Pandemie, Kapitalismus und psychische Erkrankungen

19.02.2022, Lesezeit 20 Min.
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Foto: Ian Sane / flickr.com

Die Krise der psychischen Gesundheit ist allgegenwärtig und scheint doch unlösbar. Woher kommt sie und wie kämpfen wir für bessere Bedingungen?

Psychische Erkrankungen sind überall, schon 2010 litt über ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands an Depressionen. Wie so viele Krisen wurde auch die Krise der psychischen Gesundheit durch die inzwischen seit zwei Jahren andauernde Pandemie verschärft. In diesem Artikel beleuchten wir, welche Lösungsvorschläge für die andauernde Krise der psychischen Gesundheit, besonders aus dem linken Spektrum, vorgeschlagen werden können, woher die Krise kommt und mit welchem Programm wir sie besiegen können.

Die aktuelle Situation

Wirklich gut war die Lage für Menschen mit psychischen Erkrankungen wohl nie. Und auch heute liegen die Zeiten von Irrenhäusern, Elektroschocktherapie und Lobotomien zwar zum Glück weitgehend hinter uns, doch von einem Gesundheitssystem, dass psychisch Kranken hilft, ein möglichst gutes und wenig durch die Krankheiten beeinflusstes Leben zu führen, sind wir weit entfernt.

Es fehlen Therapieplätze, die Wartezeiten dauern meist mehrere Monate, ganz besonders, wenn es um Fälle geht, die besondere Spezialisierungen erfordern, wie Traumatherapie. Die Kliniken sind oft privatisiert, auch hier gelten lange Wartezeiten, viele Behandlungen werden nicht oder nicht lange genug übernommen. Es existieren zwar gesetzliche Rahmen für die Behandlung psychischer Erkrankungen, Erleichterungen oder Rehabilitationen, aber diese sind oft starr und bürokratisch – für Menschen mit psychischen Erkrankungen oft ein nur schwer zu überwindendes Hindernis. Die Zahl der Krankschreibungen aus Gründen psychischer Erkrankungen verdoppelte sich zwischen 2007 und 2017, sicherlich nicht zufällig in den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise von 2008/9. Die inzwischen seit zwei Jahren andauernde Pandemie verschärft die Lage noch: Studien schätzen einen Zuwachs von 52 Millionen Menschen mit Depressionen und 76 Millionen Menschen mit Panikattacken weltweit – eine Steigerung um 28 beziehungsweise 26 Prozent.

Seit Dezember 2021 ist in Deutschland mit der sogenannten „Fortschrittsregierung“ aus SPD, Grünen und der FDP jetzt eine Koalition an der Macht, die geschlossen vorgibt, dieses Thema angehen zu wollen. Insbesondere die vielen jungen Wähler:innen der FDP sind wohl auch auf diesen Programmpunkt zurückzuführen. Ein Beispiel ist die 18-jährige Noreen Thiel, die unter anderem mit diesem Thema im Fokus als Direktkandidatin des Bezirks Berlin-Lichtenberg für die FDP antrat.

Ein Wahlprogrammcheck der NGO „Freunde fürs Leben“, die sich für Suizidprävention unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen einsetzt, zeigt: Bis auf die AfD beziehen sich alle jetzt im Bundestag vertretenen Parteien auf die Krise der psychischen Gesundheit und schlagen zumindest einen Ausbau der Therapiekapazitäten vor. Schon vor der Wahl wurde die „Offensive psychische Gesundheit“ von der damaligen Regierung lanciert.

Auch im Koalitionsvertrag fand das Thema Eingang. Die Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV) bewertete die Vorschläge weitgehend positiv, doch selbst diese Einschätzung hob einige wichtige fehlende Punkte hervor. Die Regierungsparteien nehmen sich unter anderem eine Bildungskampagne für die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen vor, ebenso werden einige Änderungen versprochen, wie dass Psychotherapeut:innen in Zukunft Krankschreibungen ausstellen können sollen (statt wie bisher nur Ärzt:innen, also beispielsweise Hausärzt:in oder Psychiater:in). Weitere Inhalte sind die geplante Verbesserung der Behandlung komplizierterer Fälle, stationärer Behandlungen, Digitalisierung, Stärkung der Prävention, sowie etwas schwammige Punkte, wie die „Bedarfsplanung in strukturschwachen und ländlichen Regionen“ zu „überprüfen“.

Das sind wichtige Schritte, die auch zu begrüßen sind – sollte die aktuelle Regierung sich daran halten, den Koalitionsvertrag umzusetzen. Doch sind diese Schritte schon lange überfällig. Die SPD ist schließlich nicht erst jetzt an der Regierung, über ihre Verantwortung für die vergangene Politik schweigt sie sich aber aus. Und selbst wenn die Reformen umgesetzt werden, bleiben die angekündigten Maßnahmen ein Minimalprogramm. Sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie das Leiden nur oberflächlich lindern und das Übel nicht an der Wurzel packen.

Kapitalismus macht krank

Das kapitalistische System trägt die Hauptverantwortung für diese epidemische Ausbreitung psychischer Erkrankungen. Besonders Arbeiter:innen und kleine Selbstständige stehen durch ihre Arbeit unter enormem Druck. Stress, finanzielle Unsicherheit und fehlende Möglichkeiten und Zeiten, sich zu regenerieren, verschärfen vorhandene Anlagen oder lösen selbst psychische Erkrankungen aus. Auch die Pflege von Angehörigen und das Aufziehen von Kindern verschärfen die Situation, denn der Staat drängt immer mehr dieser nötigen Reproduktionsarbeit in den privaten Raum (hierzu mehr in „Betreuung in der Zeiten der Krise“ aus dem Klasse Gegen Klasse Magazin #2). Auch Schüler:innen und Student:innen, die während der Pandemie zwischen oft riskanter Präsenzlehre und Vereinsamung in Home-Schooling pendeln, leiden vermehrt an psychischen Erkrankungen. Laut einer Analyse des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) waren im ersten Corona-Lockdown im vergangenen Jahr „zusätzlich 477.000 Jugendliche im Alter von 16 bis 19 Jahren von depressiven Symptomen betroffen“. Unter besonderem psychischen Druck stehen auch Geflüchtete, die aufgrund des rassistischen Arbeits- und Migrationsregimes in Lagern eingepfercht, durch bürokratische Hürden oder fehlende muttersprachliche Angebote von Gesundheitsversorgung oft ausgeschlossen, und von Abschiebungen bedroht sind.

Das neoliberalisierte Gesundheitssystem ist der Grund für viele der Missstände in der Versorgung (siehe dazu auch den Artikel „Gesundheitssystem ohne Profite – Utopie oder Notwendigkeit?“ aus dem Klasse Gegen Klasse Magazin #0). Eine gesetzliche Grundlage dafür legt neben anderen Regelungen das Sozialgesetzbuch (SGB), das den Umgang mit psychisch Kranken, aber auch mit Erwerbslosen, Pflegebedürftigen und chronisch Kranken regelt. Es schafft außerdem den gesetzlichen Rahmen für gesetzliche Krankenversicherungen. In einem komplizierten und intransparenten Dschungel aus Regelungen, sei es aus dem SGB, den Regelungen einzelner Krankenkassen oder anderen relevanten Regelungen, wird geklärt, wann, wem, wie und wo welche Art von Hilfe zusteht, oder eben auch nicht. So zementiert die Gesetzesgrundlage die kapitalistische Ausbeutung.

Der deutsche Staat will mit dem SGB vorgeblich seine Verantwortung gegenüber den (Staats-)Bürger:innen erfüllen. So beginnt das SGB I mit der Proklamation, es „(solle) dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern“. Doch der Fokus auf Erhalt und Wiederherstellung der Arbeitskraft, der alle Teile des SGB durchzieht und oft als Grundlage für Repressionen verwendet wird, wird auch in besagtem §1 schon verankert. Dort heißt es, das Gesetzbuch soll dazu beitragen „den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen (…)“. Vereinfacht gesagt führt es zu der Logik, dass Hilfe in erster Linie bekommt, wer nicht arbeiten kann, oder in Gefahr ist, nicht mehr arbeiten zu können – um wieder arbeiten zu können.

Natürlich gibt es viele Gesundheitsarbeiter:innen, die sich diesem Umgang auf individueller Ebene oder auch auf Ebene einer Station verweigern und alles tun, um ihren Patient:innen die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. Doch auch sie merken den Druck des Systems, zum Beispiel in der Art wie sie Anträge oder Diagnosen stellen müssen, oder bestimmte Gelder genehmigt bekommen oder eben auch nicht. Die Beispiele guter Behandlung, die es gibt, sind somit nicht Ergebnis des Systems, sondern kommen durch große Anstrengung der Beschäftigten trotz des Systems zustande.

Es gibt viele notwendige und sinnvolle Änderungsvorschläge für das SGB und andere Richtlinien und Regelungen für den Umgang mit psychisch Erkrankten. Doch selbst wenn alle diese Änderungen angenommen werden würden: Das System ist weiterhin vor allem auf Erhalt und Wiederherstellung der Arbeitskraft aufgebaut und nicht darauf, kranken Menschen ein möglichst gesundes und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Entlang der Linie psychischer Gesundheit spalten und disziplinieren

Doch selbst nach der Logik reiner Steigerung der Arbeitskraft ergeben viele der Regelungen keinen Sinn: Beispielsweise gilt Psychotherapie als akute Behandlung. Wird sie zur Prophylaxe gebraucht, also um einen Behandlungserfolg zu stabilisieren, genehmigt die Krankenkasse normalerweise keine weiteren Stunden. Die Folge sind oft deutlich teurere Behandlungen und der Arbeitsausfall über einen längeren Zeitraum hinweg, zum Beispiel wegen eines Klinikaufenthalts.

Wie die Arbeit der linken französischen Tageszeitung Révolution Permanente, die Teil des internationalen Zeitungsnetzwerks von Klasse Gegen Klasse ist, zu dem Thema Arbeitsleid zeigte, sind psychische Erkrankungen auch ein Mittel, um Arbeiter:innen zu disziplinieren. Auf der einen Seite stehen Arbeiter:innen einem System gegenüber, das sie gezielt an ihre Grenzen bringt. Als ideologischer Großvater dieser Logik kann Henry Ford gesehen werden, der experimentell erforschte, wie stumpf Fließbandarbeit gemacht werden kann, bevor die Arbeiter:innen reihenweise den Verstand verlieren. Und auch aktuell mangelt es nicht an Beispielen. Die Reglementierung der Arbeit bei Amazon dient nicht nur der Effizienz, sondern soll auch die Arbeiter:innen brechen: Seit Jahren häufen sich Berichte über Mobbing, Konkurrenz- und Zeitdruck, Überwachung, bis auf die Toilette, sowie ein intransparentes Punktesystem. Dieses Regime, angeblich zur Produktivitätststeigerung eingeführt, macht auch gesunde Arbeiter:innen krank. Die Berichte, die unsere Schwesterzeitung Révolution Permanente unter dem Hashtag „souffrance au travail“ sammelt, zeigen beispielsweise, wie die Repression und Disziplinierung vor allem gegen besonders unterdrückte Teile der Arbeiter:innenklasse wie alleinerziehende Mütter oder gegen Anführer:innen von Arbeitskämpfen gerichtet sind.

Und auch die Behandlungsmöglichkeiten selbst sind Disziplinierungen. Undurchsichtige und unfaire Regelungen machen es Menschen mit psychischen Erkrankungen schwer, überhaupt Therapieplätze zu bekommen. Kassenärztliche Therapieplätze gibt es zu wenige – laut der Bundespsychotherapeutenkammer waren schon vor der Pandemie Wartezeiten von bis zu neun Monaten die Regel –, und private Behandlung ist teuer und somit für Arbeiter:innen mit niedrigem Lohn kaum zu bezahlen. Im Betrieb sind unzureichender Schutz vor Kündigungen, Mobbing und Repressionen die ständigen Begleiter von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Durch die ständige Bedrohung einer Kündigung verschränkt sich die Disziplinierung psychisch Kranker mit der Disziplinierung von Arbeitslosen, in Deutschland durch das repressive Hartz-IV-System.

Letztendlich ist das kapitalistische System widersprüchlich und nimmt Hemmungen der Produktivkraft in Kauf, um die Arbeiter:innen entlang der Linie der psychischen Gesundheit und Krankheit zu spalten, ähnlich wie es auch schon Sexismus und Rassismus integrierte, um Arbeiter:innen fragmentieren, spalten und besonders ausbeuten zu können. (Mehr über die Fragmentierung der Klasse und ihre Überwindung in „Von der Fragmentierung zur Hegemonie: Scheidewege des heutigen Klassenkampfes“).

Selfcare als Lösung?

Spätestens nach fast zwei Jahren Isolation durch Corona und die Pandemiepolitik der Regierung ist das Thema psychische Gesundheit keine Nische mehr. Neben der Politik formierte sich ein ganzer Sektor, der psychische Gesundheit kommodifizieren will: Der Markt ist voll von Assistenzen, (selbstbezahlten) Therapien, Nahrungsergänzungsmitteln, Coachings, Entspannungsseminaren und allerlei anderen Dingen und Dienstleistungen, die Erkrankten vermeintlich oder tatsächlich helfen sollen, ihr Leben zu meistern.

Auch die sozialen Medien sind voll von dem Narrativ des „Selfcare“. Während Neoliberale „Selfcare“ schon fast als Befreiung selbst sehen, gibt es auch im linken Spektrum Vertreter:innen. Die meisten von ihnen haben den Glauben an eine tatsächliche Befreiung verloren – das Überleben selbst wird zum Widerstand.

Ja, wir können besser kämpfen, wenn wir unser Leben zumindest halbwegs im Griff haben, halbwegs gesund sind. Ja, das Gesundheitssystem und die gesundheitliche Forschung orientiert sich nach wie vor in erster Linie an im Westen lebenden weißen cis-Männern. Es kann also helfen, sich zu Interessengruppen zusammen zu schließen, Erfahrungen zu teilen und sich gegenseitig zu stabilisieren, wenn das Gesundheitssystem dazu nicht in der Lage ist. Doch sich im Rahmen unseres ausbeuterischen und unterdrückerischen Systems möglichst gut mit sich und seinem Leben zurechtzufinden ist keine Befreiung. Es ist der Bruchteil eines Krümels und wir sollten uns damit nicht zufrieden geben, sondern auch gemeinsam und politisch kämpfen.

Mehr zu Selfcare, besonders in der neoliberalen Perspektive. schreibt die marxistische Feministin Andrea D’Atri in „Der kapitalistische Zwang zum Glücklichsein“.

Psychisch Kranke als Subjekt?

Eine weitere linke Antwort gab die Antipsychiatriebewegung, die in Deutschland vor allem in den 60er und 70er Jahren groß war. Sie war damit die einzige größere, kollektive Bewegung psychisch Erkrankter im Nachkriegsdeutschland.

Die Antipsychiatriebewegung richtete sich in verschiedenen Abstufung gegen Psychiatrie und Psychologie. Sie prangerte Gewalt und Entmündigung an, unmenschliche und grausame Behandlungsmethoden, und besonders in Deutschland die personelle Kontinuität des Faschismus: Etliche Naziärzte leiteten bis zu ihrem Tod Anstalten und trafen Entscheidungen über die Leben ihrer Patient:innen.

In ihrer extremeren Ausprägung stellen Vertreter:innen der Antipsychiatriebewegung die Existenz psychischer Erkrankungen in Frage. Stattdessen gehen sie von mehr oder weniger willkürlichen Labels aus, die für Nicht-Konformität vergeben würden. Auch wichtige Intellektuelle wie Michel Foucault betrachteten das Thema und lieferten die ideologischen Grundlagen für die Bewegung.

Diesen Denker:innen und Aktivist:innen war und ist eines gemein: Sie lehnten die Arbeiter:innenklasse als strategisches Subjekt der Befreiung ab und brachen damit mit ihren marxistischen Vordenker:innen. Oft wurde die Masse der psychisch Kranken selbst als Subjekt gesehen, ohne dass dieses über eine strategische Position in der Produktion verfügt wie die Arbeiter:innenklasse.

Die Antipsychiatriebewegung selbst ist heute nicht mehr groß. Einerseits haben sich die Bedingungen in der Psychiatrie seit den 70ern deutlich verbessert, andererseits führten die Einflüsse der bürgerlichen Restauration und der damit verbundenen Neoliberalisierung dazu, dass psychisch Kranke mehr und mehr ihre Leiden als individuell und damit als individuell zu bearbeiten verstanden. Doch auch in der heutigen Linken finden sich viele, die in jeder Form von Therapie in erster Linie ein Werkzeug sehen, Arbeiter:innen weiterhin am Arbeiten zu halten, und sie deswegen ablehnen. Auch der Versuch, psychisch Kranke als alleiniges Subjekt ihrer Befreiung zu sehen, findet sich auch heute noch in der Linken.

Verbessert Sichtbarkeit die Situation für psychisch Kranke?

Ein anderer Lösungsansatz ist die Schaffung von mehr Sichtbarkeit, das heißt die größere Präsenz von Menschen mit psychischen Erkrankungen und/oder ihren Perspektiven und Problemen im öffentlichen Diskurs und in den Institutionen. Durch Bildungsarbeit und Appelle hoffen die Aktivist:innen Besserungen zu erzielen. Meistens ist diese Politik verbunden mit Appellen an die Regierung, denen man durch mehr Sichtbarkeit und eine lose Verbindung mit anderen Kämpfen mehr Gewicht zu geben versucht.

Der Großteil des aktuellen Aktivismus vertritt diese Perspektive. Auf der einen Seite befinden sich Aktivist:innen, die der Regierung bereits recht nahe stehen, beispielsweise in Gremien, die an Gesetzentwürfen mitarbeiten, oder beratend an der Seite von Ausschüssen oder Interessensverbänden.

Doch es gibt auch Aktivist:innen, die der Regierung kritisch gegenüber stehen. Ihre medialen Auftritte und Forderungen sind oft radikal, doch letztendlich geht es hier darum, durch eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit Druck auf die Regierungen auszuüben und so Reformen erzwingen zu können.

Wie genau dieser Druck aufgebaut werden kann, ist leider oft recht diffus und zahnlos. Ja, eine Unterschriftenliste mit ein paar zehntausend Unterschriften ist besser als nichts. Doch historische Verbesserungen wie die Erkämpfung des 8-Stunden-Tages wurden durch Streiks der Arbeiter:innenbewegung erkämpft. Wenn der Aktivismus psychisch Kranker also nicht den Schulterschluss zur Arbeiter:innenbewegung sucht und diese Kampfmittel benutzt, wird es bei kleinen Reförmchen, wie denen im Koalitionsvertrag bleiben – die uns ohne Macht auf der Straße und in den Betrieben auch schnell wieder genommen werden können.

Wie setzen wir ein Programm zur Befreiung durch?

Die Situation für psychisch Kranke und auch für Arbeiter:innen in dem Bereich muss sich verbessern. Auch gibt es viele Vorschläge zur Reform der Gesetze, um akute Leiden zu behandeln oder zu lindern – viele davon werden jedoch schlichtweg nicht umgesetzt. Doch um der Ausbreitung psychischer Erkrankungen im Kapitalismus wirklich etwas entgegenzusetzen, reicht es nicht, Behandlungen anzubieten, wenn die Leute schon gebrochen sind. Wie können wir dafür sorgen, dass die strukturellen Bedingungen sich ändern, welche psychische Erkrankungen erst hervorrufen oder verschlimmern?

Gegen Arbeitsleid und psychische Erkrankungen zu kämpfen, heißt zugleich für ein Gesundheitssystem im Interesse der Patient:innen und Beschäftigten und nicht der Profite zu kämpfen. Es bedeutet, aus den Betrieben und gewerkschaftlichen Strukturen heraus ein Programm gegen Armut und Arbeitsbelastung aufzustellen. Die einzelnen Tageskämpfe gegen Arbeitsverdichtung und zu viele Überstunden, gegen Personalmangel, für mehr Urlaub und gegen Befristungen und ständige Unsicherheit müssen wir mit einer Perspektive verbinden, das kapitalistische System zu stürzen, welches psychische Erkrankungen ständig verschärft und reproduziert.

Wie wir oben aufzuzeigen versucht haben, profitieren die Kapitalist:innen von der Disziplinierung, der Spaltung und Vereinzelung, um uns kampfunfähig zu machen. Es ist gerade unsere Organisierung, die sie verhindern wollen. Und zwar nicht einfach nur die Organisierung für Kundgebungen, Petitionen und Lobbyarbeit, sondern die Organisierung, um die Kapitalist:innen dort zu treffen, wo es ihnen wehtut – bei ihren Profiten.

Dafür braucht es eine organisierte Macht der Arbeiter:innenklasse, um der organisierten Macht der Kapitalist:innen und ihrem Staat etwas entgegensetzen zu können. Die Arbeiter:innen mit ihren strategischen Stellungen in der Produktion und der Logistik können mit ihren eigenen Mitteln – Streiks, Blockaden und Besetzungen – die Profitmaschinerie stoppen. In der Pandemie musste selbst die bürgerliche Politik von den „essenziellen“, „systemrelevanten“ Sektoren sprechen, die die Gesellschaft am Laufen halten – oder sie eben stilllegen können.

Weil sie diese Position innehat und ein sozialistisches System als Perspektive anzubieten hat, kann die Arbeiter:innenklasse – wenn sie es sich bewusst vornimmt –,  andere unterdrückte Sektoren anführen. Sie kann sowohl am effektivsten für die akuten Tagesforderungen kämpfen als auch eine Alternative zur kapitalistischen Misere aufzeigen.

Und heute?

Die Krise der psychischen Gesundheit im Kapitalismus hat, wie wir gesehen haben, vier Hauptgründe: Arbeitsleid und (drohende) Arbeitslosigkeit, die Betreuungskrise und das profitorientierte Gesundheitssystem. An diesen Fronten müssen wir kämpfen, um die Situation für Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern.

Gegen die langen Stunden Arbeit, die auslaugen und einem die Zeit zur Regeneration stehlen, hilft eine Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich, die auch bereits Teil der gewerkschaftlichen Diskurse und Forderungen ist (mehr hierzu in „Arbeitszeit verkürzen? Ja, für alle! Vorschläge zur Überwindung der Spaltung“). Dazu gehört auch die Aufteilung der vorhandenen Arbeit auf alle Schultern, um der Langzeitarbeitslosigkeit ein Ende zu setzen. Akut ist notwendig, das gesamte Hartz-IV-System abzuschaffen und durch ein existenzsicherndes und sanktionsfreies Arbeitslosengeld zu ersetzen.

Und auch gegen die Betreuungskrise kämpfen heißt, die Bedingungen für psychisch Kranke zu verbessern: sei es für mehr Kindergarten- und Kitaplätze, bessere Pflege für kranke Angehörige, oder die Vergesellschaftung von Hausarbeit. (Hierzu mehr im Artikel „Care Revolution, die Gewerkschaft und der politische Streik“ aus dem Klasse Gegen Klasse Magazin #7, sowie im Artikel „Was wir in der Betreuungskrise von den Bolshewiki lernen können“ aus dem Klasse Gegen Klasse Magazin #2.)

Und zuletzt wird eine gute Betreuung von Menschen mit psychischen Erkrankungen nur möglich sein in einem Gesundheitssystem, das nicht auf Profite ausgerichtet ist und in dem Gesundheitsarbeiter:innen gute Arbeitsbedingungen haben. Die DRG-Pauschalen müssen abgeschafft, Personalmangel und schlechte Arbeitsbedingungen bekämpft, outgesourcte Tochterunternehmen wieder eingegliedert werden.

Für diese Forderungen gibt es bereits Kämpfe von Gesundheitsarbeiter:innen, wie die Pflegestreiks der vergangenen Jahre, die Berliner Krankenhausbewegung und Ableger in anderen Bundesländern (hierzu mehr im Artikel „Erst Berlin, jetzt NRW: Welches Potential haben die Krankenhaus­bewegungen?“ in der vorliegenden Ausgabe des Klasse Gegen Klasse Magazins). Und auch „reguläre“ Tarifkämpfe, wie die Tarifrunde für den öffentlichen Dienst (TVöD) im Herbst dieses Jahres, können die Bedingungen für Arbeiter:innen im Gesundheitssektor verbessern. Um die Versorgung psychisch Kranker zu verbessern, müssen wir uns den Kämpfen im Gesundheitssektor anschließen und dafür sorgen, dass sie ausgeweitet werden können.

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