Präsidentschaftswahlen in Chile: Extreme Rechte und reformistische Linke ziehen in Stichwahl
In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in Chile erreichte der rechtsextreme Politiker José Antonio Kast 28 Prozent der Stimmen. Der 35-jährige ehemalige Studierendenanführer Gabriel Boric erreichte 25 Prozent. Die beiden wichtigsten traditionellen Parteien erreichten keine Stichwahl. Trotzkist:innen erhielten 80.000 Stimmen.
Am Sonntag fand in Chile die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Die beiden siegreichen Spitzenkandidaten werden am 19. Dezember in einer zweiten Runde gegeneinander antreten. Keine der beiden traditionellen politischen Koalitionen schaffte es in die Stichwahl. Stattdessen erhielt der rechtsextreme Politiker José Antonio Kast 28 Prozent der Stimmen. Mit seiner Hetze gegen Migrant:innen und seiner Sympathie für den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro ist Kast so etwas wie die chilenische Version von Donald Trump. Er wird gegen Gabriel Boric antreten, den Kandidaten der Frente Amplio (Breite Front), der 25 Prozent der Stimmen erhielt. Boric, ein ehemaliger Studentenanführer und erst 35 Jahre alt, verspricht, Chile zum Grab des Neoliberalismus zu machen.
Die Wahl fand nur zwei Jahre nach dem Aufstand vom Oktober 2019 statt, der Millionen von Menschen auf die Straße brachte. Sie forderten ein Ende des Regimes, das aus der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) hervorgegangen ist. Wie ist es also möglich, dass Kast, ein offener Bewunderer Pinochets, in den Umfragen vorne liegt?
Zum Teil hat es mit dem Zusammenbruch der traditionellen Rechten um den derzeitigen Präsidenten, den Milliardär Sebastián Piñera, zu tun. Die Pandora-Papers enthüllten, dass er Offshore-Firmen benutzt, um Geld zu verstecken, das er für politische Gefälligkeiten von Bergbauunternehmen erhielt. Piñeras Wunschnachfolge-Kandidat, Sebastián Sichel, landete mit nur 12 Prozent auf dem vierten Platz. Er lag knapp hinter einem Überraschungskandidaten, dem Wirtschaftswissenschaftler Franco Parisi, der nicht einmal in Chile lebt. (Parisi behauptet, weder links noch rechts zu sein, aber wie immer bedeutet das, dass er ziemlich rechts ist.) Die traditionelle Mitte-Links-Koalition, die das Land von 1990 bis 2010 als Concertación regierte, ist ebenfalls zusammengebrochen. Ihre christdemokratische Kandidatin, Yasna Provoste, erhielt knapp 12 Prozent der Stimmen und landete damit auf dem fünften Platz.
Hier geht es nicht nur um das Auf und Ab der bürgerlichen Politik. Chile befindet sich in einer organischen Krise, in der breite Teile der Massen kein Vertrauen mehr in die Institutionen haben, die sich als „Demokratie“ präsentieren. Nur 47 Prozent der Wahlberechtigten gingen am Sonntag zu den Urnen – in den letzten zehn Jahren gab es nur eine einzige Wahl, an der auch nur die Hälfte der Menschen teilnahm. Das Parlament, der ebenfalls am Sonntag gewählt wurde, ist eine der meistgehassten Institutionen des Landes. Der Senat lehnte erst vor wenigen Tagen das Amtsenthebungsverfahren ab, dass Oppositionspolitiker:innen gegen Piñera aufgrund der korrupten Machenschaften veranlasst hatten, die in den Pandora-Papers aufgedeckt wurden. Wenig später verabschiedete die selbe Kammer einen Sparhaushalt in einem der ungleichsten Länder der Welt.
Die Rebellion von 2019 hat eine ihrer zentralen Forderungen durchgesetzt: es soll eine neue Verfassung erarbeitet werden, um die von Pinochet im Jahr 1980 diktierte zu ersetzen. Im Mai wurde ein Verfassungskonvent gewählt, um ein neues Regime auszuarbeiten. Doch trotz einiger demokratischer Reformen bleiben alle Hauptpfeiler des neoliberalen Regimes bestehen. Da das Gesundheits- und Bildungswesen sowie die Renten privatisiert wurden, leben Millionen von Arbeiter:innen, Rentner:innen und Jugendliche in äußerst prekären Verhältnissen. Chiles Repressivkräfte wie die Militärpolizei, die immer noch dieselbe Straffreiheit genießt wie zu Pinochets Zeiten, bleiben an der Macht – ebenso wie die Oligarchie der Milliardäre, die den Reichtum des Landes kontrollieren.
Millionen von Menschen forderten auf den Straßen die Selbstbestimmung für das Volk der Mapuche. Ihre Flagge, die Wenufoye, wehte hoch über der Plaza Dignidad (Patz der Würde, so wurde der zentrale Plaza Italia von den Demonstrierenden umbenannt) im Zentrum Santiagos. Doch während des Wahlkampfs wurde indigenes Land erneut vom Militär besetzt und der Ausnahmezustand in der Region Araucanía erklärt, wo der Großteil der Mapuche lebt. Piñeras Regierung versucht, den Widerstand der Mapuche zu brechen, damit multinationale Konzerne Holz und Bodenschätze besser ausbeuten können.
Kast steht für die Reaktion auf die Proteste der letzten zwei Jahre – seine Kampagne wurde durch eine Medienkampagne für „Recht und Ordnung“ unterstützt, mit fantasiereichen Geschichten über Verbrechen, die von Aktivist:innen, armen Menschen und Einwanderern verursacht werden. Kasts Anhänger:innen hoffen auf die Wiederherstellung des weißen, repressiven Staates in Chile – inspiriert von Trumps Bewegung fordern sie „Make Chile Great Again“.
Boric hingegen steht für den Versuch, die Rebellion in die Institutionen des bürgerlichen Staates zu lenken. Er war einer der Anführer:innen der Studierendenbewegung von 2011 und gründete eine neue linke Gruppe, die Teil der Frente Amplio wurde. Im Wahlkampf richtete er sich an gemäßigte Wähler:innen und versprach, dass nur seine Kandidatur „Regierungsfähigkeit“ und sozialen Frieden gewährleisten würde. Er war lange Zeit der Favorit, aber sein Vorsprung schmolz im letzten Monat des Wahlkampfes dahin. Boric passte sich der „Recht und Ordnung“-Kampagne der Konzernmedien an und versprach in der Wahlnacht, den Drogenhandel zu bekämpfen – was der chilenischen Polizei nur einen Vorwand liefern wird, arme Menschen zu schikanieren und zu ermorden.
Die Frente Amplio arbeitete in einem Bündnis mit der Kommunistischen Partei an der Eindämmung der Oktoberrebellion. Am 12. November 2019 erschütterte ein historischer Generalstreik das Land. Die Regierung Piñera war am Ende, und es hätte zu einer revolutionären Situation kommen können. Zu diesem Zeitpunkt unterzeichnete die reformistische Linke ein Friedensabkommen mit Piñera und forderte die Menschen auf, die Straßen zu verlassen und auf die Wahlen zu warten. Dank der Frente Amplio bleiben alle Widersprüche, die zum Aufstand geführt haben, ungelöst. Die Forderungen nach einer menschenwürdigen Gesundheitsversorgung, Bildung und Renten wurden nicht erfüllt, und der Verfassungskonvent gibt der Rechten immer noch die Macht, selbst bescheidene Sozialreformen zu blockieren.
Auf diese Weise hat die reformistische Linke es der extremen Rechten ermöglicht, gestärkt zu werden. Da sich Chile der Stichwahl in einem Monat nähert, werden viele Boric als das kleinere Übel ansehen, um den Sieg eines chilenischen Trump zu verhindern. Da Boric immer gemäßigter wird, ist klar, dass eine Stimme für ihn Kast und die von ihm vertretenen fremdenfeindlichen Kräfte nicht aufhalten wird. Nur die fortwährende Selbstorganisation und Mobilisierung der Massen – die die „Banner des Oktobers“ wieder aufgreifen – kann die Rechten aufhalten.
Die Revolutionäre Arbeiter:innenpartei (PTR), die chilenische Schwesterorganisation von Klasse Gegen Klasse, stellte in 10 der 28 chilenischen Wahlkreise Kandidat:innen sowohl zu den landesweiten als auch den lokalen Parlamentswahlen auf. Diese trotzkistische Organisation gründete zusammen mit anderen sozialistischen Gruppen eine Front für die Einheit der Arbeiter:innenklasse (FUCT). Ihre Kandidaten waren Arbeiter:innen, Umweltaktivist:innenen und Aktivist:innen der Bewegungen für Abtreibungsrechte, LGBTQ+-Rechte und demokratische Rechte. Ihre Kampagne zielte nicht darauf ab, Parlamentssitze zu gewinnen – es ging darum, für einen Generalstreik zu agitieren, um das Regime zu stürzen. Sitze im Parlament würden dieses Ziel unterstützen.
Die PTR und die FUCT erhielten insgesamt knapp über 80.000 Stimmen, 50.000 davon bei den Parlamentswahlen – das beste Ergebnis für trotzkistische Kandidat:innen in Chile seit den 1930er Jahren. Zusammen mit dem historischen Ergebnis für Trotzkist:innen in Argentinien vor einer Woche bedeuten diese Stimmen Hoffnung für die Zukunft. In den kommenden sozialen Explosionen in Chile werden revolutionäre Ideen für breite Teile der Arbeiter:innenklasse sichtbarer werden.
In Antofagasta, im Norden des Landes, hat die PTR ein besonders starkes Ergebnis erzielt. Der Fabrikarbeiter Lester Calderón warb im Wahlkampf damit, „die Stimme der Werktätigen in den Kongress zu tragen“. In diesem Bergbauzentrum, in dem ein großer Teil des weltweiten Kupfers abgebaut wird, war Calderón eine lokale Sensation. Dieser Erfolg war kein Wahlphänomen: Calderón war Sprecher des Notstands- und Schutzkomitees, eines Organs der Selbstorganisation während des Aufstandes in Antofagasta. Calderón konnte das starke Ergebnis von vor sechs Monaten nicht halten, aber ein Trotzkist erhielt 5 Prozent der Stimmen in einem der wichtigsten Bergbauzentren der Welt.