestehen dialektischen Wechselwirkungen, also sie sind immer in Bewegung: Neue Sündenböcke treten an die Stelle der alten, aber was bleibt ist die Verschleierung der materiellen Grundlagen der Ungleichheit. Rassismus verunmöglicht dabei, dass gemeinsame Kämpfe gegen die Befreiung von jeder Ausbeutung und Unterdrückung gegen die herrschende Klasse geführt werden.

Inwiefern hilft uns der Marxismus dabei, diese spezifischen Rassismen zu verstehen?

Es geht um die Frage, wodurch Unterdrückung überhaupt entsteht: Gibt es etwas inhärentes, warum sich Menschen anhand von irgendwelchen Merkmalen über andere stellen? Zahlreiche Denkschulen der Philosophie geben darauf unterschiedliche antworten, aber ich denke, wir können nicht „das Wesen des Menschen“ erkennen, sondern müssen uns die Verhältnisse anschauen, die dann auch sein kollektives Verhalten bedingen.

Rassismus, also die Einteilung nach verschiedensten willkürlichen Merkmalen wie Hautfarbe, Physiognomie, Haarstruktur etc. lässt sich nur aus einer materialistischen Perspektive verstehen und bekämpfen. Wir müssen uns fragen: Was waren oder sind die bestimmten materiellen Verhältnisse in einer Gesellschaft, die dazu führen, dass Menschen in diese Kategorien gesteckt werden und wer profitiert davon?

In antirassistischen Kämpfen und den Studien darüber werden marxistische Perspektiven sehr wenig herangezogen. Sie verbleiben meist innerhalb der bürgerlichen Ideologie, um sich nicht die Frage zu stellen, was all dies mit der ausbeuterischen Struktur des Kapitalismus zu tun hat. Es führt zu der verkürzten Perspektive, Rassismus als etwas Idealistisches zu begreifen, also etwas was von den jeweiligen Denkmustern Einzelner bestimmt ist und nicht als eine gesellschaftlich-materielle Realität.

Im Seminar werden auch viele historische Erfahrungen der antirassistischen- und Arbeiter*innenbewegung und reflektiert. Können wir etwas aus der frühen kommunistischen Bewegung (vor der Stalinisierung) lernen?

Viele Bewegungen, die sich auf den Kommunismus berufen haben, hatten sehr überzeugende Antworten darauf, wie Rassismen innerhalb und außerhalb der Arbeiter*innenbewegung angegriffen werden müssen. Für die Kommunistische Internationale (Komintern) der 1920er Jahre war der antikoloniale Kampf von großer Bedeutung und auch ein Programm zur expliziten Organisierung schwarzer Arbeiter*innen weltweit wurde nach langer Debatte angenommen. Leider gab es oft eine große Diskrepanz zwischen dem, was in den Parteiprogrammen stand und dem, was die Aktivist*innen an der Basis taten.

Kommunistische Gruppen und Bewegungen wurden immer wieder als per se autoritär vorverurteilt. Tatsächlich haben viele Gruppen die Position vertreten, dass „zuerst die Revolution kommt“ und sich dann die Befreiung von Unterdrückung schon im Sozialismus „von alleine“ lösen würde. Diese Position existiert auch heute noch. Wir müssen dem gegenüber aufzeigen, wie Unterdrückung mit der materiellen Reproduktion des Kapitals zusammenhängt. Es kann keine revolutionäre Massenbewegung geben, die nicht alle Sektoren der Arbeiter*innenklasse anspricht und mobilisiert.

Im Deutschland ist es nicht von ungefähr, dass in linken Gruppen oft primär weiße Männer aus wohlhabenden Familien sitzen. Frauen*, Migrant*innen oder Menschen aus der Arbeiter*innenklasse werden oft nicht mit den Themen angesprochen, die sie auch erreichen. So zum Beispiel der Knast als System der Verwertung von subproletarischer Arbeitskraft oder sexistische Belästigung auf der Straße, was viele, vor allem junge Frauen, täglich beschäftigt. Kommunist*innen sind meist sehr verkopft und leben in intellektuellen Blasen, die wenig mit den täglichen Problemen unserer Klasse zu tun haben. Wenn sich dies verändern soll, dann müssen sich auch diese Gruppen verändern. Als Marxist*innen müssen wir diese Perspektiven aufgreifen und sagen: Wir haben antworten für Euch!

Du selbst hast auch auf dein prekäres Arbeitsverhältnis als Lehrbeauftragte hingewiesen. In welcher Rolle siehst du dich als Dozierende an der FU?

Ich bin nur Lehrbeauftragte, nicht Angestellte. Dies reduziert sehr stark meinen Handlungsspielraum, mich als Lohnabhängige zu organisieren. Mein Verhältnis zu dieser Position ist sehr widersprüchlich: Eigentlich bin ich irgendwie kaum Lohnabhängige, weil der Lohn so gering ist, dass ich davon nicht einmal ganz abhängig sein könnte, also davon Leben könnte, wenn ich kein Stipendium hätte. Alle Angestellten an der Uni sind natürlich auch Lohnabhängige, aber der akademische Betrieb ist ein Ort, an dem sich diese Angestellten besonders selten als Arbeiter*innen verstehen. Wir müssen uns offensichtlich mit allen anderen Lohnabhängigen organisieren und solidarisieren, sowohl an der FU als auch darüber hinaus. Es gibt Arbeitskämpfe an der FU, wie es zum Beispiel die Kolleg*innen vom Botanischen Garten gezeigt haben. Dies wird aber kaum thematisiert in der Verwaltung oder der Lehre und diese Isolation ist aktiv beabsichtigt. Genau dagegen müssen wir uns stellen.

Was können Studierende ganz Praktisches für ihre täglichen Kämpfe innerhalb und außerhalb der Uni mitnehmen?

Überlegungen zu praktischen Kämpfen brauchen immer theoretische Fundamente, die in der Praxis dann wiederum überprüft werden. Theorie und Praxis stehen also in einem dialektischen Verhältnis. Mein Anspruch ist es, Studierenden erste Werkzeuge zur Analyse sowohl von Rassismen als auch der kapitalistischen Gesellschaft an sich mit zu geben, um dann selbst Antworten zu entwickeln. Die Geschichte bietet uns viele Anknüpfungspunkte. Ich hoffe, ich kann ein Interesse dafür wecken, dass es auch aktuell schon organisierte Strukturen gibt. Diese können nur davon profitieren, wenn sich Menschen kritisch und mit einem frischen Blick mit dieser Materie auseinandersetzen.

Mehr zum Thema