Polizeigewalt gegen linken Israeli: Wo beginnt Antisemitismus?

06.04.2024, Lesezeit 5 Min.
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Symbolbild: Ayrin Giorgia (KGK)

Der israelische Berliner Yuval Carasso wurde von der Berliner Polizei verletzt und soll nun eine Strafe von 2.000 Euro zahlen.

Der Brief ist eigentlich ganz niedlich. Im März erhielt der israelische Berliner Yuval Carasso einen Brief vom Berliner Amtsgericht mit einem juristischen Dokument auf Deutsch und einer Übersetzung ins Hebräische – nur, dass die hebräischen Seiten in dem zusammengehefteten Paket auf dem Kopf standen, weil anscheinend jemand nicht wusste, dass Hebräisch von rechts nach links geschrieben wird. Eine deutsche Behörde versuchte, Sympathie für jüdische Menschen zu zeigen, und entlarvte am Ende ihre Unkenntnis.

Der Inhalt des Schreibens war jedoch nicht amüsant. Carasso soll eine Geldstrafe von 2.000 Euro zahlen oder 25 Tage im Gefängnis verbringen. Ihm wird vorgeworfen, am 13. September vergangenen Jahres „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ geleistet zu haben. Der israelische Künstler wurde von zwei Polizisten in Zivil vor der Neuköllner Bar „Bajszel“ festgehalten – ausgerechnet bei einer Veranstaltung zum Thema Antisemitismus – und soll sich gewehrt haben, als sie ihn zu Boden warfen und ihm Handschellen anlegten.

Gegenüber nd erklärt Carasso, dass er die Anweisungen der Polizisten befolgt habe, obwohl ihm nicht sofort klar gewesen sei, dass es sich um Polizisten handelte. Am nächsten Tag war er mit blauen Flecken übersät – eine Ultraschalluntersuchung ergab, dass seine Rippen zwar nicht gebrochen waren, aber sie schmerzten noch wochenlang, so Carasso. Wie Kritiker:innen der deutschen Polizei seit langem anprangern, wird jeder, der sich über erlebte Polizeigewalt beschwert, fast automatisch wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“ angeklagt. Die Berliner Polizei lehnte eine Stellungnahme im nd unter Berufung auf Datenschutzgesetze ab. Gegenüber der englischsprachigen Publikation The New Arab hatte man jedoch zuvor erklärt: „Um das Verletzungsrisiko für alle Beteiligten zu verringern, haben die Beamten den Randalierer zu Boden gebracht, ihn gefesselt und ihm Handschellen angelegt.“

Dies ist ein hochpolitischer Fall. Carasso hatte eine öffentliche Veranstaltung im „Bajszel“ besucht, bei der die Broschüre „Mythos#Israel1948“ vorgestellt wurde. Diese ist seither weithin kritisiert worden, weil darin behauptet wird, die massive Vertreibung der Palästinenser:innen im Jahr 1948, die sogenannte Nakba, sei in Wirklichkeit ein Mythos. Carasso hörte etwa eine halbe Stunde lang geduldig zu, wie er sagt, bis ihn ein Security-Mitarbeiter ansprach. In einer Erklärung schrieben die Organisator:innen, dass ein junger Mann unerlaubt gefilmt habe, während Carasso bestreitet, gefilmt oder fotografiert zu haben – letzteres bestätigt ein Augenzeuge, der direkt neben ihm saß.

Als er gebeten wurde zu gehen, stand Carasso auf und sprach laut Augenzeugen etwa eine Minute lang über seine eigenen Erfahrungen beim israelischen Militär und über seine Großmutter, die aus dem von den Nazis besetzten Europa geflohen war und dann miterlebte, wie Palästinenser:innen aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Im Statement zur Veranstaltung hingegen heißt es, ein junger Mann „beschimpfte uns etwa eine Minute lang, weswegen ein Hausverbot ausgesprochen wurde.“ Sowohl die Bar „Bajszel“ als auch die Vereinigung Masiyot, die Herausgeber des Pamphlets, prangern ein „aggressives“ Verhalten an, während zahlreiche Augenzeugen entgegnen, er sei völlig friedlich gewesen. Die Versionen weichen stark voneinander ab.

Als Carasso die Bar verließ und versuchte, nach Hause zu gehen, soll er von Zivilpolizisten gewaltsam festgehalten worden sein. Bemerkenswert ist, dass Carasso beschuldigt wurde, unerlaubt gefilmt zu haben, während die Organisatoren in ihrem Statement gleichzeitig auf ein Video verweisen, „das ein Teilnehmer der Veranstaltung offensichtlich zur Bezeugung der Aggressivität dieses Herrn aufgenommen hat“. Mindestens eine weitere Person in dem Raum hat also gefilmt, aber nur ein jüdischer Teilnehmer wurde aufgefordert, den Raum zu verlassen, weil er angeblich dasselbe getan habe. Ist dies ein Fall von Antisemitismus? Carasso meint: ja. „Ich fühle mich nicht sicher“, sagt er gegenüber nd.

Schauen wir uns einige Analogien an: Der Spiegel druckte Antisemitismusvorwürfe gegen das Kulturzentrum Oyoun, ebenfalls in Neukölln, weil angeblich ein Israeli von einer Veranstaltung verwiesen wurde. Später mussten sie korrigieren, dass die Person, die nach der Störung einer Veranstaltung das Oyoun verlassen musste, weder Israeli noch Jude war – dennoch führen sie dies als Beweis für Antisemitismus an. Als mehrere pro-israelische Studierende aufgefordert wurden, eine Palästina-Solidaritätsveranstaltung an der Freien Universität Berlin zu verlassen, weil sie störten, wurde dies in der gesamten deutschen Presse als ein Fall von Antisemitismus dargestellt – obwohl zahlreiche jüdische Studierende die Veranstaltung organisiert hatten. Wie soll man also den Fall von Yuval Carasso nennen?

„Das deutsche Establishment zählt Yuval nicht als Jude, weil er Israel nicht unterstützt“, stellt Wieland Hoban von der Gruppe Jüdische Stimme fest. Carasso wollte eine politische Meinung äußern, die auf seiner Erfahrung als Israeli beruht, und wurde stattdessen mit wochenlangen Schmerzen und einer Geldstrafe belegt. Die deutsche Regierung sagt, sie schütze jüdisches Leben in Deutschland. Aber das gilt nur für Juden, die die rechtsextreme israelische Regierung unterstützen. Kritische Juden wurden verprügelt, verhaftet, bespuckt, entlassen und denunziert. Wie die Journalistin Emily Dische-Becker errechnet hat, richteten sich 30 Prozent der Veranstaltungsabsagen in Deutschland wegen angeblichen Antisemitismus gegen jüdische Menschen. Wo sind die Antisemitismus-Zensoren? Wo sind die Solidaritätskundgebungen? Wo sind die Zeitungsberichte?

Deutsche Staatsbeamte müssen nicht nur lernen, dass Hebräisch von rechts nach links geschrieben wird, sondern auch, dass die jüdische Gemeinschaft vielfältig ist, voll von bitteren Auseinandersetzungen und talmudischen Debatten, auch über Israel. Carasso plant, gegen das Urteil Berufung einzulegen.

Dieser Artikel erschien erstmals am 3. April in der Kolumne „Red Flag“ bei nd.

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