Pandemie und Aufstand: Die neue Lage des Klassenkampfes in den USA
Eine neue Periode des Klassenkampfes ist im Gange. Sie ist gekennzeichnet durch eine Verschiebung der politischen Lage nach links, durch Versuche, eine störende antirassistische Bewegung gegen die Polizei zu kooptieren, und durch zwei Akteure - die Arbeiter*innenbewegung und die sozialistische Linke -, die viel stärker daraus hervorgehen könnten, wenn sie sich der Situation gewachsen zeigen.
Foto von Paul Merrill
Seit Anfang 2020 haben zwei politische Erdbeben die USA heimgesucht: Das erste waren die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der Covid-19-Pandemie. Das zweite ist der Aufstand gegen rassistische Polizeirepression. Die Kombination dieser beiden einschneidenden Ereignisse verändert die Parameter des Klassenkampfes in den USA. Hier sind sechs Aspekte der laufenden Transformation.
1. Eine Verschiebung nach links.
Als erstes Element ist festzustellen, dass der anhaltende Aufstand gegen Polizeibrutalität und systemischen Rassismus einen Linksruck in der politischen Situation darstellt. Es gab nicht nur drei Wochen hintereinander in Dutzenden Städten in den Vereinigten Staaten große (in einigen Fällen massive) Mobilisierungen. Auch die Unterstützung für diejenigen, die trotz des Risikos einer COVID-19-Erkrankunges auf die Straße gehen, ist massiv. Umfragen zeigen, dass die meisten Menschen rassistische Polizeibrutalität erkennen und ablehnen – und diese Zahlen steigen bei jungen Erwachsenen auf über 80 Prozent. Eine derart tiefgreifende Infragestellung der ersten Verteidigungslinie des kapitalistischen Staates markiert einen Wandel in der Art und Weise, wie die Menschen über Politik und Regierung denken.
Im Jahr 2016 stellte die Wahl von Donald Trump einen Rechtsruck in der politischen Situation in den USA dar. Wie wir bereits schrieben, war die allgemeine Situation jedoch eher durch eine Polarisierung als durch einen einseitigen Rechtsruck gekennzeichnet. Mit anderen Worten: Donald Trump trieb eine Politik voran, die reaktionärer war als das wirkliche politische Bewusstsein unter den Menschen der Arbeiter*innenklasse und das Kräftegleichgewicht zwischen den Klassen.
Jetzt sehen wir eine Verschiebung nach links, die von Massen von Menschen signalisiert wird, die (wieder einmal) mit der Realität eines anhaltenden, brutalen Rassismus in den USA rechnen und die Polizei verurteilen. Es ist kein Wunder, dass Trump seit Beginn der Proteste völlig aus dem Tritt geraten ist. Anstatt Lippenbekenntnisse zu liberalen Ideen von Demokratie und Gleichberechtigung abzugeben, hat er die Flammen mit Twitter-Drohungen an die Protestierenden und der Weigerung, irgendein Fehlverhalten der Polizei zuzugeben, geschürt – und so sinkt er in den Umfragen.
2. Zwei Papiertiger gehen in den Flammen unter.
Der Despotismus des Kapitals am Arbeitsplatz und die Achtung von Recht und Ordnung – insbesondere der Strafverfolgungsbehörden: Das sind zwei Grundpfeiler der kapitalistischen Demokratie, die sich einer weit verbreiteten Herausforderung gegenübersahen. Als sich die Pandemie in den Vereinigten Staaten ausbreitete und das Leben von Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderen Beschäftigten an vorderster Front ohne angemessenen Schutz kostete, verloren viele ihre Angst vor der Konfrontation mit den Bossen. Die Widersprüche zwischen denjenigen, die sich jeden Tag abmühen mussten, um ihr Einkommen zu erhalten (und dabei ihr Leben und das ihrer Familien riskierten), und denjenigen, die Menschen einstellten, um für sie zu arbeiten und Gewinne zu erzielen, ohne sich bewegen zu müssen, traten in aller Deutlichkeit zutage. Beschäftigte des Gesundheitswesens in New Yorker Krankenhäusern riefen ihre CEOs, die sich in Florida in Sicherheit gebracht hatten, zu sich. Arbeiter*innen von Amazon prangerten ihre unsicheren Arbeitsbedingungen an, während Jeff Bezos sein Vermögen um Milliarden erhöhte.
Ein paar Monate nach Beginn der Pandemie, nachdem das Video von George Floyds Hinrichtung aufgetaucht war, schwenkte die öffentliche Meinung gegen eine Law-and-Order-Politik. Natürlich war auch vor dem abscheulichen Mord an Floyd durch die Polizei von Minneapolis, die Beliebtheit von Bullen schon gering. Aber die Kombination der rassistischen Morde an George Floyd und Breonna Taylor (zusammen mit Ahmaud Arbery, der von einem ehemaligen Polizeibeamten getötet wurde) mit der rücksichtslosen Unterdrückung der Demonstrant*innen führte zu einer weiteren Delegitimierung der Ordnungskräfte. Dieselben Beschäftigten des Gesundheitswesens, die auf dem Höhepunkt der Pandemie als Helden gefeiert wurden, werden jetzt vom NYPD verhaftet. Massen von Demonstrierenden widersetzten sich den Ausgangssperren, prangerten die Brutalität der Polizei an, und die öffentliche Meinung verwandelte sich in eine starke Unterstützung der Mobilisierung für „Black Lives Matter“, die die Polizeigewalt anklagte.
3. Polizist*innen sind keine Freunde der Arbeit.
Der Kampf in den eigenen Reihen der Arbeiter*innenbewegung für den Ausschluss von Polizisten aus unseren Organisationen ist stärker gewonnen. Es begann damit, dass der Präsident der AFL-CIO von Minnesota den Präsidenten der Polizeigewerkschaft von Minnesota zum Rücktritt aufrief, ein Aufruf, der von Anderen in Minnesota und anderswo aufgegriffen wurde. Einige Gewerkschaften gingen darüber hinaus und forderten den Ausschluss von Polizeigewerkschaften aus der AFL-CIO und ihren Mitgliedsgewerkschaften (die Internationale Union der Polizeibediensteten ist direkt der AFL-CIO angeschlossen, aber andere Gewerkschaften wie AFSCME, CWA und SEIU vertreten Polizist*innen). Dies ist eine notwendige Debatte innerhalb unserer Gewerkschaften und kann das Klassenbewusstsein der Gewerkschaftsmitglieder erhöhen: Die Polizei war immer und wird immer ein Feind der Arbeiter*innenklasse und der Aktivist*innen sein, die die vom Boss und von der Regierung festgelegten Grenzen ausreizen, die sich an legalen und illegalen Aktionen beteiligen, um für die Interessen der Arbeiter*innen zu kämpfen. Die Polizei wird immer ein Feind der Minderheiten der Arbeiter*innenklasse sein, die innerhalb der Arbeiter*innenklasse am meisten unterdrückt werden.
Und dieser Aspekt hat einen besonderen Einfluss auf die Strategie und Taktik der Linken. Einige verwirrte Sozialist*innen argumentieren, dass Polizist*innen „Arbeiter in Uniform“ seien, und ignorieren dabei die Tatsache, dass die Polizei in einer kapitalistischen Gesellschaft eine besondere Rolle zu spielen hat: streikende Arbeiter*innen zu unterdrücken, die in unseren Reihen am meisten Unterdrückten zu terrorisieren und zu disziplinieren und sie davon abzuhalten, gegen ein zutiefst ungerechtes System zu rebellieren. Um die am meisten Unterdrückten in unserer Klasse für eine sozialistische Perspektive zu gewinnen – und eine potentiell revolutionäre Kraft zu erschließen -, müssen wir zeigen, dass die Arbeiter*innenklasse und ihre Organisationen kämpfen können und wollen, um Rassismus, Sexismus und alle Arten von Unterdrückung zu bekämpfen. Während sich Gewerkschaftsbürokrat*innen damit begnügen, ihre beitragszahlende Mitgliedschaft beizubehalten, selbst wenn Bullen unter ihnen sind, um ihre Gewerkschaft am Laufen zu halten, müssen wir Sozialist*innen für die Hegemonie der Arbeiter*innen kämpfen: Das bedeutet zu zeigen, dass die als Klasse organisierten Arbeiter*innen die einzigen sind, die bis zur letzten Konsequenz kämpfen können, um alle Unterdrückungsformen zu beenden. Wenn wir die gegenwärtige Empörung gegen die Polizei ausnutzen und sie für einen vollständigen Ausschluss von Polizist*innen aus der Arbeiter*innenbewegung ausnutzen, werden die Gewerkschaften sofort stärker und in einer viel besseren Position sein, um das rassistische kapitalistische System zu bekämpfen.
Dieser Vorstoß kommt zu einem Zeitpunkt, in dem die Gewerkschaften unter Druck stehen, sich zu transformieren, zu demokratisieren und militanter zu werden. Während der Covid-19-Pandemie gab es eine Welle von wilden Streiks, Arbeitsunterbrechungen und Arbeitsniederlegungen. In einigen Fällen, wie beim Instacart-Streik, waren diese Aktionen landesweite Phänomene. Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise, der anhaltenden Verbreitung des neuartigen Coronavirus und der radikalisierenden Wirkung der Anti-Polizei-Proteste ist damit zu rechnen, dass es immer mehr Fälle von Basisbewegungen geben wird, die ihre Gewerkschaftsführer*innen unter Druck setzen.
4. Kooptation von oben mit einigen Siegen für die Bewegung.
Viele Kommunen sind dazu übergegangen, Würgegriffe zu verbieten (obwohl viele dies bereits vor Jahren getan hatten), geringfügige Kürzungen ihrer Polizeibudgets vorzunehmen, den Transfer von militärischer Ausrüstung an örtliche Polizeidienststellen zu stoppen und nominell ein gewisses Maß an Rechenschaftspflicht zu erhöhen. All diese Schritte sind weitgehend symbolische Zugeständnisse, wenn man bedenkt, dass ein großer Teil der Protestierenden die völlige Abschaffung der Polizei fordert. Und vergessen wir nicht, dass Eric Garner 2014 von einem Polizeibeamten zu Tode gewürgt wurde, 11 Jahre nachdem die Stadt New York ein Verbot von Würgegriffen erlassen hatte. Unter unüberwindlichem Druck der Bewegung gegen Polizeibrutalität gelobte eine vetosichere Mehrheit des Stadtrats von Minneapolis, die Polizei von Minneapolis aufzulösen. Einzelheiten darüber, was sie ersetzen würde, sind jedoch noch nicht bekannt. Es ist jedoch klar, dass es im Kapitalismus keine Abschaffung der Polizei geben kann. Es wird immer ein Repressionsapparat des Staates nötig sein, solange unsere Gesellschaft in Klassen geteilt ist, wobei die eine die absolute Kontrolle über die produktiven Ressourcen genießt und die andere, die die überwiegende Mehrheit von uns ausmacht, in den Arbeitsmarkt geworfen wird und um das Überleben kämpft, wobei viele unter ihnen chronische Arbeitslosigkeit und Entbehrungen erdulden müssen.
Gleichzeitig sind die Infragestellungen und die mögliche Aufhebung der qualifizierten Immunität, der Stopp des Transfers von militärischer Ausrüstung an die Polizei, sofern er wirksam wird, und die formelle Beschränkung der Gewaltanwendung durch die Polizei, einschließlich des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen, Zugeständnisse, die die Bewegung stärken. Mehr Kontrolle, strengere Grenzen für das Verhalten der Polizei und mehr Rechenschaftspflicht für Strafverfolgungsbeamte bedeuten eine Verringerung der Feuerkraft des Staates. Sie setzt Grenzen für die „legitime Gewaltanwendung“, die der Staat gegen jeden anwenden kann, der das Regime in Frage stellt.
5. Radikalisierung einer neuen Generation von Sozialist*innen.
Bis Anfang dieses Jahres bildete sich eine junge Generation von Sozialist*innen in langsamen Schritten voran, hervorgerufen durch den Rückgang ihrer Lebensqualität im Vergleich zu der ihrer Eltern und mobilisiert durch den Aufstieg eines rassistischen Fanatiker im Oval Office und durch Wahlkampagnen, insbesondere durch die Kandidatur von Bernie Sanders. Jetzt gibt es einen intensiven Klassenkampf. Mit den Lehrer*innenstreiks eröffnete sich 2018-2019 eine neue Periode, und der Kampf gegen die unsicheren Bedingungen während der Pandemie läutete einen weiteren Aufschwung im Klassenkampf ein. Doch die antirassistischen Proteste nach der Ermordung von George Floyd verschärften die Intensität des Klassenkampfes enorm. Diese neue Generation von Sozialist*innen nimmt nun an Zusammenstößen mit der Polizei teil und macht dabei eine Erfahrung mit demokratischen Gouverneur*innen und Bürgermeister*innen, die nichts Besseres zu bieten haben als ihre republikanischen Amtskollegen. Für die sozialistische Linke gibt es eine hervorragende Gelegenheit, sich mit eigenen Bannern in diese Kämpfe einzumischen, ein antikapitalistisches Programm vorzuschlagen – ausgedrückt durch ihre eigenen unabhängigen sozialistischen Kandidat*innen – und die Bewegung auf nationaler Ebene mitzugestalten und zu koordinieren. Die einzige Organisation, die heute diese Rolle spielen könnte, ist die DSA, aber ihre Bemühungen sind weit hinter den Erfordernissen der Situation zurückgeblieben. Eine Annäherung zwischen der neuen sozialistischen Bewegung und der Bewegung gegen Rassismus und Polizeibrutalität hat das Potential, die amerikanische Politik dauerhaft umzugestalten.
6. Die Wirtschaft wird weiterhin einen Störfaktor darstellen.
Vor zwei Wochen hat der plötzliche Rückgang der Arbeitslosigkeit so ziemlich alle überrascht. Selbst als das Bureau of Labor Statistics zugab, dass die Arbeitslosenquote für Mai aufgrund eines „Fehlklassifizierungsfehlers“ unterschätzt worden war, begrüßte Trump den Sieg. Wer sich nichts vormacht, weiß, dass die wirtschaftliche Erholung noch in weiter Ferne liegt. Auch wenn Millionen von Menschen jegliche staatliche Hilfe verweigert wurde, federn die Konjunkturprogramme und die erweiterte Arbeitslosenunterstützung die Auswirkungen der Krise auf die Menschen aus der Arbeiter*innenklasse ab. Das Geld aus dem Konjunkturscheck ist weit weg, und die Arbeitslosenunterstützung wird nicht für die Dauer dieser Krise reichen. Es ist wahrscheinlich, dass wir mehr Unruhen erleben werden, während die Krise anhält und es für Arbeiter*innen und kleine Ladenbesitzer*innen immer schwieriger wird, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Darüber hinaus konnte der Aktienmarkt fast den gesamten Wert zurückgewinnen, den er in den katastrophalen Märztagen verloren hatte. Aber die Instabilität ist nicht verschwunden. In der vergangenen Woche sind die Aktien wieder gefallen, was für ein Fortbestehen der Schwankungen spricht. Diese Oszillationen sind nur ein Vorbote eines großen Absturzes, der sich in der Weltwirtschaft abzeichnet. Wie Michael Roberts zeigt, ist die gute Entwicklung der Aktienkurse ein direktes Ergebnis einer massiven Geldspritze der Zentralbanken („power money“), die Ende 2020 fast ein Viertel des nominalen BIP der Welt ausmachen würde. Mit anderen Worten: Boomende Aktien sind nur der sichtbare Ausdruck einer globalen Finanzblase, die von den Zentralbanken fremdfinanziert wird. Die politischen Folgen eines Finanzcrashs in der nahen Zukunft sind vor dem Hintergrund der weit verbreiteten Arbeitslosigkeit, der Massenmobilisierungen und der Infragestellung des Staates – zumindest seines repressiven Arms – schwer zu ergründen.