„Polemik” darf in der Linken kein Unwort sein
In der politischen Linken herrscht wenig Einigkeit, die unzähligen Konflikte scheinen unüberwindlich. Ein Debattenbeitrag über unsere Diskussionskultur und politische Differenzen.
Kritisiert man Genoss:innen oder andere linke Organisationen, kommt meist Gegenwind. Verständlich, denn schließlich hat man ihre Politik angegriffen. Man sollte meinen, dass dann eine inhaltliche Rückmeldung kommt. Allerdings passiert das in der gesamten Linken – sowohl in der Linkspartei als auch in der radikalen Linken – kaum. Meist reichen die Antworten von „Wenn wir nur streiten, verlieren wir im Wahlkampf“ bis zu „Klärt das doch persönlich“. Sie entpolitisieren die ursprüngliche Debatte, indem sie politische Kritik persönlich nehmen und versuchen, die Diskussion aus der Öffentlichkeit herauszuziehen. Doch ist die Diskussionskultur der Grund für die tiefe Spaltung und wie können wir diese überwinden?
Kritik nur im Privaten?
Ein gegenwärtiges Beispiel ist der Fall von Riley Dubiel*. Solid-Bundessprecher:in Dubiel hat ein Paper für das Auswärtige Amt über feministische Außenpolitik verfasst. Das wird in einem Artikel auf Klasse gegen Klasse scharf kritisiert. Der Auszug des Papers, den die Linksjugend auf ihrem Instagram-Kanal veröffentlichte, ordnete sich faktisch der angeblich „fortschrittlichen“ Außenpolitik der Bundesregierung unter. In der Diskussion um den Artikel gab es kaum inhaltliches Feedback. Vor allem aus dem Bundessprecher:innenrat von Solid kam quasi gar nichts. Bundessprecher Jan Schiffer eilt Riley zu Hilfe: Wenn man den Text von Riley schlecht finden würde, solle man das einfach persönlich mit Riley diskutieren. Doch durch solche Aussagen wird die Diskussion komplett ins Private verschoben. Wenn man die eigene Meinung veröffentlicht, muss man damit rechnen, auch öffentlich dafür kritisiert zu werden.
Es reicht auch nicht ausschließlich zu versuchen, die Führung ideologisch davon zu überzeugen, dass sie bessere Politik macht. Selbst dann, wenn diese in einzelnen Fragen darauf eingeht, während man gegenüber der Basis und damit auch den eigenen Genoss:innen schweigt. Anstatt mit einer großen Anzahl von Menschen zu diskutieren und womöglich eine veränderte Politik von vielen auf die Straße zu bekommen, hangelt man sich im Hinterzimmer von Kompromiss zu Kompromiss. Tritt man beispielsweise mit einer solchen Methode an die Gewerkschaftsbürokratie heran, dann versucht man am Ende des Tages die Führung davon zu überzeugen, ihre extrem hohen Gehälter aufzugeben, die aus der Vermittlung mit dem Kapital entstehen. Als ob Bürokrat:innen einfach ihre verhältnismäßig große soziale Sicherheit für linksradikale Politik aufs Spiel setzen. Genau deshalb ist öffentliche Kritik ein zentrales Element, um die Kolleg:innen zu überzeugen, dass ihre Führung nicht in ihrem Interesse handelt und sie sich selbst organisieren müssen.
Was spaltet die Linke?
Doch die Abneigung gegen öffentliche Diskussionen sitzt tief in der Linken. Aus Angst, vermeintliche Einigkeit zu gefährden und dann jeglichen Einfluss zu verlieren, weil man nur mit den eigenen Problemen beschäftigt sei, scheut man sie. Das ist auch wenig verwunderlich, wenn man sich anschaut, wie viele Spaltungen es gibt und auch wie unpolitisch diese in der Regel ausgetragen werden. Teilweise endet das in unzähligen Kleinstgruppen, teilweise in zerstrittenen Parteien. Das liegt jedoch daran, dass die eigentlichen politischen Gründe, warum man sich voneinander getrennt hat, oft im Verborgenen bleiben, eben weil man keine öffentliche Diskussion führt und gegensätzliche politische Positionen so transparent wie möglich darstellt. Stattdessen wird oft in Privatgesprächen mithilfe von Sympathie und im Fall von reformistischen Organisationen oft unter Versprechung von Posten versucht, Leute zu überzeugen. Gerade wenn man den Staatsapparat hinter sich hat, ist dies eine komfortable Situation.
Im Fall Riley Dubiel geht es ja nicht nur um ein individuelles Verhalten von Riley, sondern um die prinzipielle Frage dahinter: Soll man sich mit den „fortschrittlichen” Teilen der eigenen herrschenden Klasse gegen das reaktionäre, russische Kapital zusammen tun oder kann es eine von Putin und NATO unabhängige Position geben? Vor der Bundestagswahl haben viele dafür plädiert, die LINKE trotz ihrer Anpassung an die NATO zu wählen. Mit dem Ukraine-Krieg drängte sich die Frage in den Mittelpunkt und sie sind jetzt gespaltener als davor. Wir müssen endlich davon wegkommen erst pro-imperialistische Kräfte zu wählen, weil man sich sozialen Fortschritt in Deutschland verspricht, und sich dann mit diesen chauvinistischen Positionen auch hinter die deutsche Sanktionspolitik stellt, die auf Kosten der Bevölkerung geht. Dabei biedern sich die Reformist:innen so sehr dem bürgerlichen Staat an, dass sie nicht mal die minimalsten Forderungen durchsetzen können. Sie bestimmen jedoch, wie die Auseinandersetzung um die Forderungen geführt wird, weshalb es für sie auch bedrohlich ist, wenn sie durch Polemiken herausgefordert werden. In der weiteren Konsequenz wehren sie sich vehement dagegen, eine politische Diskussion zu führen.
Exemplarisch kann man sich die aktuellen Positionen der Hauptflügel der Linkspartei in der aktuellen Situation sowie ihre Reaktionen auf Kritik ansehen: Die Antwort vom Wagenknecht-Flügel ist, die deutsche Wirtschaft vor den Sanktionen zu verteidigen, denn wenn es der deutschen Wirtschaft gut geht, geht es auch den Arbeiter:innen gut. Dabei wird auch immer wieder unter dem Vorwand, die Arbeiter:innen nicht zu verschrecken, die Frage von sexistischer und rassistischer Unterdrückung ausgeklammert. Konfrontiert man das in Gesprächen, wird man wahlweise als wohlstandsverwahrloste:r Student:in aus Berlin Friedrichshain bezeichnet oder einem wird ein bösartiges Interesse unterstellt, die Klasse zu spalten. Auch die Bewegungslinke hat keine Antwort auf die politische Krise. Mit ihrer Identitätspolitik klammern sie die Notwendigkeit die Ausgebeuteten und Unterdrückten unter dem Banner der Arbeiter:innenklasse zu vereinen aus und stellen es so dar, als ob alle Bewegungen sich nur irgendwie zusammenfinden müssen und am Ende am besten die LINKE wählen, um ihre Forderungen ins Parlament zu tragen. Nicht zuletzt ist ihre Antwort auf die Ausbeutung eine Neoliberale: Wenn alle Leute nur genug Grundeinkommen haben, ist jede:r wieder seines Glückes Schmied:in. Konfrontiert man dies mit einem klassenkämpferischen und vor allem antiimperialistischen Programm, ist die häufigste Reaktion, das Gesagte zum Wagenknecht-Flügel zuzuordnen, ohne inhaltliche Erwiderung. Beide Flügel etablieren so eine Routine, die sich völlig gegen jede Kritik abdichtet. Deshalb ist es umso wichtiger, Druck auszuüben und die Anführer:innen der Strömungen dazu zu zwingen, ihre Politiken inhaltlich zu verteidigen. So kann man reformistische Bürokrat:innen entlarven. Einfach still zu halten führt nicht dazu, dass die Linke ihre Spaltung überwindet. Im Gegenteil: Sowohl die Politik des Wagenknechtflügels als auch des Pols rund um die Bewegungslinke ist nicht nur reformistisch, sondern treibt einen riesigen Keil in die Arbeiter:innenklasse, weil es sie schlicht und ergreifend programmatisch ausschließt.
Folgt man der Logik, dass Kritik spaltet, müsste man sogar Deutsche Wohnen und Co. kritisieren. Sie haben vor dem Parteitag der LINKEN demonstriert, weil sich deren Spitze nicht klar hinter die Enteignung stellt und lieber mit Enteignungsgegner:innen aus SPD und Grünen regiert. Die Spaltung der Bewegung kommt durch die rot-rot-grüne Regierung, die den Volksentscheid verrät. Die mehr als eine Million Menschen, die sich für die Enteignung ausgesprochen haben, und die Kampagne sind nicht schuld, dass die LINKE sie verrät.
Wie können wir die Spaltungen überwinden?
Das Beispiel von Deutsche Wohnen und Co. verdeutlicht: Öffentliche Polemiken sind umso wichtiger, damit die Basis nicht resigniert, sondern gegen ihre verräterischen Führungen kämpft, um ihre Forderungen umsetzen zu können. Selbes gilt auch für die linken Teile in der LINKEN und der Linksjugend Solid.
Wir wollen nicht um der Diskussions willen diskutieren, sondern um politisch und ideologisch voranzukommen. Ziele werden nicht mit einer mehr oder weniger friedlichen Koexistenz von verschiedenen Strategien umgesetzt, sondern mit programmatischer und politischer Klarheit. Auf Basis von gemeinsamen Kampferfahrungen und politischer Übereinstimmung können linke Organisationen und Gruppen dann sogar fusionieren.
Es gibt im Marxismus eine große Tradition von Polemiken, die als positives Beispiel dienen können: Lenins Polemiken gegen Kautsky, Rosa Luxemburgs Kritik an Bernsteins Reformismus oder auch Marx‘ Kritik am Entwurf des sozialdemokratischen Gothaer Programms. Die teilweise scharfen Kritiken konnten der Basis aufzeigen, welche Politik besser ist und haben die Arbeiter:innenbewegung und den wissenschaftlichen Sozialismus ohne jeden Zweifel voran gebracht. Damit Polemik in der Linken kein Unwort mehr ist, müssen wir aber auch genau darüber nachdenken, welche positiven Gegenangebote man der Basis machen kann. Es reicht sicherlich nicht nur daneben zu stehen und zu kritisieren. In diesem Sinne rufen wir alle linken Genoss:innen in der LINKEN und in der Linksjugend Solid offen gegen diese Spaltungen ihrer Führung zu kämpfen und darüber zu diskutieren, welche Politik stattdessen nötig ist, um die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Kampf für den Sozialismus zu vereinen.
*In der ersten Version verwendeten wir den Vornamen unter dem Dubiel zu diesem Zeitpunkt offiziell auftrat. Inzwischen verwendet Dubiel den Vornamen Riley. Deswegen haben wir den Namen in unseren Artikeln angepasst.