Palästinasolidarität und die Emanzipation der Menschheit
Durch soziale Bewegungen mobilisiert sich in den letzten Jahren weltweit eine ganze Generation junger Menschen – junge Menschen, die sich jetzt mit der Frage beschäftigen, warum ein Krieg gegen Gaza stattfindet.
Darunter sind auch die antirassistische Bewegung „Black Lives Matter“ (BLM) und die um Klimagerechtigkeit kämpfende Initiative „Fridays for Future“ (FFF). Ihr Schrei galt nicht bloß einigen „single issues“ oder einzelnen politischen Reformen: Hunderttausende junge Menschen wollen kapitalistische Ungerechtigkeit und Unterdrückung insgesamt nicht mehr dulden. Sie wurden laut, organisierten sich.
Innerhalb dieser Bewegungen gab es von Anfang an große Widersprüche – so wurden sie einerseits zu einem Sprachrohr der Jugend und Unterdrückten auf der ganzen Welt, wurden aber andererseits auch von kapitalistischen Parteien und Lobbygruppen unterwandert. Zum Beispiel kämpft BLM mit der Einflussnahme der kapitalistischen Demokratischen Partei der USA, FFF droht von Karrierist:innen und den Grünen vereinnahmt zu werden, die eine Erneuerung in Form des „grünen Kapitalismus“ im Sinn haben.
Der Versuch der Spaltung am Beispiel „Fridays for Future“
Als sich Aktivist:innen von FFF angesichts der jüngsten Bombardements auf Gaza und der israelischen Siedlungspolitik mit Palästina solidarisierten, wurden sie – wie zuvor schon Aktivist:innen von BLM und neuerdings auch Deutsche Wohnen und Co. Enteignen (DWE) – mit scharfen Vorwürfen des Antisemitismus belegt. Dabei wird regelmäßig nicht differenziert, ob es sich um eine Kritik an Israel, der zionistischen Ideologie und der israelischen Regierung, oder um antisemitische Vorfälle handelt, also zum Beispiel Angriffe auf Synagogen. Im Fall von DWE beruhen die Antisemitismus-Vorwürfe sogar selbst auf dem antisemitischen Klischee, jüdische Menschen seien reich, die Enteignung von Immobilienhaien daher antisemitisch. Mit einer reaktionären Ausweitung des Begriffs „Antisemitismus“ wird den Bewegungen – darunter auch linken Aktivist:innen aus der jüdischen Diaspora – aber insbesondere abgesprochen, sich überhaupt „einseitig“ mit Palästina solidarisieren zu dürfen.
Zuletzt wurde die Galionsfigur der Klimagerechtigkeitsbewegung, Greta Thunberg, scharf kritisiert, weil sie einen politisch moderaten Tweet von Naomi Klein retweetete, der Israel Kriegsverbrechen vorwarf. Die Unterstellung: Die kanadische Globalisierungskritikerin Klein unterstütze die Kampagne „Boycott Divestment Sanctions“ (BDS), die mit den friedlichen Mitteln Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegenüber israelischen (nicht: jüdischen) Institutionen gegen die israelische Besatzungspolitik und für das Rückkehrrecht vertriebener Palästinenser:innen eintritt, und sei daher antisemitisch. Das mache dann auch Greta per Kontaktschuld des Antisemitismus verdächtig. Im Folgenden wurden Online-Präsenzen von FFF angegriffen, die Israel als Apartheidstaat bezeichneten – eine Bezeichnung, die auch die US-amerikanische Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch verwendet.
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) wetterte sogleich gegen Thunberg, sie solle sich nicht in solche Debatten einmischen: „Das ist eine Verschleuderung von Vertrauenskapital in der Klimafrage, indem man auf anderen Gebieten dilettiert. Es dünnt das erworbene moralische Kapital aus“. Er nannte die Äußerungen Thunbergs „Dilettantismus“, stellte dem die deutsche „Staatsräson“ zur Solidarität mit Israel entgegen, und forderte, soziale Bewegungen sollten bitte bei ihrem „single issue“ bleiben. Kurzum, die jungen Menschen, die sich in den letzten Jahren politisiert haben, sollten nicht den Anspruch erheben, eine allgemeine Emanzipation der Menschheit zu fordern, sollten sich nicht gegen Unterdrückung insgesamt solidarisieren. Bürgerliche Politiker:innen stießen in das gleiche Horn.
Umso bemerkenswerter ist deshalb ein Statement, dass heute über die internationalen FFF-Kanäle verbreitet wurde. Darin heißt es, man stelle sich gegen alle Formen des Kolonialismus und systematische Repression durch Militär und Institutionen. Weiter heißt es: „Wir widersetzen uns den unterdrückerischen Handlungen der israelischen Regierung: Sie sind eine Form von Militarismus und Kolonialismus, die wir auflösen wollen.“ Ebenso bemerkenswert ist jedoch leider auch der kleine Vermerk in der Ecke des Postings auf Instagram: „FFF Germany doesn’t endorse this post“, also: der deutsche FFF-Ableger beziehungsweise zumindest seine Führung will offiziell nichts mit der Palästinasolidarität von FFF international zu tun haben. Passenderweise tummelten sich in den Kommentare dann auch Mitglieder der Grünen, die scharfe Kritik übten. Sogar Forderungen nach einer neuen Klimabewegung wurden dort geäußert.
Diese Spaltungsversuche gegen FFF, deren Urheber:innen eine Front mit der Springer-Presse bilden, dienen nicht dem Kampf gegen Antisemitismus. Sie stehen für die geopolitischen Interessen des deutschen Kapitals, das FFF maximal als Manövriermasse der kapitalistischen grünen Partei sehen möchte, nicht als Massenbewegung gegen Unterdrückung. Wolfgang Merkel behandelt dementsprechend die Beziehungen zu Israel als „Staatsräson“.
Zugleich wurde die Rechtsaußen-Figur Hans-Georg Maaßen vom CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet verteidigt, als Luisa Neubauer – selbst Grüne und des Radikalismus unverdächtig – ihm zu Recht vorwarf, mit dem Begriff „Globalismus“ eine antisemitische dogwhistle zu gebrauchen (also einen Code, der zwar harmlos klingt, von Antisemit:innen aber entschlüsselt wird). Maaßen ist Ex-Innengeheimdienstchef und war in den NSU-Skandal sowie viele weitere Kollaborationen des Staates mit dem Faschismus verwickelt – die Union stellt ihn nun als Direktkandidaten für ihren Wahlkampf auf.
Zwei Definitionen des Antisemitismus
Was in der Auseinandersetzung mit FFF und anderen sozialen Bewegungen stattfindet, ist eine gefährliche Begriffsverdrehung. Um Antisemitismus effektiv zu bekämpfen – und nicht in Fallen zu tappen und einfach jeden bürgerlichen Shitstorm gegen völlig berechtigte Proteste mitzumachen –, ist es wichtig, keine Verwirrungen über den Begriff des Antisemitismus zuzulassen.
Was also ist Antisemitismus? Zwei Definitionen sind hierbei besonders einflussreich: die sogenannte Arbeitsdefiniton der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA) und die Jerusalemer Erklärung.
Bei der IHRA handelt es sich um ein Bündnis von 31 (mehrheitlich europäischen und mehrheitlich imperialistischen) Staaten. Die „Arbeitsdefinition“ wurde 2016 beschlossen und in der Folge in mehreren Staaten, darunter auch Deutschland, offiziell als „die Grundlage für ein gemeinsames Verständnis von Antisemitismus auf nationaler Ebene“ übernommen. Seitdem ist sie von vielen Seiten Kritik ausgesetzt, vor allem, weil sie auffällig vage bleibt. Tatsächlich kann sich Antisemitismus der Definition zufolge sogar gegen nichtjüdische Personen und Einrichtungen richten. Zwar hat die Definition keine rechtliche Bindungskraft, doch wurde sie in der Praxis vielfach dazu verwendet, um alle als antisemitisch zu bezeichnen, die sich in irgendeiner Form gegen den Zionismus äußern – wie zuletzt auch Greta Thunberg. Die Folge kann der Ausschluss von öffentlichen Räumen und der Entzug öffentlicher Fördergelder sein. So ist es durchaus möglich, dass der deutsche Staat linke, antizionistische Jüdinnen:Juden mit Hilfe der IHRA-Definition als „antisemitisch“ boykottiert, ihnen Gelder streicht und sie sanktioniert, weil sie die deutsche Politik kritisieren.
In Reaktion auf die IHRA-Definition veröffentlichten über 200 Forscher:innen aus einem breiten politischen Spektrum, die sich u.a. mit dem Holocaust, jüdischer und westasiatischer Geschichte befassen, Ende März diesen Jahres die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus. Sie setzten damit einen international sichtbaren Kontrapunkt zur hegemonialen Arbeitsdefinition der IHRA, die sie als „in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedlichste Interpretationen offen“ kritisieren. Diese habe damit dem Kampf gegen Antisemitismus geschadet. Anders als die IHRA-Definition präzisiert die Jerusalemer Erklärung, dass es sich bei Antisemitismus um „Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)“ handelt. In den beigefügten Beispielen wendet sie sich gegen eine Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus und hält auch fest, dass das Ziel einer Überwindung des Staates Israels nicht notwendigerweise antisemitisch ist. Auch die Anwendung der Begriffe „Siedlerkolonialismus“ und „Apartheid“ auf den Staat Israel seien nicht per se antisemitisch.
Die Jerusalemer Erklärung gibt zwar keinen wirklichen Hinweis darauf, wie der Antisemitismus zu überwinden ist. Zur weitverbreiteten Arbeitsdefinition der IHRA aber stellt sie einen sehr deutlichen Fortschritt dar. Antisemitismus und Antizionismus in eins zu setzen, wie es die IHRA-Definition tut, erlaubt schließlich jede noch so moderate Solidarität mit den unterdrückten Palästinenser:innen als antisemitisch zu bezeichnen. Tatsächliche Antisemit:innen wie Donald Trump oder Viktor Orban können derweil mit dem Verweis auf ihre Unterstützung für den Staat Israel reingewaschen werden.
Antisemit:innen, also Personen, die Jüdinnen:Juden als Jüdinnen:Juden hassen und angreifen, können mit dem Zionismus oftmals gut leben und sich sogar mit ihm verbünden. Dieses Phänomen finden wir oft in Einheit mit einem aggressiven antimuslimischen Rassismus in der extremen Rechten, wie bei der AfD. Sie können mit dem Zionismus deshalb gut leben, weil dieser sagt, dass der Ort für jüdische Menschen Israel sei. Sie mögen die Jüdinnen:Juden, wenn sie weit genug weg sind und man sie instrumentalisieren kann, um eine rassistische Agenda gegen muslimische Menschen zu rechtfertigen.
Der Antisemitismus eines Erdoğan liegt in einer Demagogie begründet, die ihm eine Machtpolitik in Westasien erlaubt und gleichzeitig dabei hilft, seine Basis aufzupeitschen. Er richtet sich tatsächlich nicht gegen den Zionismus, sondern paktiert durchaus mit Israel, ohne das an die große Glocke zu hängen. Unterstützung erhält Israel auch vom saudischen Königshaus, das gleichzeitig mit den USA eng verbündet ist und mit dem Zionismus gut leben kann, während es jedoch gegen jüdische Menschen Hass verbreitet.
Natürlich ist es antisemitisch, jüdische Menschen in der Diaspora für etwas anzugreifen, das ein Staat macht, mit dem sie oft gar nichts zu tun haben oder gegen den sie sich selbst entschieden haben. Aber es gibt eine Beziehung zwischen Diaspora und Israel.
Die jüdische Diaspora und die Emanzipation der Menschheit
Die jüdische Diaspora wurde von der Welt vor ein Problem gestellt, als sich herausstellte, dass der Antisemitismus mit der Moderne nicht verschwunden war, sondern sich weiter verschärft hatte. Für die Diaspora liegen im Grunde drei verschiedene Optionen vor: Assimilation, Zionismus und revolutionärer Marxismus.
Die erste Option der Diaspora, die Assimilation, kann unterschiedliche Schattierungen haben: von der völligen Aufgabe der eigenen jüdischen Identität bis hin zur Verteidigung bestimmter kultureller, sprachlicher und religiöser Rechte innerhalb eines bürgerlichen Nationalstaates. Viele Liberale meinten, die Diaspora könnte Verfolgung und Mord dauerhaft entgehen, indem sie Teil der Zivilgesellschaft wird. Doch die Zuspitzung des modernen Antisemitismus im Holocaust zeigte, dass der Weg der Assimilation ein unsicherer ist. Auch angepasste Jüdinnen:Juden wurden vom Völkermord nicht ausgenommen. Aus dem Problem heraus, dass bürgerliche „Garantien“ wieder zurück genommen werden können, der Weg der Assimilation also scheiterte, entwickelte sich – bereits vor dem Holocaust – Ende des 19. Jahrhunderts die Strömung des Zionismus.
Das ist also die zweite Option: Wenn der bürgerliche Nationalstaat keine ausreichenden Garantien für die Sicherheit der jüdischen Diaspora geben kann, so das reaktionäre Argument, muss ein eigener jüdischer Staat geschaffen werden, der genau das vermag. Der eine unauflösbare Widerspruch des Zionismus liegt jedoch darin, dass ein Staatsgründungsprojekt im Zeitalter des Imperialismus, der vollständigen Aufteilung der Welt, notwendigerweise ein Kolonialprojekt ist. Ein solches Staatsprojekt kann keine Sicherheit garantieren, da es auf nationaler Unterdrückung beruht. Das andere inhärente Problem des Zionismus ist, dass er die Diaspora direkt oder indirekt zur Migration in einen jüdischen Staat aufruft, um dem Antisemitismus zu entkommen – aber den Antisemitismus für die Diaspora nicht aufhebt. Die Antwort des heutigen Zionismus an die Diaspora ist lediglich, dass Israel immer für sie da sei. Darin liegt der zivilgesellschaftliche Einfluss des Zionismus begründet. Der Liberalismus schließt regelmäßig Bündnisse mit dem Zionismus, um palästinensische Solidarität ebenso wie linke Jüdinnen:Juden zu delegitimieren und sich gegen revolutionäre Positionen zu verteidigen.
Die dritte Option für die jüdische Diaspora ist schließlich der revolutionäre Marxismus: Wenn die kapitalistische Moderne in ihrer imperialistischen Zuspitzung den Antisemitismus nicht abschaffen kann, wenn die Widersprüche der Nationalstaaten den Antisemitismus im Gegenteil immer wieder aktualisieren, dann muss der Kapitalismus abgeschafft werden. Der revolutionäre Marxismus ist internationalistisch und notwendig antizionistisch – das Angebot dieser Option ist es, gemeinsam gegen jede Unterdrückung zu kämpfen. Denn der revolutionäre Marxismus tritt für eine Gesellschaft ein, in der die Garantie für das Leben der jüdischen Bevölkerung in der Aufhebung der Unterdrückungsbeziehungen insgesamt liegt. Für denjenigen Teil der jüdischen Diaspora, der diesen Weg wählt, gelten die Versprechen des israelischen Staates nicht, sondern er wird mit Vorwürfen des Antisemitismus und des „Selbsthasses“ belegt, wenn er das zionistische Projekt verurteilt.
Für eine universelle, antirassistische und multiethnische Palästinasolidarität
Die Gleichsetzung von Zionismus und Judentum, Israel und jüdischen Menschen, die von Zionist:innen sowie Antisemit:innen betrieben wird, ist eine Bedrohung für Juden:Jüdinnen. Es ist notwendig, zum Beispiel gegenüber jungen Menschen aus Westasien, die die Unterdrückung in Palästina zurecht wütend macht, ganz klar zu zeigen, dass jüdisch und zionistisch eben nicht das Gleiche sind. Nur so ist es möglich, den Antisemitismus abzuwerfen, der der Emanzipation der Muslim:innen, Jüdinnen:Juden und letztlich der Emanzipation Aller im Wege steht.
Dafür ist es nötig, Teil der Palästinasolidarität zu sein und sich eben nicht von ihr zu distanzieren, nachdem es politisch von reaktionären Führungen gewollte antisemitische Vorfälle gab. Türkische Faschist:innen zum Beispiel, die in Palästinasolidaritätsdemos antisemitische Parolen skandieren, Synagogen angreifen und kurdische Aktivist:innen innerhalb der Demonstrationen angreifen, müssen aus der Bewegung hinausgedrängt werden, anstatt sie mit einer Entsolidarisierung gegenüber Palästina zu legitimieren. Es ist im Gegenteil höchste Zeit für eine universelle, antirassistische und multiethnische Palästinasolidarität aller Religionen und Nationen, unter Beteiligung der jüdischen und kurdischen Diaspora gegen den Zionismus und Kolonialismus.
Es ist ein großer Fortschritt auf dem Weg dorthin, wenn sich FFF international mit dem Befreiungskampf Palästinas solidarisiert. Um jedoch erfolgreich zu sein, sowohl im Streben für die Überwindung des israelischen Kolonialprojekts als auch gegen die voranschreitende Klimakatastrophe, ist es nötig, dass die Bewegung sich die Mittel der Arbeiter:innenklasse zu eigen macht. Den Weg weisen in den imperialistischen Zentren die italienischen Hafenarbeiter:innen von Livorno, die den Versuch unternommen haben, mit einem Boykott von Waffenlieferungen nach Israel den Angriff auf Gaza zu schwächen. Ein noch größerer Schritt auf diesem Weg war der Generalstreik der Palästinenser:innen gegen die israelische Besatzung am vergangenen Dienstag. Es sind diese Beispiele, die den Weg zur Befreiung von jeglicher Form von Unterdrückung aufweisen.