Rammstein-Boykott: Bringt das was?
Während die einen Rammstein canceln wollen, spielen andere die Vorwürfe sexualisierter Gewalt herunter.
Rammsteins Musik solle man nicht mehr hören, zu Konzerten nicht mehr gehen und am Besten sogar dagegen demonstrieren, dass sie überhaupt stattfinden. Höchststrafen verdienen die Täter(:innen) und gecancelt werden alle, die etwas anderes sagen.
Das ist aktuell die Perspektive vieler Feminist:innen. Sie gehen tatsächlich gegen die Band und ihre Anhänger:innen auf die Straße, so wie letzte Woche im und ums Münchener Olympiastadion herum.
Auf der anderen Seite standen einige Fans, die ihre Idole auf den Tod verteidigten. Es gelte das Prinzip der Unschuldsvermutung: Bis das Gegenteil bewiesen sei, müsse davon ausgegangen werden, Frontmann Lindemann habe keine der Taten begangen, die ihm vorgeworfen werden.
Deutschland ist gespalten, ganz allgemein. Und das drückt sich nicht nur an der Lindemann-Frage aus (sondern beispielsweise auch an der des Klimaschutzes) – aber auch. Davon auszugehen, dass alle Erfahrungen, von denen die mutmaßlichen Opfer erzählten, genau so und nicht anders passiert sind, ist genauso wenig zielführend wie eine „innocent until proven guilty“-Attitüde.
Dass mehrere junge Frauen, die einander überhaupt nicht kennen, mit der Öffentlichkeit teilten, was ihnen widerfahren ist, spricht schon an und für sich Bände. Den Mut zu haben, sich in eine so hostile Situation wie die aktuelle hinein zu begeben sowie die Schwere der Vorwürfe, ist noch aufschlussreicher. Denn: Warum sollte jemand sich das antun, wenn es nicht wirklich passiert ist?
Trotzdem wird Opfern sexualisierter Gewalt oft nicht geglaubt. In vielen Fällen steht Aussage gegen Aussage, weil niemand dabei war und nichts aufgenommen wurde. Hinzu kommt, dass nicht alle sich detailliert oder überhaupt erinnern können. Die menschliche Psyche kann die traumatische(n) Erfahrung(en) vom Bewusstsein ins Unterbewusstsein „schicken“, um uns selbst zu schützen. Der Versuch gelingt nicht immer, doch zumindest so oft, dass viele Betroffene (erst) keinen oder lediglich eingeschränkten Zugriff auf ihre Erinnerungen an die Situation(en) haben, sie nicht oder nur zum Teil Revue passieren lassen können und infolgedessen nicht selten selbst von der Suche nach den fehlenden Puzzlestücken heimgesucht werden. Das ist häufig der innere Konflikt, mit dem Betroffene zu kämpfen haben.
Und als ob das nicht schon genug wäre, schlägt all jenen, die Lindemann beschuldig(t)en, gerade eine Stimmung der Verleugnung entgegen. Diese Stimmung reiht sich in die ein, die in dieser Gesellschaft momentan ganz allgemein herrscht: Die Polarisierung – nach rechts und nach links – vertieft sich. Dass im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gegendert wird, sei CDU-Chef Merz zufolge der Grund für das Umfragehoch der AfD. Diese kann im thüringischen Sonneberg den Erfolg verzeichnen, dass bei der Landratswahl in der ersten Runde 46,7 Prozent der Stimmen auf ihren Kandidaten entfielen. Wenn dieser zwischen 18 und 35 Jahren alt wäre, hätte er (so wie ein Drittel aller jungen Männer in diesem Land) bestimmt auch gesagt, es sei okay, wenn einem im Streit mit der Freundin ‚mal die Hand ausrutscht. Währenddessen ist bürgerlicher Feminismus Staatsräson, doch die Ampel leidet unter einem Umfragetief. Radikalen und postmodernen Feminist:innen (sowie vielen Klima-Aktivist:innen) ist die Bundesregierung zu rechts, zu zurückhaltend.
Doch dürfte eine so reiche Band wie Rammstein hohe Geldstrafen, gecancelt und boykottiert zu werden, kaum interessieren. Auch Haftstrafen haben erwiesenermaßen in den seltensten Fällen wünschenswerte Veränderungen zur Folge – im Gegenteil. Auf die strafende Justiz oder härtere Gesetze zu hoffen, ändert nichts an den strukturellen Ursachen patriarchaler und sexistischer Gewalt. Zumal es gerade Staatsorgane wie die Polizei oder das Militär sind, die selbst Hort von Gewalt und Unterdrückung sind.
Die einzige Möglichkeit, zu einer wirklichen Aufarbeitung zu kommen – sowohl einzelner Taten, als auch des zugrundeliegenden Systems –, liegt in der Einsetzung von unabhängigen Kommissionen unter Beteiligung von unabhängigen Beschwerde- und Beratungsstellen. Im Rahmen einer solchen unabhängigen Aufklärung sollten sich die betroffenen Frauen, frei von jeder Einschüchterung, selbstorganisiert vernetzen können, um die Vorfälle aufzuarbeiten.
Und die Konzerte?
Noch vor einem der Konzerte, die letzte Woche stattfanden, haben Fans im Internet dazu aufgerufen, den Tag nichtsdestotrotz gemeinsam zu verbringen – woanders. Statt Rammsteins kollektiv nicht zu besuchen, wäre es unter Umständen auch denkbar, kollektiv hinzugehen.
Der Schlüssel liegt auf jeden Fall darin, sich zusammenzuschließen, sodass niemand alleine ist. Egal, ob metaphorisch oder tatsächlich allein. Egal, ob zuhause oder auf einem Konzert allein, auf dem in der aktuellen Situation mehrheitlich ein Sexismus relativierendes oder gar männeraktivistisches Publikum sein dürfte.
Der gemeinsame Erfahrungsaustausch, der in den letzten Wochen stattfand, sowie die Vernetzung, können außerdem erste Schritte hin zur Selbstorganisierung gegen Patriarchat und dem ihm zugrundeliegenden Kapitalismus sein. Denn wer den Schilderungen anderer lauscht und merkt, dass sie den eigenen (stark) ähneln oder sich gar mit ihnen decken, realisiert vielleicht auch, dass Sexismus ein Bestandteil des Systems ist, in dem wir leben.
Rammsteins Vorgehensweise war systematisiert. Dabei war alles auf Lindemanns Interessen ausgelegt. Wenn sich Fans und die meisten Beschäftigten aus der Musik- und Unterhaltungsindustrie zusammen täten, ginge das auch anders.
Denn auch Letztere haben ein Interesse daran, dass Großveranstaltungen für alle Anwesenden sicher sind. Viele von ihnen sind ebenfalls von sexueller Gewalt betroffen. Wenn solche Events nicht vor allem die Taschen von einigen Wenigen füllen sollen, müsste keiner und insbesondere keine der Beschäftigten unterbezahlt schuften und/oder befristet beziehungsweise ausgelagert sein – und kein Fan eine dreistellige Summe ausgeben.