Patriarchat, Verbrechen und Strafe

30.05.2018, Lesezeit 10 Min.
Übersetzung:
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Der legitime Wunsch nach Gerechtigkeit angesichts von Hassverbrechen – wie zum Beispiel dem Feminizid – führt paradoxerweise dazu, dass wir die Definition der patriarchalen Gewalt einschränken. Sie wird so zu einer juristischen Figur, die im Strafrecht festgelegt ist. Auf dieses Recht zu vertrauen macht uns aber ohnmächtig, denn es beschränkt unseren Kampf um Befreiung auf genau die selben Instrumente, die unsere Unterdrückung legitimieren und reproduzieren.

Auf dem Bildschirm ist ein Schwarz-Weiß-Bild von Mitte der 60er zu sehen. Eine junge Frau ergreift auf einer Versammlung im Rathaus der Stadt New York das Wort. Die Kamera fokussiert sie, als sie mit lauter Stimme sagt:

Ich stehe hier für die große Gruppe von Frauen der Mittelschicht, die alle Bequemlichkeiten des Lebens haben könnten. Ich hatte sie sogar. Aber ich habe sie aufgegeben und stattdessen beschlossen, meine Zeit dem Kampf für die Gleichheit der Geschlechter zu widmen.

Es redet Jaqui Ceballos, eine der ersten feministischen Aktivistinnen der National Organization of Women der USA. Fast ein halbes Jahrhundert später, als sie für die Doku She’s Beautiful When She’s Angry interviewt wird, erinnert sie sich noch an diese Erlebnisse. Vor einer anderen Kamera erzählt sie diese kraftvollen Erfahrungen ihrer Jugend.

Eine Freundin gab mir das Buch von Betty Friedan, „The Feminine Mystique“. Auch heute noch muss ich beim Lesen weinen. Das Buch hat mich beeindruckt. Es war genau der richtige Moment. Ich habe es in der selben Nacht gelesen und gewusst: Es war nicht er, es war nicht ich, es war die Gesellschaft.

„Es war nicht er, es war nicht ich, es war die Gesellschaft“. Das ist die präziseste Zusammenfassung dessen, was die zweite Welle des Feminismus aufgedeckt, konzeptualisiert und sich als Kampfprogramm auf die Fahne geschrieben hat. Es waren weder die individuellen „ers“ noch die „sies“ in einer Beziehung zueinander, die geprägt war von einer auf den Privatraum beschränkten Gewalt. Es gab ein Muster, welches immer wieder in unendlich vielen individuellen Erfahrungen sichtbar wurde und so zeigte, dass die Singularität dieser Erfahrungen dialektisch auch seinen wahren strukturellen Charakter mit einschloss. Der Feminismus der zweiten Welle wusste zu fassen, dass das, was „natürlich“ genannt wurde, in Wahrheit die Kristallisation von komplexen sozio-historischen Prozessen war. Daraus entwickelten sie die Erkenntnis, dass das, was „persönlich“ erschien, in Wahrheit „politisch“ war.

Davon ausgehend wurde das Patriarchat auf verschiedene Weisen verstanden. Für die Radikalfeministinnen – die davon ausgehen, dass die Gesellschaft in sexuelle Klassen geteilt ist – liegt die Basis dieser Unterdrückung der Klasse der Frauen in der Aneignung und der Kontrolle ihrer reproduktiven Fähigkeiten, durch die herrschende sexuelle Klasse der Männer. Für die materialistischen Feministinnen – für die Frauen und Männer zwei antagonistische soziale Klassen bilden – existieren die kapitalistische Produktionsweise und die häusliche Produktionsweise nebeneinander. In letzterer beutet die Klasse der Männer die nicht-bezahlte Arbeit der Klasse der Frauen aus und eignet sich ihr Produkt an. Auch die Sozialistinnen entwickelten ein Verständnis des Patriarchats und der Frauenunterdrückung. Sie stützen sich auf die Methoden des historischen Materialismus und die Ausarbeitungen von Marx und Engels und verorteten die Ursprünge der Frauenunterdrückung in den ersten Klassengesellschaften.

Unter diesen verstanden sie solche Gesellschaften, in denen Privateigentum an Produktionsmitteln herrscht und die Gesellschaft sich in ausbeutende, herrschende Klassen und ausgebeutete Klassen teilt. Sie betonten, dass das Patriarchat heute unlöslich mit der kapitalistischen Produktionsweise verknüpft ist, wo die Hausarbeit eine grundlegende Rolle in der kostenlosen Reproduktion der Arbeitskraft spielt. Wir wollen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Strömungen hier nicht vertiefen, sondern nur aufzeigen, dass trotz aller Unterschiede, alle darin übereinstimmen, dass die Frauenunterdrückung in den gegenwärtigen Gesellschaften einen strukturellen Charakter erlangt. In diesem Rahmen lässt sich also zeigen, dass die Gewalt gegen Frauen keine Ausnahmeerscheinung ist, basierend auf der Abweichung oder der Pathologie eines isolierten Individuums. Die Gewalt gegen Frauen hat aufgehört ein Tabu zu sein, das hinter der Privatheit der vier Wände des Heims versteckt ist, und ist ans Licht gekommen als ein Mechanismus der Disziplinierung, ein Instrument der Einschüchterung und des Zwangs gegenüber Frauen. Sie soll den Status quo der patriarchalen sozialen Ordnung aufrecht erhalten, in der Frauen unterdrückt sind.

Nicht nur das Patriarchat, sondern auch der Kolonialismus, der Rassismus und der Heterosexismus wurden als Herrschaftssysteme in Frage gestellt (und somit auch als Systeme der Gewalt), in einer Zeit der großen sozialen und politischen Radikalisierung der Massen sowohl im Norden als auch im Süden, die sich gegen die kapitalistische Ausbeutung wandten. Und auch gegen die Unterdrückung, die von der stalinistischen Bürokratie in den Arbeiter*innenstaaten im Osten Europas ausgeübt wurde. Aber diese Etappe der Radikalisierung wurde zerschlagen und umgeleitet, in einem Prozess, den wir an anderer Stelle beschrieben haben. Und, wie wir es dort sagen:

Während der Individualismus global aufgezwungen wurde, von einer Wirtschaftspolitik, die Millionen in die Arbeitslosigkeit stürzte, was die Fragmentierung und Entwurzelung der ArbeiterInnenklasse zur Folge hatte, entfernte sich der Feminismus immer mehr von einem Projekt der kollektiven Emanzipation und zog sich auf einen immer stärker selbstbezogenen Diskurs zurück. Er beschränkte sich darauf, eine Elite anzustacheln, die ihr Recht auf Anerkennung ihrer Diversität, auf Toleranz und auf die Integration in die Konsumkultur einforderte.

Ist das Politische persönlich?

Die Idee der Emanzipation wurde größtenteils aufgegeben und durch eine Strategie der Ausweitung von Rechten durch Reformen ausgetauscht. Die Organisation und der politische Kampf, der den Staat für die Reproduktion und Legitimation der Frauenunterdrückung öffentlich anprangert, wurde größtenteils ersetzt von der Lobbyarbeit der privaten Stiftungen und dem Eintritt in die Institutionen des politischen Systems, um seine Veränderung „von innen“ zu erreichen. Die radikale Kritik am Kapitalismus veränderte sich hin zur Suche nach „Staatsbürger*innenschaft“ in den kapitalistischen Demokratien, die nur noch wenig anzubieten haben, um die Beschwerden, die das Leben der Massen belasten, zu lindern. Die soziale und moralische Ordnung, die auf den kapitalistischen Produktionsbeziehungen basiert, wurde getrennt von der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, die diese erst stützt. Der hegemoniale Feminismus der Jahrzehnte des Neoliberalismus hat sich zurückgezogen auf den Kampf um die Anerkennung von Rechten im „demokratischen Staat“ – ein Staat, der angeblich geschlechtsneutral und neutral in Bezug auf den Klassenantagonismus sei. Aber dieser Staat ist nicht neutral, sondern bürgerlich. Er ist der Garant der gewaltvollen Ausbeutung der Lohnarbeiter*innen durch die herrschende Klasse. Er gründet sich auf die Sicherung des Privateigentums mittels des Gewaltmonopols. Und von diesem Staat wird verlangt, dass er die Angriffe gegen Frauen anerkennt und den Tätern Strafe zukommen lässt.

So hat der Feminismus es erreicht, dass die Gewalt in der Ehe als Gewalt anerkannt wurde und nicht als „Recht des Gatten“; dass die sexuelle Belästigung Gewalt ist und nicht eine kulturelle Gewohnheit; dass Street Harassment Gewalt ist und nicht nur eine Kleinigkeit. Der Feminismus hat bloßgestellt, dass die Unterdrückung der Frauen eben genau in der Naturalisierung dieser sexualisierten Unterordnung der Frauen besteht, welche im Bereich des Privatlebens der Menschen stattfindet und genau deshalb darüber geschwiegen wird. Und dass zwischen den Geschlechtern nicht nur Differenz besteht, sondern vor allem eine Hierarchie. Oder präziser gesagt, dass die Unterdrückung der Frauen gerade in der Hierarchisierung dieser Differenz besteht.

Aber paradoxerweise wurde gerade durch die Forderung nach Anerkennung dieser Formen von Gewalt gegen Frauen durch den Staat und sein Justizsystem genau das Gegenteil dessen erreicht, was gewollt war. Zwar gab es Fortschritte in der Sichtbarmachung des Leids, das uns von der patriarchalen Ordnung auferlegt wird. Aber das Strafrecht funktioniert durch die Zuordnung von individueller Verantwortlichkeit in der Verursachung eines Schadens. Aus diesem Gesichtspunkt kann die sexuelle oder geschlechtliche Unterdrückung per se nicht ein Schaden oder ein Delikt sein, der mit Hilfe des Strafrechts bestraft werden kann. Die patriarchale Gewalt als Straftatbestand zu definieren, beschränkt ihre Definition, limitiert sie auf die Bestrafung einer Serie von typisierten Verhaltensweisen, für die nur isolierte Individuen verantwortlich gemacht werden.

Zwei feministische Aktivistinnen (und Anwältinnen) zeigen diese Grenzen in einem Vortrag über sexualisierte Gewalt auf:

Die Gewalt gegen Frauen ist eingeschrieben in die Verhältnisse der patriarchalen Herrschaft. Diese patriarchalen Verhältnisse basieren auf der Herrschaft der heterosexuellen erwachsenen Männer über die Frauen und Kinder. Die Gewalt ist konstitutiv für jede Politik der Unterdrückung und dient im Fall der Frauenunterdrückung dazu, die Position der sozialen und sexuellen Unterordnung der Frauen zu bestätigen. Es handelt sich nicht um isolierte Probleme, individuelle Pathologien, von unangepassten Personen, wie die herrschende Ideologie dies vertritt. Es handelt sich um eine strukturelle Frage, die konstitutiv ist für die Herrschaft. Daher kann ein Ende der Gewalt nicht Produkt einiger rechtlicher Reformen und der Unterstützung mit einer Prise Psychotherapie sein, sondern nur durch einen Wandel an den Wurzeln der Verhältnisse patriarchaler Herrschaft.

Sie sind nicht die einzigen. Wie es Bergalli und Bodelón schreiben:

In zahlreichen feministischen Analysen wird angenommen, dass die Behauptung, bestimmte juristische Änderungen könnten etwas erreichen, eher zu neuen Formen der Legitimation des gegenwärtigen kapitalistischen Staates führt als zu emanzipatorischen sozialen Veränderungen.

Aber diese Ansätze herrschen nicht vor, sondern solche, die wie die Autorinnen aufzeigen, folgendes vorschlagen:

Die Lösung eines generellen Problems der Gesellschaft wird von einem besonderen System gefordert, welches alles zu regeln hätte, als Teil des Ganzen. Dies ist ein Paradox: Das Recht soll, aber kann nicht, die Gleichheit sichern.

Die Ohnmacht des Reformismus gegenüber der Gewalt

Die Typisierung im Strafrecht und die Etablierung von Strafen kann also – auch wenn sie sich aus einem Kräfteverhältnis ergibt, in dem der Kampf der Frauen eine Schlüsselrolle einnimmt – nichts weiteres tun, als die Auswirkungen der patriarchalen Gewalt zu lindern, in wenigen vereinzelten Fällen. Aber von der Etablierung und der Erhöhung der Urteile und der abschreckenden Strafen wird erwartet, dass sie nicht nur als Vergeltung für die Opfer wirken, sondern auch als Prävention von zukünftigem kriminellem Verhalten. Dies zeigte sich aber als keine effektive Maßnahme, um die patriarchale Gewalt zu beenden. Diese wird weiterhin reproduziert, denn sie ist strukturell in Klassengesellschaften. In Argentinien gilt seit 2012 folgendes im Strafrecht:

Es wird Gefängnis auf Lebenszeit oder Sicherheitsverwahrung auf Lebenszeit für diejenigen verhängt, die eine Frau töten, wenn der Täter ein Mann ist und es sich um geschlechtsspezifische Gewalt handelt.

Trotzdem zeigen die Statistiken weiterhin die erschreckende Zahl einer ermordeten Frau alle 30 Stunden. Die Zahlen von vor der Einführungen des Gesetzes zeigen 208 Feminizide im Jahr 2008, 231 im Jahr 2009, 260 im Jahr 2010, 282 im Jahr 2011 und 255 im Jahr 2012. Nach der Einführung des Straftatbestands des Feminizids zeigte sich – anders als erwartet – eine leichte Erhöhung der Morde an Frauen: 295 im Jahr 2013, 277 im Jahr 2014 und 286 im Jahr 2015.

Die beeindruckenden und massenhaften Mobilisierungen, die in Argentinien unter der Forderung #NiUnaMenos stattgefunden haben, zeigen klar, dass die Justiz angesichts der Frauenleichen nicht ausreicht und immer zu spät kommt. Die Angehörigen und Freund*innen der Opfer wissen genau, dass angesichts solcher Tragödien, die Forderung nach Gerechtigkeit notwendig ist. Aber ihre Aussagen zeigen immer wieder die Grenzen dieser Forderung auf. Wir haben sie mehr als einmal in der Presse sagen hören: „Wir sind zufrieden mit dem Urteil, aber das wird uns unsere Tochter (oder Freundin, oder Mutter, oder Schwester) nicht zurückgeben.“ Wenn wir über die patriarchale Gewalt im Rahmen des Strafrechts nachdenken, dann führt das dazu, über die Strafen und Urteile zu diskutieren, die Feminizide nach sich ziehen müssen, nachdem die Gewalt also schon stattgefunden hat.

Die Forderung nach Gerechtigkeit für die Opfer von Feminiziden zu begleiten; vom Staat zu fordern, dass er ein ganzheitliches Angebot für die Opfer von Gewalt bereitstellt, bevor sie zu Todesopfern werden; die Reviktimisierung durch eben diesen Staat zu verurteilen, die so viele Frauen erfahren; die elementarsten Rechte einfordern, die Frauen in den heutigen kapitalistischen Demokratien weiterhin verweigert werden – all das ist Teil eines wichtigen Kampfes, um das Leben von Millionen Frauen weniger unerträglich zu machen. Aber diese Forderungen als letztes und einziges Ziel des Kampfes zu konstruieren, hat den Feminismus in eine ohnmächtige Position geführt, in der die patriarchale Gewalt sich verschärft und neue und monströse Formen annimmt, geformt vom Kapitalismus. Die Transformation der Prostitution in eine riesige Industrie; die Menschenhandelsnetzwerke, die Frauen und Mädchen angreifen; die Massaker an Zehntausenden Frauen in verschiedenen Regionen der Welt, die einfach ignoriert werden; die Verarmung und Überausbeutung von Millionen von Frauen, die in den vergangenen Jahrzehnten in den Weltmarkt integriert wurden; die vermeidbaren Feminizide, die vom Staat begangen werden, wo der Schwangerschaftsabbruch immer noch illegalisiert ist – dies und vieles mehr zeigt uns, dass die Begrenzung des Kampfes für die Emanzipation auf die Ausweitung von Rechten und die Suche nach strafenden Antworten durch den selben Staat, durch den die herrschenden Klassen ihre Herrschaft über die breiten Massen ausüben, zu Ohnmacht, Mutlosigkeit und Hoffnungslosigkeit führt.

Dieser Text ist zuerst in der argentinischen Zeitung ideas de izquierda erschienen, die von der Partei der Sozialistischen Arbeiter*innen herausgegeben wird.

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