Putin besucht Lukaschenka: Tritt Belarus in den Krieg ein?
Putin besucht Lukaschenka in Minsk, und sofort spekuliert die bürgerliche Presse über einen baldigen Kriegseintritt von Belarus im Ukrainekrieg. Doch eine tiefere Analyse der belarussischen Gesellschaft lassen Zweifel an dieser Interpretation aufkommen. Zeitgleich besucht Selenskij die USA. Fest steht, dass der Krieg längst kein regionaler Konflikt mehr ist.
Am Sonntag ereignete sich im Flughafen der belarussischen Hauptstadt Minsk etwas in diesen Tagen Außergewöhnliches. Aus einer klobigen weiß, blau, rot bemalten Maschine des Typs „Iljuschin Il-96“, benannt nach dem bekannten sowjetischen Flugzeugingenieur Sergei Iljuschin, steigt Vladimir Putin und geht auf einem roten Teppich seinem belarussischen Amtskollegen Aljaksandr Lukaschenka entgegen. Die beiden Männer kennen sich und treffen sich regelmäßig, doch eigentlich kaum außerhalb Russlands. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat Putin das Land nicht verlassen. Ihn also für Gespräche in Minsk anzutreffen, sendet eine eindeutige politische Botschaft. Putin fühlt sich in Belarus sicher, er will demonstrieren, dass Russland und Belarus eng zusammenstehen und sich freundschaftlich gesinnt sind. In vielen westlichen Medien wird dieses Zusammentreffen als Vorbote eines militärischen Eintretens von Belarus in den Ukrainekrieg gedeutet. Die Welt schreibt: „Putin ist wieder einmal zu Besuch in Belarus, um Machthaber Lukaschenko für die Beteiligung seines Landes am Ukraine-Krieg zu gewinnen.“ FAZ, Spiegel und BILD spekulieren ebenfalls über ein mögliches Eintreten von Lukaschenka in den Krieg. Doch es bleiben Zweifel an dieser Interpretation des Treffens. Zunächst einmal muss festgestellt werden, dass Belarus nach dem Zerfall der Sowjetunion ökonomisch zunehmend von Russland abhängig ist. In den 90er und frühen 2000er Jahren, versuchte der Präsident Lukaschenka, der seit 1994 de facto Diktator des Binnenstaates ist, noch zwischen dem Westen und Russland zu manövrieren, d.h. sowohl mit der EU, als auch mit Russland Geschäfte zu machen. Nach zeitweiligen politischen Zerwürfnissen zwischen Moskau und Minsk in den Jahren 2006 bis 2010 orientierte sich das Regime stärker nach Europa, nahm an mehreren wichtigen EU-Gipfeln teil und führte sogar wieder Grenzkontrollen und Zollbeschränkungen an der belarussisch-russischen Grenze ein. Doch nachdem die EU im Jahr 2011 Belarus die weitere Unterstützung mit Krediten von wirtschaftlichen und politischen Bedingungen abhängig machte, orientierte sich das Regime wieder stärker nach Moskau. Heute gelten Putin und Lukaschenka als engste Verbündete und die belarussische Wirtschaft als abhängiger denn je.
Zu Beginn des Krieges im Februar 2022 nutzte die russische Armee sogar westlich und östlich des Dnipr und der Tschernobyl-Sperrzone, von den Städten Masyr und Gomel‘ aus, das belarussische Territorium für ihren Überraschungsangriff auf Kiew. Auch russische Raketen wurden von dort aus auf die Ukraine abgeschossen. Nach Putins Scheitern den Krieg im Handstreich zu entscheiden, bevor er sich zu einer langwierigen und sehr kostspieligen Materialschlacht auswächst, zogen sich die russischen Truppen aus dem Norden der Ukraine wieder zurück und konzentrierten ihre Operationen auf den Osten und Süden des Landes. Doch bis heute bleiben russische Truppen an der belarussisch-ukrainischen Grenze stationiert und es gibt von Seiten der ukrainischen Regierung und Presse Gerüchte, dass diese Truppen in den letzten Monaten Verstärkung erhalten haben könnten.
Die belarussische Armee wiederum wurde bisher nicht in Kampfhandlungen eingesetzt und mehrere politische Statements Lukaschenkas, zuletzt seine Aussage vor einigen Tagen, dass eine Intervention „Absolute Dummheit“ und dies nicht „die Rolle von Belarus in diesem Konflikt“ sei, lassen Zweifel daran aufkommen, dass dieser Besuch Putins in Minsk ein belarussisches Eingreifen in den Krieg ankündigt. Zumal sich das Land seit der Rebellion der Bevölkerung gegen das diktatorische Regime Lukaschenkas in keinem stabilen Zustand mehr befindet. Die Anzahl an politischen Gefangenen ist seit 2020 gewaltig, die Repression und Zensur äußerst drückend, die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung prekär. Das Sanktionsregime der EU und der USA ist seit 2020 in Reaktion auf die Niederschlagung der Massenproteste stark verschärft worden. Exportmöglichkeiten in die EU und die Ukraine fallen ebenfalls weg. Das verschärft sowohl die Abhängigkeit von Russland als auch die Krise der bonapartistischen Diktatur. Lukaschenka erfreute sich in den späten 90er und frühen 2000er Jahren nur deshalb einer begrenzten Beliebtheit, weil es ihm gelang durch steuernde staatliche Eingriffe die Folgen der tiefen wirtschaftlichen Krise, die aus der Ausschlachtung der sowjetischen Planwirtschaft erwuchs, besser zu verkraften als anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Dieser Bonus sollte spätestens nach der scharfen Rezession in der Coronapandemie verflogen sein. Und die Niederschlagung der Revolte von 2020 dürfte die letzten verbliebenen Loyalitäten in der Bevölkerung erstickt haben. Heute balanciert Lukaschenka auf einem schmalen Grad und stützt sich immer stärker auf den Repressionsapparat aus Polizei, Geheimdiensten und Armee. Eine direkte Beteiligung am Krieg könnte dieses fragile Gleichgewicht empfindlich stören.
Bereits zu Beginn des Krieges im März 2022 machte eine Sabotageaktion in linken Kreisen Schlagzeilen, als belarussische Eisenbahner:innen das Schienennetz sabotierten, welches für die Versorgung der russischen Streitkräfte im Norden der Ukraine verwendet wurde. Die vom Regime verdächtigten Männer befinden sich inzwischen in Haft und ihnen droht wegen „Vorbereitung und Versuch eines Terroraktes“ die Todesstrafe. Solche vereinzelten Aktionen drücken die potenzielle Gefahr aus, die dem diktatorischen Regime im Falle einer direkten Kriegsbeteiligung von seiner eigenen Arbeiter:innenklasse aus drohen könnte. Streiks und Sabotage sind potenziell die wirksamsten Mittel für die Verhinderung der Ausweitung des Krieges. Und diese Episode zeigt deutlich: Egal wie viele Menschen Lukaschenka in die Gefängnisse pfercht, egal wie stark er die Presse- und Meinungsfreiheit einschränkt, die Ideen des Widerstandes innerhalb der Bevölkerung und die Erfahrungen einer Massenrevolte gegen das Regime, die auch vor politischen Streiks nicht Halt machte, sind in den Köpfen der Menschen noch frisch und könnten bei einer größeren politischen Erschütterung wieder an die Oberfläche gelangen. Innenpolitisch wäre eine belarussische Beteiligung an dem russischen Stellungskrieg daher extrem riskant und könnte gar in einen weiteren Aufstand münden, einen Aufstand, den auch Putin fürchten muss, denn auch seine Herrschaft steht auf Messers Schneide. Sollte er seinen wichtigsten europäischen Verbündeten an eine siegreiche Arbeiter:innenrevolution verlieren, würde das seine eigene Herrschaft ebenfalls direkt in Frage stellen und die brutal unterdrückte Friedensbewegung in Russland wiederbeleben.
Dazu kommen noch die negativen Erfahrungen, die Putins Regime mit seiner Teilmobilmachung gemacht hat. Durch die schwierige Lage an der Front und die Verluste der russischen Armee musste Putin das hohe Risiko eingehen, einen großen Teil der Bevölkerung in den Krieg direkt einzubeziehen, etwas, was er bis dahin stets versucht hatte, zu vermeiden. Die Reaktion aus der Bevölkerung überstieg dann aber alle Erwartungen: Die totgeglaubte Friedensbewegung erfuhr einen neuen Impuls, in dutzenden Städten gingen die Menschen auf die Straße und gleichzeitig verließen bis zu 700.000 Menschen fluchtartig das Land, um sich dem Militärdienst und einem sinnlosen Tod im Morast des Donbas zu entziehen. Als Gradmesser für die politische Stimmung im Land hat dies Putin, aber auch Lukaschenka, vor Augen geführt, dass eine Beteiligung größerer Teile der Bevölkerung an ihren Kriegsunternehmungen massive Folgen haben kann. Dies ist sicherlich ein weiterer Grund, warum Lukaschenka vor diesem Abenteuer unbedingt absehen will.
Klar ist: Der russische Staat sucht sich in seiner verfahrenen Situation jede Unterstützung, die er bekommen kann. Wenn Lukaschenka eine zweite Front im Norden eröffnen würde und belarussische und russische Truppen in Richtung Kiew marschieren würden, wäre dies aus militärischer Sicht eine Umkehrung des Momentums und die Ukraine wäre plötzlich gezwungen, große Mengen von Truppen und Kriegsgerät aus dem Donbas und der Region Cherson im Süden des Landes abzuziehen, um dem Vormarsch im Norden Einhalt zu gebieten. Das würde diese Fronten stark schwächen, was wiederum der russischen Armee Chancen auf erfolgreiche Offensiven im Osten und Süden bringen würde. Ob eine solche Offensive den Krieg entscheiden würde, ist zu bezweifeln, die Ukraine erwies sich im März bereits als viel stärker von der NATO hochgerüstet als von den russischen Generälen gedacht worden war, jetzt, nach über 10 Monaten massiv ausgeweiteter Waffenlieferungen, dürfte sich das Übergewicht noch weiter zu Gunsten des NATO-Vasallen verschoben haben. Zumindest: Eine Intervention vom Norden her würde den Stellungskrieg im Osten aller Wahrscheinlichkeit nach aufbrechen und Russland mehr Handlungsspielraum verschaffen. Zudem wäre die Ukraine nicht mehr länger zu offensiven Operationen in der Lage, was Russland die militärische Initiative zurückgeben würde.
Doch welche politischen Rückwirkungen ein solch offener Kriegseintritt seitens Belarus haben würde, ist überhaupt nicht abzusehen. Fest steht, dass diese massive Eskalation des Konfliktes von den westlichen Imperialist:innen nicht unbeantwortet bliebe. Intensivierte Waffenlieferungen, vielleicht sogar der Einsatz von NATO-Einheiten oder Fluggeräten, könnten eine mögliche Folge sein. Etwas, was die atomare Gefahr um ein Vielfaches erhöhen würde und Europa noch tiefer in den Strudel der gegenseitigen Eskalationsspirale stützen würde.
Nach all diesen Betrachtungen fällt es schwer mit der gleichen Gewissheit, wie die bürgerlichen Medien, die militärische Beteiligung von Belarus am Ukrainekrieg vorherzusagen. Die Zeichen stehen in Minsk auf Veränderung und Lukaschenka ist kein gleichberechtigter Partner gegenüber Putin, aber auch in seiner jetzigen Abhängigkeit ist es fraglich, ob er dieses Risiko eingehen kann. Doch für Putin geht es ebenfalls um alles: Nach der überraschenden Offensive der Ukraine im Oktober 2022 wurden innerhalb der russischen Elite bereits Stimmen laut, die Putins Führungsqualitäten offen anzweifelten. Weitere Niederlagen könnten den Diktator weiter diskreditieren und das Regime schwach und verletzlich erscheinen lassen, was den Weg für eine Stärkung der Friedensbewegung freimachen würde. Auf jeden Fall möchten Putin und Lukaschenka dem Westen und der Ukraine signalisieren, dass Russland im Krieg noch weitere Asse im Ärmel hat, die es bis jetzt nicht genutzt hat. Ob es nur bei dieser Drohgebärde bleibt, werden die nächsten Monate entscheiden. Besonders im Frühling ist zu erwarten, dass sowohl Russland als auch die Ukraine eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld suchen werden.
Doch nicht nur Putin möchte öffentlich die Stärke seines Bündnisses demonstrieren. Zeitgleich ist auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij das erste Mal seit Kriegsbeginn im Ausland. Er traf am Mittwoch in Washington D.C. ein. In seiner Rede vor dem versammelten US-Kongress bedankte sich Selenskij für die weitere militärische Unterstützung und sicherte zu, den Kampf nicht aufzugeben. Dann überreichte er der Vizepräsidentin Kamala Harris und der Vorsitzenden des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi eine von ukrainischen Soldat:innen aus der belagerten ostukrainischen Stadt Bachmut unterschriebene blau-gelbe Flagge. Die versammelten Vertreter:innen des amerikanischen Bürger:innentums zollten ihrem Bluthund mit spontanen Ovationen Respekt. Über Friedensverhandlungen oder Deeskalation wurde nicht gesprochen. Die USA haben kein Interesse an einer Einstellung der Kampfhandlungen. Es wird einmal mehr deutlich, dass dieser Krieg längst seinen regionalen Charakter hinter sich gelassen hat und zu einer weltumspannenden Auseinandersetzung zwischen verschiedenen imperialistischen Lagern um die Kontrolle der strategisch wichtigen Ukraine geworden ist. Die Menschen, die dort seit Beginn des Winters und der Gas- und Treibstoffknappheit Tag für Tag ums Überleben kämpfen, wurden zu bloßen Spielbällen in der internationalen Arena ihrer Ausbeuter:innen.
Daraus folgt, dass auch der Widerstand gegen diesen Krieg international sein muss. Der Arbeiter:innenklasse in den beteiligten Staaten bleibt nur der Massenstreik und die daraus erwachsende soziale Revolution, um sich vom Joch des Krieges ihrer jeweiligen Oligarchenklassen endgültig zu befreien.