Prozess in Frankreich: Über die „monströsen Männer“ hinaus

20.09.2024, Lesezeit 15 Min.
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Skulptur der Justitia. Foto: Pexels.com

Der Prozess gegen Dominique P. in Avignon hat die Frage nach den Ursachen einer bis zum Äußersten gehenden sexualisierten Gewalt wieder in den Vordergrund gerückt: Sind die 51 Angeklagten „monströse Männer“ oder „gesunde Kinder des Patriarchats“?

Content Note: Enthält Beschreibungen sexualisierter Gewalt

Am 2. September begann vor dem Kriminalgericht von Vaucluse in Avignon (Frankreich) ein äußerst bedrückender Prozess. Auf der Anklagebank sitzen 51 Männer, darunter Dominique P., ein 71-jähriger Rentner. Auf der Bank der Klägerinnen: Gisèle P., seine 72-jährige Ex-Ehefrau, und die drei gemeinsamen Kinder. Gisèle P. betritt schweigend den Gerichtssaal. Unglaublich mutig stellt sie sich dem Blick des Mannes, der ihr die meiste Gewalt angetan hat, und den 50 Männern, die er selbst rekrutiert hat, um ihr das Schlimmste anzutun. Die Fakten, die während der viermonatigen Gerichtsverhandlung hervorkommen, zeigen ein nur schwer vorstellbares Ausmaß der Gewalt. 

Eine Gewalttat seltenen Ausmaßes

Seit 2011 kontaktierte Dominique P. Dutzende Männer über eine Chat-Website, die als Plattform für illegale Inhalte, insbesondere pornografischer Natur, bekannt ist. Sein Ziel war es, sie für ein abscheuliches Vorhaben zu gewinnen: die Gruppenvergewaltigung seiner damaligen Ehefrau, während diese schlief. Der brutale Plan von Dominique P. wurde tatsächlich durchgeführt. Gisèle P. bekam von ihrem Ehemann ohne ihr Wissen starke Beruhigungsmittel verabreicht, die er in ihr Essen mischte. Innerhalb von 10 Jahren wurde Gisèle P. über 200 verschiedene Male vergewaltigt, von mehr als 50 verschiedenen Männern. Ihr Ehemann organisierte die Gewalttaten und war währenddessen anwesend. 

Erst im Jahr 2020 wurde Gisèle P. und ihren Kindern klar, was in ihrem Haus geschieht. Dominique P. wird wegen des Versuchs in einem Supermarkt Bilder unter den Röcken von Frauen zu machen festgenommen, und muss der Polizei den Inhalt seines Computers überlassen. Dort entdeckt die Polizei die akribisch dokumentierten Videos von Hunderten von Vergewaltigungen von Gisèle P.. Auf dem Computer war außerdem ein Ordner mit Videos von der gemeinsamen Tochter zu finden. Die Videos zeigten sie in Unterwäsche und wurden ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung angefertigt.

Ein Prozess, der unsere Gesellschaft in Frage stellt

Vier Jahre später beginnt ein langer Prozess. Im Gegensatz zu den meisten Vergewaltigungsprozessen findet dieser nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt: Gisèle P. und ihre Kinder möchten, dass die kommenden Monate der Gerichtsverhandlung in den Medien so gut wie möglich dokumentiert werden. Sie möchten Bewusstsein dafür schaffen, dass Menschen (insbesondere Frauen) unter Drogen oder Medikamente gesetzt werden, um sie zu kontrollieren und ihnen Gewalt zuzufügen. Dies wurde bislang in der breiten Öffentlichkeit kaum diskutiert. Caroline Darian, die Tochter von Gisèle P. gründete zuvor die Initiative „M’endors pas“ (dt.: Ich schlafe nicht ein ), um sich gegen „soumission chimique“, wie man diese Form der Gewalt in Frankreich nennt, einzusetzen.

Am Donnerstag sagte Gisèle P. zum ersten Mal im Zeugenstand über das Trauma aus, das sie erlitten hat. Sie erinnert sich an den Moment im Jahr 2020, als sie sich der Taten des Mannes bewusst wurde, den sie damals als „Supertyp“ ‚ bezeichnete, und erklärt: „Meine Welt bricht zusammen, für mich bricht alles zusammen, alles, was ich in fünfzig Jahren aufgebaut habe„. Eine erschütternde Aussage, die im Internet vielfach geteilt wird und zahlreiche Reaktionen hervorruft.

Dominique P. sagte in seinem Geständnis, dass die Vorwürfe gegen ihn wahr sind: „Ich bin ein Vergewaltiger, wie alle, die in diesem Saal sind“.

Nicht nur die extreme Gewalt macht diesen Fall ungewöhnlich, sondern auch die Vielzahl der Angeklagten, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten. Unter ihnen finden sich Feuerwehrmänner, Handwerker, Krankenpfleger, Gefängniswärter oder Journalisten. Manche von ihnen sind ledig, manche verheiratet, manche geschieden. Die meisten von ihnen waren zuvor weder der Polizei bekannt, noch waren sie zuvor auffällig geworden. Wie können 51 nach außen hin unscheinbare und durchschnittliche Männer in den Mittelpunkt eines solchen Falles geraten?

Ein tief verwurzelter Sexismus

Die meisten der Angeklagten versuchten, ihre Taten zu rechtfertigen, indem sie erklärten, sie hätten aus Unwissenheit gehandelt, weil sie von Dominique P. „getäuscht“ worden seien. P. hätte die Gruppenvergewaltigungen als harmlose „Sexspiele“ inszeniert und ihnen verschwiegen, dass seine Frau nicht bei Bewusstsein war. 

Mit dieser Erklärung verraten sie, dass ihnen komplett egal war, ob Gisèle P. ihre Zustimmung gegeben hätte oder nicht, da sie offensichtlich bewusstlos war. Allerspätestens hätten sie dies herausgefunden, wenn sie versucht hätten, sie anzusprechen, was sie jedoch nicht taten. Das zeigt, dass sie davon ausgehen, dass der Wille eines Ehemannes über dem seiner Frau steht.  „ Sie ist seine Frau, er macht mit seiner Frau, was er will“ , „ab dem Zeitpunkt, an dem der Ehemann anwesend war, war es keine Vergewaltigung “, so einige der Zitate der Angeklagten.

Andere gaben an, dass sie bei dem Paar zu Hause angekommen bemerkt hätten, dass die Situation nicht normal war. Sie hätten unter dem „Zwang“ oder „Einfluss“ von Dominique P. gehandelt, sie stellten diesen als den hauptsächlichen Verantwortlichen in der Situation dar:  „Ich tat, was er von mir verlangte, aber ich wusste nicht, warum “. 

In einer anderen Version erklärten Angeklagte, dass sie die Kontrolle über ihren Körper verloren hätten: „ Ich habe zwar gesehen, dass sie bewusstlos war, aber ich konnte nicht aufhören “, erklärte einer von ihnen, bevor er in der Haft einen Selbstmordversuch unternahm.

Diese Schilderungen verdeutlichen im Rahmen des Prozesses, dass die Angeklagten zutiefst sexistische Denkweisen verinnerlicht haben: Von der Suche nach persönlicher Befriedigung geleitet, handeln alle mehr oder weniger bewusst in größter Missachtung der Frau, die sie begehren, und behandeln sie wie ein Sexualobjekt, das ihnen zur Verfügung steht. Die Frau, der sie die Gewalt zufügten, beschreibt dies übrigens so: „ Sie betrachten mich als Müllsack, als Lumpenpuppe “. Eine Entmenschlichung, die durch die Weigerung der Angeklagten, die von ihnen offensichtlich begangenen Schäden als Vergewaltigung anzuerkennen, noch verstärkt wird: Bisher haben in einem Prozess, in dem es um insgesamt Hunderte von Jahren Gefängnis geht, nur 14 der 51 Angeklagten ihre Verantwortung anerkannt.

Sind Männer Monster?

Angesichts von diesen Denkmustern und Rechtfertigungen, die zutiefst gefühllos erscheinen, brachten viele ihre Empörung in den Sozialen Netzwerken zum Ausdruck: „ Was mich am Fall Mazan erschreckt, ist, dass keiner der Männer zu begreifen scheint, wie ernst die Lage ist “, heißt es beispielsweise auf X. Und während die 51 von Mazan im Gegensatz zu den berühmten und mächtigen Männer der #MeToo-Prozesse die Besonderheit aufweisen, dass es sich bei ihnen um Männer aus der Arbeiterklasse handelt, die unsere Väter, unsere Freunde, unsere Nachbarn, unsere Kollegen sein könnten, verlagern sich Wut und Misstrauen von den beschuldigten Einzelpersonen auf die gesamte Gesellschaft: „ Wir sind von perversen und ekelhaften Männern umgeben, die Frauen entmenschlichen “, schließt die Person den Tweet ab. Ein Gefühl, das weitgehend geteilt wird und das die Analyse nährt, dass alle Männer (“ all men “) potentielle Vergewaltiger seien.

Fragt uns nie wieder, warum wir Angst vor Männern haben. Das hier ist ein perfektes Beispiel dafür “, „Selbst wenn sie keine Vergewaltiger sind, sind sie Komplizen”, „Ihr schafft es immer noch, auf not all men zu machen, obwohl 70 % der kontaktierten Männer zugestimmt haben, eine Frau zu vergewaltigen, und die restlichen 30 % nichts getan haben, um das zu verhindern”, heißt es in den Tweets. Eine Analyse, die ausgehend von der Feststellung einer Gewalt, die offensichtlich über das Handeln einiger abweichender Individuen hinausgeht, dazu tendiert, die strafrechtliche Kategorie des „Aggressors“ auf alle Männer auszuweiten.

Diese Auffassung macht zwar den Schritt, dass sie den Fokus von der Verantwortung der beschuldigten Einzelpersonen auf die Gesellschaft als Ganzes verschiebt, aber sie bringt auch Schwierigkeiten mit sich, die Grundlagen der sexualisierten Gewalt zu erklären: Diese erscheint als der Männlichkeit immanent, die an sich „monströs“ ist, und scheint daher weitgehend unüberwindbar zu sein. Wenn man nämlich davon ausgeht, dass Männer vergewaltigen, weil sie Männer sind, und dass folglich „die Gefahr überall lauert“, was kann man dann dagegen tun?

Die Falle des strafenden Feminismus

Diese Auffassung kann uns dazu verleiten, Strafmaßnahmen neben einer stärker feministisch ausgerichteten Erziehung als einzige Waffe gegen Gewalt zu betrachten. „Männer sollten ihr Leben im Gefängnis beginnen und beweisen, dass sie es verdienen, dort herauszukommen “, „Sperrt all diese Vergewaltiger ein”, konnte man in den letzten Tagen in den sozialen Netzwerken lesen. Eine Forderung nach Bestrafung, die ein weit verbreitetes Gefühl der Wut und Ohnmacht angesichts schrecklicher Gewalt, die meist ungestraft bleibt, widerspiegelt und die in diesem Zusammenhang von der Mehrheit der feministischen Organisationen aufgegriffen wird, indem sie eine stärkere Kriminalisierung sexistischer und sexualisierter Gewalt durch verschiedene Mittel fordert: Schaffung neuer Verbrechenskategorien (wie Inzest oder Femizid), Verlängerung oder Abschaffung der Verjährungsfristen, Verschärfung der Strafen oder auch verschiedene Neuerungen zur Systematisierung von Anzeigen und Strafverfolgung. Im Zusammenhang mit dem Fall Mazan forderten einige feministische Aktivist:innen beispielsweise, dass der Prozess nicht vor dem Strafgericht, sondern vor dem Schwurgericht stattfinden sollte, um höhere Haftstrafen zu begünstigen.

Die feministische Soziologin Gwenola Ricordeau, die sich gegen Gefängnisse einsetzt, betont: Diese Forderungen suggerieren, dass unsere einzige Möglichkeit im Kampf gegen Vergewaltigung und andere Formen der sexualisierten Gewalt sei, Hunderttausende von Männern über einen möglichst langen Zeitraum zu inhaftieren. Eine Aussicht, die in Wirklichkeit nicht zufriedenstellend ist, da Gefängnisstrafen und andere strafrechtliche Sanktionen noch nie ihre Wirksamkeit bewiesen haben, auch nicht im Kampf gegen sexistische und sexualisierte Gewalt: Obwohl die die Zahlen der Verurteilungen wegen Vergewaltigung und sexueller Übergriffe noch nie so hoch wie heute war, wurde gleichzeitig in Frankreich im Jahr 2022 alle 2,5 Minuten eine Vergewaltigung oder versuchte Vergewaltigung gezählt.

Antiimperialistische Feministinnen wie die Politikwissenschaftlerin Françoise Vergès haben jedoch darauf hingewiesen, dass diese Strafen es dem Staat ermöglichen, einen repressiven Apparat zu legitimieren und zu stärken, der sich gegen die Arbeiter:innenklasse und insbesondere gegen rassifizierte und eingewanderte Teile der Klasse richtet: In den letzten Jahren konnte man beobachten, wie das Innenministerium von Gérald Darmanin den Kampf gegen sexistische und sexualisierte Gewalt instrumentalisierte, um die Anzahl und die Mittel der Polizei zu erhöhen. Um die Polizeipräsenz in den Arbeiter:innenvierteln durch die Maßnahme „quartier sans relous“ (Viertel ohne Belästiger) zu verstärken oder auch Abschiebungen von Menschen ohne Papiere im Rahmen des Einwanderungsgesetzes zu rechtfertigen. Darmanin ist übrigens selber wegen Vergewaltigung angeklagt. Die Forderung nach einem härteren strafrechtlichen Verfolgung von Männern, die schließlich von Natur aus „monströs“ seien, wird so vom Staat für seine eigenen Interessen vereinnahmt. Dabei ermöglicht sie ihm, seine eigene Rolle bei der Reproduktion dieser Gewalt zu verschleiern.

Die „gesunden Kinder des Patriarchats“.

Im Gegensatz zu einer essentialistischen Auffassung und den damit einhergehenden strafenden Verzerrungen tendiert der marxistisch-feministische Ansatz dazu, die Analyse nicht auf „Individuen“ oder „Männer“ zu konzentrieren, sondern auf die Rolle des Staates und der Familie bei der Reproduktion von Gewalt. In dieser Logik erscheint der Fall Mazan als das besonders verkommene Produkt einer langen Kette von Gewalttaten, die unsere Gesellschaft strukturieren: Wenn 51 Männer so krankhafte Gelüste, eine solche Verachtung für Frauen und ihre Zustimmung haben. Wenn sie eine solche Unempfindlichkeit gegenüber Handlungen von unerhörter Gewalt zeigen und wenn nichts sie in ihrem Vorhaben aufhalten konnte, dann konnte dies nur dadurch geschehen, dass zutiefst reaktionäre Institutionen tagtäglich die Verbreitung einer patriarchalen Ideologie in allen Schichten der Gesellschaft reproduzieren, nähren und legitimieren.

Die marxistische Soziologie hat den historischen Prozess des Aufbaus der Institutionen der herrschenden Klasse und ihre Rolle bei der Verbreitung der „herrschenden Ideen“ aufgezeigt. Insbesondere in der Tradition von Friedrich Engels‘ grundlegendem Werk haben zahlreiche Arbeiten gezeigt, dass die Entstehung der Normen, die die bürgerliche Familie kennzeichnen – wie Heterosexualität, Liebesheirat oder Monogamie – dem historischen Bedürfnis der Bourgeoisie entspricht, durch die Hausarbeit der Frauen eine solide private Reproduktionseinheit für ihr Kapital zu gründen und aufrechtzuerhalten. So beruht die bürgerliche Familie als Fundament des kapitalistischen Systems auf der Idee, dass Frauen den Männern unterlegene Wesen seien, die ihnen Gehorsam schulden und ihnen physisch und psychologisch gehören. Diese Vorstellung durchdringt alle Bereiche unseres Lebens, bis hin zu unseren Wünschen, Fantasien und unserer Sexualität. Sie kann unter bestimmten Umständen zu schrecklicher Gewalt auch im Rahmen von Familienbeziehungen führen – wie Vergewaltigung in der Ehe oder sexualisierter Gewalt gegen Kinder.

Im Zeitalter des neoliberalen Kapitalismus sind die zunehmende Unsicherheit in den Haushalten, die Zerstörung der öffentlichen Dienstleistungen und die Zunahme reaktionärer Ideen weitere Faktoren in dieser langen Kette von Gewalttaten, die unsere Gesellschaft strukturiert. Was Autorinnen wie Silvia Federici oder Mariarosa Dalla Costa als „neoliberale Krise der sozialen Reproduktion“ definieren, äußert sich insbesondere in einer Zunahme psychischen Leidens, in konfliktreicheren Beziehungen und in einer größeren Isolation in Beziehungen, was zu einer Erneuerung der sexistischen Gewalt auch im Rahmen der Familie führt, wie neuere Studien zeigen. Wenn wir das Beispiel des sexuellen Missbrauchs von Kindern im familiären Umfeld nehmen, stellt sich die Frage nach der Rolle der öffentlichen Bildungs- und Gesundheitsdienste bei der Prävention und Aufdeckung dieser Gewalt, denn 11 % der Befragten in Frankreich geben an, Opfer solcher Gewalt geworden zu sein, was drei Schüler:innen pro Klasse entspricht.

Wie der Bericht des Hochkommissariats für Gleichstellung im Jahr 2024 zeigt, ist der Sexismus tief verwurzelt und „die Familie, die Schule und die digitale Welt” sind „die drei wichtigsten Brutstätten“. Der Bericht warnt vor „maskulinistischen Reflexen und machistischen Verhaltensweisen, die sich insbesondere bei jungen erwachsenen Männern verfestigen, während die Zuweisung von Frauen zur häuslichen Sphäre und zur Mutterrolle wieder an Boden gewinnt“. Der Bericht hebt insbesondere „die verheerenden Auswirkungen der Pornoindustrie”‚ hervor und stellt fest, dass „90% der pornografischen Inhalte nicht simulierte körperliche, sexuelle oder verbale Gewalt gegen Frauen zeigen” und dass „dies praktische und unmittelbare Auswirkungen auf das Sexualleben hat”: 47% der befragten Jungen glauben, dass Mädchen „erwarten“, dass Sex mit körperlichen Übergriffen einhergeht, und 42% glauben, dass die meisten Mädchen sexuelle Übergriffe „genießen“.

Eine sozialistisch-feministische Perspektive

Sich mit der Rolle des Staates und der Familie bei der Reproduktion von Gewalt zu befassen, unterstützt somit die Perspektive, dass es nicht die individuellen Männer, nicht einmal die 51 in Mazan, die wahren Monster sind: Letztendlich sind sie nur die „gesunden Kinder“ eines kapitalistischen und patriarchalen Systems, das seinerseits monströs ist. Es ist monströs, weil es tagtäglich machistische Gewalt erzeugt, reproduziert und verbreitet, um die Bedingungen für seine eigene Reproduktion zu gewährleisten. Und monströs, weil er gleichzeitig große „Gesellschaftsprozesse“ wie den in Mazan organisiert und seine eigene Rolle in der langen Kette der Gewalt, die zu solchen Dramen führt, verschleiert. Denn egal ob vor dem Strafgericht oder vor dem Schwurgericht, man kann dem Patriarchat nicht den Prozess machen.

Wäre der Fall in Mazan passiert, wenn die Milliarden Euro, die der Polizei und den Gefängnissen gewidmet werden, in eine von bürgerlichen Interessen unabhängige Erziehung zum Sexual- und Gefühlsleben investiert würden, die den Kindern von klein auf die nötige Sensibilität vermittelt, um zu erkennen und zu respektieren, welche Berührungen und Handlungen ihr Gegenüber mag, und welche nicht? Wenn die Arbeitszeit unter allen aufgeteilt würde, so dass wir die neue freigewordene Zeit dem Aufbau und der Suche nach befriedigenden und emanzipatorischen emotionalen und sexuellen Beziehungen widmen könnten? Wenn die Hausarbeit vollständig vergesellschaftet würde, mit der Einrichtung von kostenlosen und für alle zugänglichen Kinderkrippen, Wäschereien und Gemeinschaftskantinen unter der Kontrolle der Arbeiter:innen, sodass die Reproduktionsarbeit gleichberechtigt verteilt wird und keine Frau und kein Kind mehr in einem Haushalt eingesperrt werden?

Auch wenn diese Fragen noch nicht endgültig beantwortet werden können, wurden sie in der Geschichte von der sozialistischen und revolutionären feministischen Tradition gestellt und müssen auch heute wieder gestellt werden, um Wege zur Emanzipation der Frauen angesichts der Barbarei dieses Systems zu finden. Die Strafjustiz, die die Verantwortung für die Gewalt auf Einzelne abwälzt, die man nur inhaftieren bräuchte, damit es weniger Gewalt gibt, darf uns nicht täuschen. Sie ist eine Sackgasse, die keine Lösung für die sexistische Gewalt bietet, sondern unsere Ängste instrumentalisiert und uns entwaffnet, um den Repressionsapparat des bürgerlichen Staates zu legitimieren. Um die materiellen Grundlagen des Patriarchats zu untergraben und die Voraussetzungen für eine neue Gesellschaft zu schaffen, die frei von jeder Form von Ausbeutung und Unterdrückung ist, können wir uns nur auf uns selbst verlassen. 

Dieser Artikel erschien zuerst auf unserer französischen Schwesterseite Révolution Permanente.

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