Psychiatrie: Ein Erfahrungsbericht

28.02.2024, Lesezeit 10 Min.
Gastbeitrag

Wir veröffentlichen hier einen anonymen Erfahrungsbericht von einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik.

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Foto: Yavdat/www.shutterstock.com

Im Zuge einer ambulanten Therapie wurde mir vor einigen Jahren eine Depression und eine chronische posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert. Während Depression zum “Standard” der Psychotherapie gehört – das mag daran liegen, dass Affektive Störungen, wie z.B. die Depression zu den häufigsten Krankheitsbildern im Kontext der Psychotherapie gehört – sieht das bei der PTBS anders aus. Insbesondere weil die Behandlung einer PTBS in der Regel stark emotionsfokussiert und konfrontativ gestaltet wird, braucht es häufigere Termine. Die “regulären” 50 Minuten, die man in einer ambulanten Therapie in der Woche zur Verfügung hat, reichen nicht aus. Empfohlen wird – so meinte meine Therapeutin – das Doppelte. Gleichzeitig gibt es in der Traumatherapie Verfahren, die einer Weiterbildung bedürfen. So wird häufig EMDR als Methode verwendet, ein sehr wirksames aber durchaus auch kostspieliges Verfahren, dass man sich als Therapeut:in erstmal leisten können muss. Da im Rahmen meiner ambulanten Psychotherapie nicht gewährleistet werden konnte, dass ich ein Mal wöchentlich, geschweige denn die doppelte Zeit einen Termin bekommen könnte, blieben am Ende zwei Optionen: Therapeut:innenwechsel oder Klinik.

Wie schon erwähnt – eine Traumatherapie ist nicht ohne. Teil des Krankheitsbildes ist eine starke Verdrängung und Vermeidung der Traumainhalte – man versucht sich abzuschotten, um sich selbst zu schützen. Aus Sorge, Dinge wiederzuerleben, vermeidet man Situationen, Gespräche und sogar Gefühle. Um die Wunden heilen zu können, braucht es aber die Auseinandersetzung. Die Therapeutin in der Klinik hat die Traumabehandlung so beschrieben: Unsere Erinnerungen sind im Gehirn gespeichert, wie in einem Schrank – ein gesundes Gehirn hat einen sehr gut sortierten Schrank, der es ermöglicht Erinnerungen auch mit Zeit und Ort zu verknüpfen. Der Schrank von Menschen mit PTBS hingegen ist komplett durcheinander, die Erinnerungen werden irgendwie in den Schrank geworfen, ohne jedes System – geht die Tür auf (z.B. durch Trigger) fällt der komplette Inhalt aus dem Schrank. Die Therapie ist dann dafür da, dass man wieder ein System herstellt, die Erinnerungen sortiert, ihnen Zeit und Ort zuschreibt, sodass sie einen nicht überrollen können, wenn man den Schrank erneut öffnet. Dazu muss der Schrank aber ja geöffnet werden. Ich hatte also die Wahl, ob ich meinen Schrank in meinem Alltag, mit Uni, Jobs, Freizeit etc. öffne und versuche, alles gleichzeitig zu jonglieren, oder mich aus diesem Alltag heraus zu begeben und in einem anderen betreuten Umfeld den Schritt zu wagen und den Schrank dort in Ruhe zu sortieren. Also entschied ich mich dazu, auf eine dezidierte Traumastation zu gehen.

Ist man ambulant bereits angebunden, läuft das Aufnahmeverfahren ziemlich entspannt. Man bringt bereits Erfahrungen mit sich, ist idealerweise sogar einigermaßen stabil und vielleicht kommen Bekanntschaften zwischen den Therapeut:innen in der Ambulanz und denen in der Klinik auch zu Gute. Dass das aber auch anders funktionieren kann, habe ich dann vor Ort gelernt. Während bei mir zwei Telefonate ausgereicht haben, um mir selbst ein “Einzugsdatum” auszuwählen, sah der Weg für Andere ganz anders aus. Nicht jede:r kommt freiwillig in die Klinik – entweder entscheiden Ärzt:innen oder ambulante Therapeut:innen über deinen Kopf hinweg, dass es für dich wohl sinnvoll sei in die Klinik zu gehen oder du bist “straffällig” geworden und das Gericht entscheidet: Klinik oder Knast. Wie aber läuft das für Menschen ab, die nicht schon ambulant irgendwie angebunden sind? Eine Mitpatientin berichtete mir, sie habe unzählige Male versucht, ein Bett auf der Station zu bekommen. Nicht alle sind ausreichend stabilisiert, wenn sie in die Klinik kommen – für viele ist es der letzte Ausweg. Wenn aber die Klinik lediglich auf die lange Warteliste verweist, muss man “kreativ” werden – und das auf eine ganz perfide Art. Die Klinik führt neben der Traumastation, diversen Akutstationen für affektive Störungen und Zwangserkrankungen auch mehrere Suchtstationen. Auf diese Stationen kann man zum kurzfristigen Entgiften oder zur längerfristigen Suchttherapie kommen. Die nehmen immer Menschen auf und wenn man schon einmal in der Klinik ist, verläuft das Verlegen auf andere Stationen in der Regel einfacher – es ist also möglich, von einer Suchtstation auf die Traumastation verlegt zu werden. Also hat mir meine Mitpatientin erzählt, dass sie sich auf die Suchtstation begeben hat, damit sie eine Möglichkeit hat, in die Traumastation verlegt zu werden.

Alltag in der Klinik

Es war für mich das erste Mal – ich war noch nie in einer psychiatrischen Klinik, noch nicht einmal in einem Krankenhaus, entsprechend hatte ich keine große Vorstellung, was einen erwartet, wie lange man dort bleibt und wie man Teil seines Alltags bleiben kann, auch wenn man in der Klinik in einer anderen Stadt ist. Es ist schon spannend in so eine Klinik zu kommen. Die Pflegeleitung betont diverse Male, dass die Türen nicht abgeschlossen seien, am ersten Tag wird noch kein Mittagessen mitgeliefert, weil die Küche das nicht mitbekommt, dass man da ist und wenn sie es doch mitbekommt, dann kriegt man die ersten drei Tage ausschließlich Fleisch, auch wenn man sich vegetarisch ernährt. Man bewegt sich plötzlich in einem Umfeld mit Menschen, denen man sonst nie begegnet wäre. Die Altersrange liegt zwischen 18 und irgendwas um die 60. Die Therapiemotivation unterscheidet sich genauso stark wie das Leid der einzelnen Patient:innen, aber Vormachen kann man hier niemandem etwas. Versuchst du, dein Leid zu überspielen, wie du es so mühsam im Alltag gelernt hast, wirst du demaskiert. Denn alle kennen die Tricks – sie haben sie selbst schon angewandt. Man versteht sich, auch wenn man doch eigentlich gar nicht so viel gemein hat.

Und doch wird eine künstliche Trennung gezogen zwischen den Patient:innen, denn es gibt eine Regel des Klinikpersonals: redet nicht über eure Krankheiten! Der Gedanke dahinter: ihr könntet euch triggern. Das sorgt aber auch dafür, dass alle nebeneinander therapiert werden, statt zu versuchen, aus der Heilung einen gemeinschaftlichen Prozess zu machen. 

Wie kann man sich den Alltag in einer Klinik vorstellen? Die Station bezeichnet sich selbst als Therapiestation, das heißt, es gibt einen starken Fokus auf therapeutische Behandlungen, im Vergleich zu anderen Stationen, wo es viel um Stabilisierung, Alltagsstruktur etc. geht. Idealerweise hat man insgesamt 75 Minuten Einzeltherapie in der Woche, Gruppentherapien zur Psychoedukation über Depressionen, PTBS und Angstsymptomatiken, Achtsamkeits- und Entspannungsgruppen, ergotherapeutische Angebote, Sport und einmal wöchentlich ein Bezugspflege Gespräch. Bezugspflege bedeutet, man bekommt eine Pflegekraft zugeteilt, die einen den Aufenthalt über begleitet, als Ansprechperson gilt und den therapeutischen Prozess begleitet, z.B. durch Skillstraining.

Personalmangel

Das ist die Idealvorstellung. In meinem 3-monatigen Aufenthalt hatte ich insgesamt nur ca. 4 Mal Bezugspflege Gespräche, aufgrund von Personalmangel. Ergotherapie hat bei mir erst in Woche 5 begonnen, wegen Personalmangel. Ich hatte in 5 oder 6 Wochen nur 50 Minuten Einzeltherapie, ebenfalls wegen Personalmangel. 

Die Situation der Pflege war prekär. Es wurde auf unserer Station immer wieder betont, dass es bei uns nicht um Leben und Tod gehe und wir alle stabil seien. Die Pflege war also chronisch unterbesetzt, wir hatten keine eigene Nachtpflege, am Wochenende waren häufiger nur vormittags Pflegekräfte anwesend und auch so mussten sich regelmäßig Pflegekräfte von anderen Stationen ausgeliehen werden. Natürlich geht es nicht um Leben und Tod und doch braucht auch diese Station eine angemessene Pflege. Es gibt Patient:innen die sehr leicht getriggert werden und dissoziieren. In solchen Situationen braucht es ausreichend Personal, die sich einerseits kümmern und andererseits den normalen Klinikalltag aufrechterhalten können. Es gab diverse Situationen, in denen Patient:innen mehr oder weniger freiwillig diese Arbeit übernehmen mussten, auf andere Stationen gehen mussten, um die Pflege dazu zu holen, oder nachts Beistand halten mussten, wenn eine Patient:in eine Panikattacke hatte. 

Therapie vs. Krankenkasse

Welches Verhältnis die Klinik mit den Krankenkassen hat, wurde mir erst im Anschluss an meinen Aufenthalt so wirklich klar. Bei der Aufnahme durchläuft man ein kurzes Diagnostik-Verfahren, damit der Aufenthalt abgerechnet werden kann. Wie zuvor erwähnt war ich bei der Aufnahme bereits seit einiger Zeit in ambulanter Therapie und entsprechend stabil, meine depressive Symptomatik hatte sich verbessert und ich war bereit, mich der Traumatherapie zu stellen. In der Klinik wurde mir dann eine schwere depressive Episode diagnostiziert – ich war ziemlich perplex, denn eigentlich ging es mir ganz gut, ich hatte wieder ausreichend Antrieb und vor allem Motivation. Im Gespräch mit der Therapeutin blieb sie standhaft in ihrer Position, empfahl mir, im Alltag wieder Antidepressiva zu nehmen, um die schwere Depression meistern zu können. Ich wusste, wie eine schwere depressive Episode aussieht und ich wusste auch, dass die Erfahrungen nicht übereinstimmen mit der Situation in der Klinik und doch geriet ich ins Zweifeln und hatte das Gefühl, ich könnte mich einfach nicht mehr selbst einschätzen. Im Nachhinein habe ich dann herausgefunden, dass allen Patient:innen in der Klinik eine schwere depressive Episode diagnostiziert wird und das aus einem ziemlich simplen Grund: als Rechtfertigung vor der Krankenkasse. Stationäre Therapien sind sehr kostspielig und um einiges teurer als ambulante Therapie – man muss also beweisen, warum eine ambulante Therapie nicht ausreicht und dazu müssen die Patient:innen so krank wie möglich gemacht werden. Auch im Nachgang, also im Bericht, der sowohl an die Krankenkasse, als auch an die behandelnden Ärzt:innen geht, werden Dinge dramatisiert. Behandlungsmethoden werden in eine Fülle beschrieben, wie sie nicht stattgefunden haben, Patient:innen werden am Anfang deutlich kranker dargestellt, um am Ende “beweisen” zu können, wie gut sie sich entwickelt haben und die Formulierungen sind so generisch, dass man einfach den Namen der Patient:innen austauschen könnte und ihn als Serienbrief an alle behandelnden Ärzt:innen schicken könnte. Es ist ein Trauerspiel. Nicht nur wird die Verantwortung der Weiterbehandlung in die Hände der Patient:innen gelegt – man muss den Bericht dann mündlich korrigieren, um einen möglichst nahtlosen Übergang zur ambulanten Therapie hinzubekommen. Auch werden die Statistiken somit verfälscht, wer in eine Klinik geht und welche Therapieformen in welchem Maße wirksam sind. Es lässt sich so nicht ausreichend quantifizieren, wie der tatsächliche Behandlungsverlauf aussieht, wenn hier und da rum gemogelt wird in den Berichten, nur um ausreichend Geld von der Krankenkasse zu kassieren. 

Dass Geld für die Klinik eine wichtige Rolle spielt, zeigt sich zum Beispiel auch an den Zeiten, in denen man sich außerhalb des Klinikgeländes aufhalten darf. Bleibt man zum Beispiel länger als 24 Stunden der Klinik fern, bezahlt die Krankenkasse nicht mehr den vollen Betrag. Wenn man nicht-psychiatrische Krankheiten entwickelte während des Aufenthalts, die nicht Klinik intern behandelt werden können, da es sich ausschließlich um eine psychiatrische Einrichtung handelt, werden die Behandlungen dessen so lange nach hinten verschoben, dass man schließlich darum gebeten wird, sich darum zu kümmern, wenn man entlassen wurde: dann zahlt ja wieder die Krankenkasse und nicht die Klinik muss für die Kosten aufkommen. Es wird also nicht im Sinne der Gesundheit der Patient:innen gehandelt, sondern im Interesse der Klinikfinanzen. 

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