Polizei schlägt, Bild-Zeitung lügt: Interview mit Betroffenem
Eine Gruppe von befreundeten Schwarzen Münchner*innen, die am Gärtnerplatz die möglicherweise letzte warme freitägliche Sommernacht feiern wollten, und eine Gruppe von Polizist*innen: Das Resultat sind vier Festnahmen und vor allem ein Schlagstock, der im Gesicht des 26-jährigen Marcus Kobina M. landet. In der medialen Berichterstattung wird der Vorfall relativiert. Problematisch – aus Sicht des Täters in Uniform –, dass es Bildmaterial gibt, welches ihn belastet und die Aussagen von Marcus stützen.
Wir sprechen mit M., der Anzeige gegen den Polizeibeamten erheben möchte, der ihm am Freitag, den 4. September, mit gezielten Schlägen Verletzungen im Gesicht zufügte. Wir lassen ihn seine Sicht der Situation schildern. Diese Perspektive fand nämlich in der bisherigen Berichterstattung durch die Münchner Boulevardzeitung tz, die Süddeutsche und auch die BILD bisher kein Gehör. Die einseitige Berichterstattung wird beispielsweise dadurch verdeutlicht, dass lediglich die Süddeutsche in einem Artikel zu dem Vorfall erwähnt, dass der Einsatz von Schlagstöcken gegen den Kopf ein absolutes Tabu sei. Doch noch schlimmer: In der BILD vom Freitag, den 11. September, wird dreist gelogen und behauptet, M. hätte bei der Staatsanwaltschaft ausgesagt, dass er sich seine Verletzungen selbst zugefügt hätte! (Foto am Ende des Artikels)
Hier fassen wir die Ereignisse des Abends zusammen: Nackt in den Keller sperren: Die Spezialität der Münchner Polizeiinspektion 14
Bei uns kommt M. persönlich zu Wort.
Guten Abend M.! Ich freue mich sehr, dass du zu einem Interview bereit bist. Kannst du zu Beginn den Vorfall aus deiner Sicht schildern?
M.: Wir waren am besagten Abend am Gärtnerplatz in München verabredet. Meine Freunde, mein Bruder und ich waren ab circa 21:30 Uhr dort. Gegen 22:30 Uhr zeigte die Polizei vermehrt Präsenz am Gärtnerplatz, um die Lautstärke nach Beschwerden der Nachbarn einzudämmen. Ein Polizist kam wiederholt direkt zu unserer Gruppe und wollte eine Ausweiskontrolle durchführen. Ein Freund von mir wollte sich nicht ausweisen, nach wiederholter Aufforderung händigte er jedoch den Ausweis aus. In der Folge haben sie ihn zu zweit festgenommen und über die Straße zu einem Einsatzwagen gezerrt. Ich konnte dabei nicht einfach nur zusehen, also ging ich dazu und versuchte, verbal auf die Beamten einzuwirken. Ich habe die Polizei natürlich nicht körperlich bedrängt und angegangen, da ich weiß, dass dies nichts bringt und sich eher negativ auswirkt. Ich bin also im Versuch, die Situation zu entschärfen, zu meinem Kumpel und den Beamten gelaufen und habe kurz darauf den Schlagstock auf den Kopf bekommen. Da ich direkt für einige Sekunden bewusstlos wurde und zu Boden fiel, konnte ich selber erst nach Betrachten des Videomaterials wissen, dass ich am Kopf getroffen wurde. Ich bin nach dem Schlag langsam wieder zu Bewusstsein gekommen. Mein Bruder hat mich im Getümmel geschützt und versucht, aus der Situation rauszuziehen. Er und einige Freunde haben versucht, mir beim Aufstehen zu helfen, kurz darauf bin ich erneut zusammengesackt. Als Polizeibeamte mich und meinen Bruder befragten, fragten sie, ob ich selbst in der Verfassung sei, zur Klinik zu gehen. Ich musste darauf bestehen, dass sie einen Notarzt rufen.
Wie hast du das Auftreten der Polizeibeamten erlebt? Gab es Provokationen von eurer oder deren Seite vor der Eskalation?
M.: Unsere Stimmung, auch die der restlichen Menschen am Gärtnerplatz, war locker und positiv. Ich hatte schon das Gefühl, dass die Polizei nach ihrer ersten Aufforderung schnurstracks wieder zu uns kam, das war eine zielgerichtete Orientierung, obwohl wir ihrer Aufforderung, die Musik leiser zu machen, nachgekommen sind. Wir haben sie sogar ausgemacht! Sie kamen trotzdem zu uns und haben ohne ersichtlichen Grund nach unseren Personalien gefragt. So wie ich das beurteilen kann, waren wir die einzigen, die sich ausweisen sollten.
Im Polizeibericht und in sämtlichen Artikeln der gängigen Medienvertreter*innen stand geschrieben, dass der „20-jährige Mann aus Haar“ den gesamten Gärtnerplatz mit seiner Musikbox beschallt hätte, was sagst du zu der Darstellung?
M.: Er hat mit seiner Box schon dazu beigetragen, aber mehrere Gruppen hatten ihre Lautsprecher dabei und haben Musik abgespielt. Unsere Gruppe war nur eine von vielen Lautstärkequellen. Außerdem haben wir ja wie gesagt nach der ersten Aufforderung unsere Musik ausgemacht. Es gab also keinen Grund, gerade uns für eine Personenkontrolle herauszupicken.
Zu dem Vorfall gibt es den bereits erwähnten Pressebericht der Polizei München sowie zahlreiche Artikel regionaler und überregionaler Medien, wie z. B. der tz, der SZ und der BILD. Was kannst du zu den Darstellungen dieser Berichte sagen?
M.: Ich hätte mir persönlich auch eine Darstellung aus unserer Sicht gewünscht. Es wurde teilweise relativiert, zum Beispiel wird bei einem Artikel der SZ der Eindruck erweckt, der Schlag wäre aus Versehen passiert. Im Video, dass die BILD-Zeitung in ihrem Bericht veröffentlicht hatte, erkennt man aber deutlich, dass der Schlag zielgerichtet war. Es hat sich allerdings kein Medienvertreter bei mir oder meinen Freunden gemeldet, um unsere Perspektive zu beleuchten. Im Gegenteil, die neue Darstellung aus der BILD, dass ich bei der Staatsanwaltschaft ausgesagt hätte, dass ich mir meine Verletzungen selbst zugefügt hätte, ist dreist gelogen!
Wie ging es in den nächsten Tagen weiter?
M.: Noch in der selben Nacht kam ich ins Krankenhaus und wurde dort behandelt. Diagnostiziert wurde eine Gehirnerschütterung, außerdem hatte ich zwei etwa drei Zentimeter lange Platzwunden. Eine an der Oberlippe und eine weitere im Mundraum. Beide mussten mit mehreren Stichen genäht werden. Besonders schmerzhaft während dem Essen und Trinken, aber auch dem Reden ist bis heute der Riss vom Lippenbändchen. Am Dienstag, dem 8. September, hatte ich einen Termin beim Bayrischen Landeskriminalamt. Da wurde ich von einer Kriminalkommissarin zu dem Vorfall angehört. Ich hatte schon das Gefühl, von ihr persönlich ernstgenommen zu werden. Die Beamtin erzählte mir, dass sich die Staatsanwaltschaft bereits dem Fall angenommen hat und ermitteln wird. Unabhängig davon habe ich aber auch betont, dass ich persönlich auch eine Anzeige stellen möchte. Ich wurde mehrmals gefragt, ob ich da wirklich sicher sei.
Nochmal vielen Dank für deine Zeit und die Einblicke über die Geschehnisse vom letzten Freitag. Wir wünschen dir viel Erfolg bei deinem Bemühungen gegen deine persönliche Erfahrung von Polizeigewalt.
Zum Abschluss wollen wir aus der Redaktion von Klasse Gegen Klasse noch einmal bekräftigen:
Bei der Betrachtung von M.’s Perspektive wird deutlich, dass es einige Differenzen zur Berichterstattung der Medien gibt, die sich ausschließlich auf die Aussagen der Polizei München und deren Pressebericht vom 5. September stützt. Besonders auffällig ist hierbei die Rechtfertigung für die Identitätsfeststellung durch die Beamt*innen. Diese erfolgte nämlich nicht, wie im Pressebericht behauptet wurde, im direkten Anschluss an die Aufforderung, die musikalische Beschallung einzustellen, sondern erst im Nachgang – obwohl die Gruppe von M. dieser Aufforderung Folge leistete. Außerdem ist es auch absolut realitätsfern, dass er wie beschrieben den Gärtnerplatz in Eigenverantwortung mit seiner „Musikbox“ beschallt hätte. Um eine solche Fläche mit der Menge an Menschen (bis zu 300 Personen, laut Polizei München) mit Musik zu versorgen, bräuchte man eine Anlage, die auch auf Konzerten verwendet wird. Alleine dieser Aspekt sollte reichen, um ernsthafte Zweifel an der Aufrichtigkeit und Souveränität der Polizei aufzuwerfen.
Darüber hinaus bleibt aber die Frage im Raum, warum ausgerechnet die Gruppe von M. und seinen Freund*innen so in den Fokus der Beamt*innen rückte. Laut seinen Schilderungen waren sie definitiv nicht diejenigen, die alleinig für die Ruhestörung verantwortlich waren. Es wäre auch vermessen zu glauben, dass dies eine Gruppe von fünf Personen bewerkstelligen kann. Der Gärtnerplatz ist ein bekannter Hotspot, der in den vergangenen Wochen regelmäßig zu einem Einsatzort der Polizei München wurde. Mehrere hundert Personen, die am Wochenende bei warmen Temperaturen gemeinsam feiern, alkoholische und nicht-alkoholische Getränke konsumieren, Musik hören und sich unterhalten, sind dort ein Normalzustand. Auch die Politik hatte sich dem Thema in den letzten Wochen gewidmet. Erst letzte Woche hatte der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter angekündigt, dass die Stadt München ein Konzept vorlegen werde, was gegen diese Art der Ansammlungen, speziell an Hotspots, vorgehen werde. Es fällt schwer zu glauben, dass die Gruppe aus jungen migrantischen Menschen nur zufällig kontrolliert wurde. Immer wieder gibt es Vorwürfe gegen die Polizei der rassistischen Diskriminierung oder Gewalt. So zum Beispiel im Juli, als die Polizei drei Schwarzen Männern den Zugang zum Englischen Garten verwehrte.
Rechtswidrig ist eine Identitätsfeststellung auf die Art und Weise, wie es in der Nacht vom letzten Freitag auf Samstag passiert ist, leider nicht. Die Polizei hat auch das Recht, die betroffene Person bei einer Verweigerung mit auf eine in der Nähe befindliche Wache mitzunehmen. Richtig ist aber auch, dass erst durch die scheinbar willkürliche Auswahl derjenigen Personen, die vermeintlich als Einzige kontrolliert werden sollten – nämlich die Gruppe von Schwarzen jungen Männern, der M. angehörte – die Eskalation provoziert werden konnte, die ebendiesen Einsatz rechtfertigen soll. Diese Kontrollen von Jugendlichen of Colour durch die Polizei sind Alltag in Deutschland. Zu diesem vielfach erlebten und berichteten Racial Profiling wollte Innenminister Seehofer (CS) allerdings keine Studie in der Polizei durchführen lassen — schließlich sei es ja verboten, Menschen aufgrund ihrer zugeschriebenen Herkunft zu kontrollieren. Dass Jugendliche für das Musik hören auf einem öffentlichen Platz mit einer Behandlung im Krankenhaus bezahlen müssen, ist dagegen scheinbar aus staatlicher Sicht legitim.
Für seine Klage sucht M. Zeug*innen. Habt ihr die Geschehnisse am Abend des 4. September 2020 auf dem Gärtnerplatz gesehen? Meldet euch bei uns!
Du hast auch Polizeigewalt erlebt? Schick uns deinen Bericht!
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Erfundener Bild-Artikel vom 11. September: