„Queere Befreiung ist antirassistisch und antikolonial“

05.08.2019, Lesezeit 7 Min.
Gastbeitrag

„Queere Befreiung ist antirassistisch und antikolonial“ – ein Gespräch mit Melanie Richter-Montpetit, einer der Organisator*innen des Queers for Palestine Block beim Radical Queer March am 27. Juli in Berlin. Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Eleonora Roldán Mendívil.

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Du hast den Queers for Palestine Block beim Radical Queer March am 27. Juli in Berlin mit organisiert. Wie kam es dazu?

Ich freute mich auf die Teilnahme am Radical Queer March und sah dann einige Tage vor dem Marsch am 23. Juli auf deren Veranstaltungs-Seite bei Facebook, dass die Veranstalter antisemitische Gruppen und Inhalte im Marsch nicht tolerieren würden, dass die BDS-Kampagne [Boykott, Deinvestitionen und Sanktionen] als inhärent antisemitisch gewertet wurde. Ich war entsetzt über diese beschämende Trivialisierung des tatsächlichen antijüdischen Rassismus und die Aneignung der Sprache des Antirassismus, um die rassistisch-koloniale Politik sowohl in Palästina als auch hier in der Stadt in sogenannten radikalen queeren Räumen voranzubringen. Also fragte ich auf meiner persönlichen Facebook-Seite, ob meine Berliner Freund*innen es für das Beste hielten, sich von einem so genannten Radikalen Queeren Marsch fernzuhalten, oder ob wir gemeinsam gegen den Rassismus der Organisator*innen vorgehen und den Marsch als Raum zurückfordern sollten für radikale Queers, die sich feministischer, antirassistischer und antikolonialer Politik verschreiben. Für mich ging es also sowohl darum, Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf zu zeigen, als auch gegen die hartnäckige Forderung so vieler weißer linker Queers einzustehen, zu diktieren, was Rassismus und Kolonialismus ausmacht, einschließlich der Abwertung der Unterstützung für Palästina und der BDS-Kampagne als antisemitisch. Ich habe am selben Nachmittag spontan eine Facebook-Gruppe gegründet, um mit meinen Freund*innen und einigen Menschen aus ihrem Umfeld darüber zu sprechen, ob und wie wir auf die rassistische Aussage zu BDS und BDS-Anhänger*innen reagieren sollten.  
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Dr. Melanie Richter-Montpetit, 41, arbeitet als Dozentin/Assistenzprofessorin für Krieg und Militarismus sowie feministische und queere Politik am Institut für Internationale Beziehungen an der Sussex Universität in Großbritannien.
Dr. Melanie Richter-Montpetit, 41, arbeitet als Dozentin/Assistenzprofessorin für Krieg und Militarismus sowie feministische und queere Politik am Institut für Internationale Beziehungen an der Sussex Universität in Großbritannien.

Innerhalb weniger Stunden schlossen sich Dutzende von Menschen an und bald waren wir über 200 Mitglieder in der Gruppe und beschlossen, gemeinsam als ‚Queers for Palestine‘ zu marschieren. Zwei Tage später, ungefähr 48 Stunden vor der Demo, erstellten wir eine öffentliches Facebook-Veranstaltung, um die Einladung auf andere Queers außerhalb unseres Freundeskreises auszudehnen.

Die Organisator*innen des Radical Queer March sprachen eine Ausladung gegenüber BDS-Unterstützer*innen aus, da sie diese undifferenziert und ohne Argumente mit Antisemit*innen gleichsetzten. Was genau ist BDS und worin liegt das Problem mit dieser Gleichungsetzung?

BDS ist eine gewaltfreie Taktik, um Israel zur Einhaltung des Völkerrechts zu zwingen. Israel verweigert Palästinenser*innen seit siebzig Jahren Grundrechte und hält das Völkerrecht nicht ein. Dies ist nur mit internationalem Druck möglich. Regierungen halten Israel nicht verantwortlich, während Unternehmen und Institutionen auf der ganzen Welt Israel helfen, Palästinenser*innen zu unterdrücken. Weil sich die Machthaber weigern, gegen diese Ungerechtigkeit vorzugehen, hat die palästinensische Zivilgesellschaft eine solidarische Reaktion der Weltbevölkerung auf den palästinensischen Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit gefordert. Die BDS-Kampagne ist inspiriert von und in der stolzen Tradition anderer erfolgreicher antirassistischer und antikolonialer Boykottbewegungen, einschließlich der US-Bürgerrechtsbewegung und der südafrikanischen Anti-Apartheid-Bewegung. BDS wird weltweit von einer Vielzahl von Organisationen für soziale Gerechtigkeit und Größen antirassistischer Befreiungskämpfe von Desmond Tutu bis Angela Davis unterstützt. BDS hat drei Forderungen: 1) die Beendigung der illegalen Besetzung von palästinensischem Land, 2) die Gleichberechtigung der palästinensischen Bürger*innen Israels und 3) das Recht der vertriebenen palästinensischen Geflüchteten auf Rückkehr in ihre Heimat der Vorfahren. Nach internationalem Recht ist Israel verpflichtet, jede dieser Forderungen zu respektieren, und dennoch zieht die internationale Gemeinschaft, einschließlich der USA und der EU, Israel nicht zur Rechenschaft und unterstützt sie weiterhin finanziell und militärisch.

Warum wird BDS mit antijüdischem Rassismus gleichgesetzt? Der Hauptgrund ist, dass wie in Südafrika während der Apartheid, die Boykottkampagne funktioniert. Unterstützer*innen israelischer Menschenrechtsverletzungen markieren BDS-Aktive als antisemitisch, um die Kampagne zu diskreditieren. Einige Leute verstehen die Kampagne ungewollt falsch und setzen die Unterstützung für BDS mit der rassistischen Kampagne des Naziregimes gleich, welche dazu aufrief, nicht von jüdischen Deutschen zu kaufen. Dies ist nicht der Fall: BDS richtet sich aufgrund seiner Verantwortung für schwerwiegende Verstöße gegen das Völkerrecht gegen den israelischen Staat und die Unternehmen und Institutionen, die an dieser Art staatlicher Gewalt beteiligt sind. Die BDS-Bewegung boykottiert oder kämpft nicht gegen Einzelpersonen oder Gruppen, nur weil sie Israelis oder Jüdinnen*Juden sind. Tatsächlich sind viele der bekanntesten Unternehmen, gegen die sich der Boykott richtet, westliche multinationale Unternehmen, von Waffenhändlern bis hin zu großen Supermarktketten.

Am Samstag schlossen sich 500 Menschen dem antikolonialen und antiimperialistischen Queers for Palestine-Block an. Dabei war eines der zentralen Themen der Kampf gegen das Pinkwashing Israels. Kannst du uns erklären was genau das ist und wie es funktioniert?

Pinkwashing ist ein strategisches PR-Instrument, das sich an das Konzept des ‚Greenwashing‘ anlehnt, das von US-Marketing-Spezialist*innen entwickelt wurde, um Unternehmen dabei zu unterstützen, mit ‚grünem‘ oder umweltfreundlichem Marketing Verbraucher*innen anzusprechen, obwohl die Produktion ihrer Waren und ihre eigentlichen Produkte und Dienstleistungen schädlich für Umwelt und Gesundheit sind. Unternehmen und staatliche Akteure haben dieses zynische Marketinginstrument auf LGBT-Rechte ausgedehnt. Sie markieren sich selbst strategisch als LGBT-freundlich, um die Aufmerksamkeit von den Folgen ihrer geschäftlichen oder politischen Praktiken abzulenken, einschließlich Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Palästinensische LGBT-Aktivist*innen waren an vorderster Front dabei, den Versuch des israelischen Staates zu verurteilen, Krieg und Besatzung als ‚Heilung‘ von ‚palästinensischer=muslimischer Homophobie‘ zu verkaufen. Als ob das nicht zynisch genug wäre, haben Queers nicht einmal volle Gleichheit in Israel und der israelische Staat erpresst strategisch palästinensische Queers, damit sie Informant*innen werden. In Berlin gehören ein Stand beim schwul-lesbischen Stadtfest und die Teilnahme an der offiziellen CSD-Parade zu den Pinkwashing-Aktivitäten des israelischen Staates.

Wie sind queere und antikoloniale Befreiung heute verbunden?

‚Queerness‘ und queere Politik werden häufig mit LGBT-Leuten und dem Kampf für – liberale – Rechte in Verbindung gebracht. Die queere Befreiung ist jedoch viel ehrgeiziger. Bei einer queeren Politik geht es zumindest mir darum, die Machtverhältnisse und die Normalisierung herauszufordern – also zu queeren – und viel umfassender zu gestalten. Diese Art von Politik setzt sich für die Befreiung einer breiten Palette von ‚perversen‘ oder pathologisierten sexuellen Subjekten, Praktiken und Wünschen jenseits von ‚Homosexualität‘ ein. Dazu gehören nicht-normative heterosexuelle Subjekte wie Sexarbeiterinnen, rassisierte Alleinerziehende und muslimische Männer, die durch rassistische Diskurse des Orientalismus als gefährlich pervertiert produziert werden. Abgesehen davon, dass schwarze und nicht-weiße Queers schon an der Schnittstelle von Rassismus, Kolonialismus und Heteropatriarchiat liegen, wächst die Erkenntnis, dass Queerness im Allgemeinen untrennbar mit Vorstellungen von rassischer und kolonialer Differenz verbunden ist. Historisch gesehen entstanden moderne westliche Diskurse über Rasse und Sexualität parallel und waren entscheidend für die Expansion des modernen Kolonialismus. Und sie stützen sich auch heute noch gegenseitig: In diesem Moment der weißen Vorherrschaft auf Steroide haben sich das Leben und die Rechte von trans Personen, Queers und Frauen zu sorgfältig ausgewählten Schlachtfeldern entwickelt, um die ‚weiße Nation‘ zu verteidigen, indem sie ‚weiße‘ Babys über ‚normale‘ produktive Familien produzieren. So ist queere Befreiung antirassistisch und antikolonial, nicht nur aus Solidarität mit einem Unabhängkeitskampf, sondern weil die Konstruktion von normalen Sexualkörpern einerseits und abnormalen, gewalttätigen Sexualkörpern andererseits Teil der laufenden rassistisch-kolonialen Politik ist.

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