Proteste, Generalstreik und ein Präsident, der sich weigert zurückzutreten: Die Krise in Haiti

12.02.2021, Lesezeit 7 Min.
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Photo: Toronto Star

Erneut gibt es Proteste und Streiks gegen den haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse, der sich weigert, von der Präsidentschaft zurückzutreten.

Haiti befindet sich in großen politischen Unruhen: Dort finden gerade Proteste und Mobilisierungen gegen den verhassten Präsidenten Jovenel Moïse statt. Diese Krise hat sich seit Januar verschärft, da der haitianische Staat die Mobilisierungen gewaltsam unterdrückt.

Am 1. und 2. Februar riefen die Gewerkschaften und die haitianische politische Opposition zu einem Generalstreik auf, der in den Großstädten auf breiter Front durchgeführt wurde. Die Regierung reagierte schnell, indem sie die Straßen der Hauptstadt Port-au-Prince und anderer Städte in dem karibischen Land militarisierte. Drei Menschen in Cap-Haïtien, der zweitgrößten Stadt des Landes wurden bei der polizeilichen Repression gegen den Generalstreik getötet.

Laut einem Artikel der haitianischen Verfassung beträgt die Amtszeit des Präsidenten fünf Jahre. Daher hätte Moïse am 7. Februar, als sein Mandat auslief, zurücktreten müssen. Stattdessen argumentiert er, dass er, basierend auf seiner eigenen Interpretation der Verfassung noch ein Jahr Regierungszeit hat.

Der Hass auf diesen Präsidenten sitzt tief. Moise ist beinahe seit Beginn seiner Amtszeit das Ziel von Protesten. Grund dafür ist die von ihm verantwortete korrupte und neoliberale Politik, die zu Hunger und Elend für die haitianische Bevölkerung führte.

Haiti ist ein langjähriges Opfer des Imperialismus und der Politik des Internationalen Währungsfonds. Nachdem sich versklavte Menschen heldenhaft erhoben hatten, um die Sklaverei und die französische Herrschaft zu stürzen, machten sich die europäischen Kolonien – insbesondere Frankreich – daran, Haiti dafür bezahlen zu lassen. Weiterhin halten die Vereinigten Staaten eine imperialistische Politik aufrecht. Haiti hat gegenüber den USA massive Auslandsschulden und die USA unterstützen Putsche, die Armut und Instabilität in Haiti aufrechterhalten.

Im Moment bleibt Moïse an der Macht, was auch an der Politik der haitianischen Oppositionsparteien liegt. Seit mehr als drei Jahren retten sie Moïses Haut, indem sie versuchen, in den Hallen der Macht einen friedlichen politischen Übergang auszuhandeln. Währenddessen protestieren die Menschen auf den Straßen und fordern seinen Rücktritt.

Haitis Oppositionsparteien haben jeden Schritt des Weges verhandelt. Am Montag riefen sie einen provisorischen Präsidenten aus, ohne jemanden zu befragen, am allerwenigsten die Menschen auf den Straßen. Genauso wie sie den Generalstreik ohne Rücksprache mit den Arbeiter:innen ausriefen, hoben sie ihn bürokratisch auf, um zu verhindern, dass die Situation aus dem Ruder läuft und die Mobilisierung ihrer Kontrolle entgleitet.

Die Demonstrationen gegen die Regierung Moïse reichen bis in den November 2018 zurück, als die haitianische Bevölkerung den Rücktritt von mehreren Ministern erzwang. Nach einer Stagnation wurden die Proteste im September 2019 wieder aufgenommen. Sie richteten sich gegen die Treibstoffknappheit, die zu Stromausfällen, Problemen im öffentlichen Verkehr und Preiserhöhungen bei grundlegenden Produkten und Dienstleistungen führte. Die Demonstrationen wurden brutal unterdrückt, wobei es mehr als 40 Tote und Hunderte Verletzte gab.

Während dieser Mobilisierung setzte sich die Opposition mit der Regierung zusammen, um die Bildung einer Übergangsregierung zu erzwingen, aber es gelang ihr nicht, eine solche durchzusetzen. Dies gab Moïse, der während seiner gesamten Präsidentschaft von den USA unterstützt wurde, eine gewisse Gnadenfrist.

Im Laufe seiner Amtszeit wurde Moïse immer autoritärer. Mit dem Hinweis auf die „Gefahr“ von Protesten verschob Moïses Regierung die für 2019 geplanten Parlamentswahlen und schloss das Parlament – eine Maßnahme, die ihn politisch isolierte. Seitdem regiert der Präsident per Dekret und sorgt für große Unzufriedenheit in einer Bevölkerung, die täglich unter Armut und der Gewalt krimineller Gruppen leidet, von denen viele mit der Regierung selbst verbunden sind.

Moïse gehört einer rechten Partei an, die durch eine Wahl an die Macht kam, die weithin als gefälscht kritisiert wird. Dennoch hielt sich Moïse mit der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und der Bourgeoisie an der Macht. Ihm und seinen Verbündeten wird die Veruntreuung von Staatsgeldern, Entführung und Plünderung vorgeworfen.

Inmitten der Krise kündigte das Militär an, dass es Moïse treu bleiben wird. 2017 gründete Moïse die Streitkräfte neu, zwei Jahrzehnte nachdem sie vom damaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide aufgelöst worden waren. „Die Streitkräfte Haitis bekräftigen ihre Entschlossenheit, die Verfassung und die legitimen, von der Bevölkerung demokratisch gewählten Behörden zu respektieren“, heißt es in einem Kommuniqué, das vom Oberbefehlshaber, Generalleutnant Jodel Lesage unterzeichnet wurde.

Da das Mandat am 7. Februar auslaufen sollte, haben mehrere haitianische Oppositionsparteien und -organisationen am 8. Februar den Richter Joseph Mécène Jean-Louis zum „Präsidenten des Übergangs“ ernannt. Jean-Louis, ein 72-jähriger Richter und seit 2011 Mitglied des Kassationsgerichtshofs, nahm ein Video auf, in dem er sagte, er akzeptiere „die Wahl der Opposition und der Zivilgesellschaft, um dem Land dienen zu können.“ Ein Mitglied am Kassationsgerichtshof, dem höchsten Gericht des Landes, zu platzieren, ist eine Politik, die die Opposition seit der Krise 2019 verfolgt.

Die „Ernennung“ von Jean-Louis kam einen Tag, nachdem Moïse behauptet hatte ein Richter des Kassationsgerichtshofs habe einen Komplott zur Inszenierung eines Staatsstreichs organisiert. Am selben Montag erließ Moïse ein Dekret, mit dem drei oppositionelle Richter, darunter Jean-Louis, in den Ruhestand versetzt wurden. Gleichzeitig erklärte Justizminister Rockefeller Vincent, dass die Regierung den von der Opposition benannten Präsidenten sofort verhaften würde.

Das Dekret enthebt Jean-Louis sowie den Richter Ivickel Dabrésil, der am Wochenende unter dem Vorwurf der Vorbereitung eines Putsches verhaftet wurde, und die Richterin Wendelle Coq Thelot, die ebenfalls der Opposition angehört, ihrer Ämter am Kassationsgerichtshof, dem höchsten Gericht des Landes. Die von Moïse erteilte Anordnung steht im Widerspruch zu Artikel 177 der Verfassung, der festlegt, dass die Richter des Kassationsgerichtshofs „unabsetzbar“ sind und somit nicht entlassen werden können, es sei denn, sie werden strafrechtlich angeklagt oder sind dauerhaft geistig oder körperlich unfähig. Moïse versucht ein Gericht zu schaffen, das ganz im Sinne seiner Regierung ist.

Die öffentliche Unterstützung für Moïse sinkt weiter. Allerdings erhielt er am vergangenen Freitag Rückendeckung durch die Regierung Joe Bidens. Diese bestärkte seine Behauptung, dass sein Mandat bis 2022 andauern würde. Aber die Unterstützung kam nicht nur von den Vereinigten Staaten, sondern auch von anderen imperialistischen Mächten, einschließlich Kanada und der Europäischen Union, sowie Brasilien und anderen Nationen.

Die Menschen, die seit 2018 gegen die Politik von Moïse mobilisieren, haben ein enormes Misstrauen gegenüber den politischen Führer:innen der Opposition. Sie haben viele von ihnen wegen Korruption und ihrer Verbindungen zu Sektoren der Bourgeoisie in Frage gestellt. Ohne die Politik der Opposition selbst, wäre Moïse während der großen Mobilisierungen gegen Hunger und Elend, die das Land erschütterten aus dem Amt entfernt worden.

Diese Sektoren der Opposition gehören zum politischen Establishment. Sie waren Teil der Verhandlungen und haben die Mobilisierung der Massen für ihre eigenen Interessen genutzt. Weder die Regierung Moïse, noch die Oppositionsparteien bieten eine echte Alternative für die haitianische Bevölkerung.

Sie schlagen eine Lösung vor, die nicht mit der historischen Unterordnung Haitis unter die Vereinigten Staaten und den IWF bricht, die das Land zerstört hat. Diese Unterordnung würde das System der Korruption aufrechterhalten, das die Massen auf der Straße ablehnen, ebenso wie das bestehende System des Elends und der extremen Armut im Land.

Erstmals veröffentlicht auf Spanisch am 9. Februar in La Izquierda Diaro.

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