Palästina: Terrorismus und Kolonialismus in Zeiten der Abraham Accords
Die diplomatische Annäherung zwischen Israel und den arabischen Staaten blieb vorübergehend. Seit dem 7. Oktober ist die Situation eine andere. Ein Gastbeitrag von David Ernesto García Doell.
Dieser Gastbeitrag gibt nicht die Position der Redaktion von Klasse Gegen Klasse wieder. Wir halten ihn aber für diskussionswürdig und veröffentlichen ihn deshalb an dieser Stelle.
Der Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 ist eine Zäsur, aber auch eine neue Eskalationsstufe im sogenannten Nahost-Konflikt. Die Gleichzeitigkeit zu betonen ist wichtig, denn der Krieg 2023 ist nicht nur ein Kettenglied von Gewalt, die seit über 100 Jahren in historischen Schlüsselsituationen wie 1917, 1948, 1967, 1993, 2023 ausgetragen wird. Einen Kontext von Holocaust und Nakba zu bestimmen, heißt weder Kolonialismus noch Terrorismus zu entschuldigen. Der Kontext des asymmetrischen Kriegs zwischen der Hamas und Israel; und der zwischen Israelis einerseits und Palästinenser:innen muss also genau bestimmt werden. Genauso muss aber auch das spezifisch Neue des islamistischen Terroranschlags vom 7. Oktober und der terroristischen Bombenkampagne Israels seitdem analysiert werden.
Die Frage, die sich zunächst aufdrängt, ist: Warum hat die Hamas genau zu diesem Zeitpunkt ihre Taktik verändert und massenhaft Zivilist:innen ermordet? Die Hamas, 1987 gegründet, hatte ihre Charta 2017 zumindest in der Rhetorik deutlich moderater gestaltet. Sie grenzte sich explizit von ihrer vorigen Dachorganisation, der Muslimbruderschaft, und dem globalen Jihad ab, und stellte in Aussicht, ein Palästina in den Grenzen von 1967 anzuerkennen, was einen Verzicht auf etwa 78 Prozent des ursprünglich beanspruchten Landes bedeuten würde. Wieso kommt es dann nur sechs Jahre später zum größten Terroranschlag der Geschichte Israels? Dafür gibt es mindestens drei zentrale Gründe: innerpalästinensische, innerisraelische und geopolitische. Der wichtigste Grund scheint der geopolitische Grund zu sein.
Der trügerische Erfolg der Abraham Accords
Am 15. September 2020 feierten Israel einerseits und die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain andererseits die Unterzeichnung der sogenannten Abraham Accords unter der Schirmherrschaft der USA von Donald Trump. Es war die erste offizielle diplomatische Annäherung Israels an arabische Staaten seit dem israelisch-libanesischen Friedensvertrag von 1994. Die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain erkannten mit den Abraham Accords Israel als souveränen Staat an. Ende 2020 folgte ein sogenanntes Normalisierungsabkommen mit Marokko und Anfang 2021 eins mit dem Sudan. Auch der ökonomisch und politisch einflussreiche westliche Partner Saudi-Arabien sollte folgen. Die Abraham Accords schlossen jedoch die Palästinenser:innen von den Verhandlungen aus.
Die USA wollten mit dem Abraham Accords zwar die angestrebte Teil-Annexion der besetzen Westbank unterbinden oder zumindest aufschieben, vertieften mit ihrer Diplomatie über die Köpfe der Palästinenser:innen hinweg jedoch die Hoffnungslosigkeit einer palästinensischen Staatlichkeit. Wenn wir annehmen, dass die Vorbereitung für den Anschlag vom 7. Oktober 2023 mindestens Monate, wenn nicht Jahre gedauert haben, dann könnte die Planung der Anschläge nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich als Reaktion auf die veränderte geopolitische Situation der Abraham Accords verstanden werden. Khalil al-Hayya. Mitglied des Politbüros der Hamas, sagte der New York Times: „Die Hamas, die Qassam und der Widerstand haben die Welt aus ihrem Tiefschlaf geweckt und gezeigt, dass dieses Thema auf dem Tisch bleiben muss“. Die Terrorgruppe habe der Welt mitteilen wollen, dass „die palästinensische Sache nicht tot ist“ und hoffe so, die Unterstützung der arabischen Welt wiederzugewinnen. Dafür sei eine „große Tat“ notwendig gewesen.
Anscheinend hatten israelische Militärs bereits ein Jahr vor dem Anschlag Details der Pläne gekannt: „Die ersten Anzeichen eines Einsatzplans erreichten die Hände der Armee vor einigen Jahren, und mehr als ein Jahr vor dem Angriff wurde der vollständige Plan klar.“ Die israelische Einheit 8200, die von der Ausrichtung mit der US-amerikanischen NSA vergleichbar ist, hatte eine folgenschwerere Entscheidung getroffen, die Überwachung taktischer Kommunikation der Hamas zugunsten neuer technischer Informationssammlungen zurück zu fahren. Eine erfahrende Unteroffizierin der Einheit 8200 schrieb allerdings über Monate vor dem Angriff vom 7. Oktober drei Dossiers über den bevorstehenden Angriff. Im Juli 2023 schrieb sie, dass die Hamas ihr Training für den Angriff abgeschlossen habe, dass diesen Training die Hamasführung beigewohnt habe, und der Angriff unter anderem beinhalte, Kibbuze schrecklich anzugreifen. Die aufmerksamen Teile der Einheit 8200 konnten sogar das Datum genauer bestimmen, nämlich den 50 Jahrestag des 5. arabisch-israelischen Kriegs, des sogenannten Jom-Kippur Kriegs, der am 6. Oktober 1973 begann. So schreibt die New York Times weiter:
Die Warnung des Unteroffizierin wurde an leitende Offiziere in ihrer Einheit und an die Feldnachrichtendienste weitergegeben. Ein leitender Nachrichtendienstoffizier antwortete ihr per E-Mail; er lobte ihre Arbeit, fügte jedoch hinzu: ‚Es scheint mir imaginär zu sein.‘ Die Unteroffizierin blieb standhaft. Es ist nicht imaginär, antwortete sie. Und sagt weiterhin: Wir nähern uns dem 50 Jahrestags des Jom-Kippur-Kriegs. (…) Die letzte Warnung des Unteroffiziers traf im August in einem Dokument ein, das an mehrere leitende Mitarbeiter in der Einheit und im Feldnachrichtendienst verteilt wurde. Sie empfand, dass dies die richtige Gruppe sei, um diese Informationen zu erhalten. Sie skizzierte den Plan, wie sie ihn verstand, und die Übungen, die die Hamas abgehalten hatte. Ihre Schlussfolgerungen entsprachen den Ereignissen, wie sie weniger als zwei Monate später am 7. Oktober stattfanden.
Was ist die neue Qualität des Terrorismus vom 7. Oktober?
Zweifellos müssen die Anschläge in der Binnenlogik der Hamas als großer Erfolg gewertet werden. Wahrscheinlich stellen sie ihrer Effektivität und ihrem Überraschungseffekt den erfolgreichsten Terroranschlag seit dem 11. September 2001 dar (definiert als Massenmord an Zivilist:innen). Angesichts des Gaza-Kriegs wurden nicht nur die Annäherung Israels und Saudi-Arabien auf Eis gelegt. Anfang November teilte beispielsweise Bahrain einseitig mit, seinen Botschafter zurückberufen, den israelischen Botschafter ausgewiesen und alle ökonomischen Beziehungen abgebrochen zu haben. Auch die Türkei unternahm ähnliche Schritte. Zusätzlich beteiligten sich neben der Hamas auch der Islamischer Dschihad sowie die PFLP/DFLP als auch die aus der Westbank operierende Höhle der Löwen (TLD) an dem Angriff. Somit kann die Hamas einen Führungsanspruch über alle militanten Gruppen in Palästina für sich beanspruchen.
Die Terrorismusforscherin Devorah Margolin wies besonders daraufhin, dass die Hamas vor dem 7. Oktober bei Terror gegen Zivilisten – die als Teil der illegitimen Besatzung angesehen werden – nur Männer ab 18 Jahre als Ziele ausgab. Am 7. Oktober wurden aber erstmals gezielt Frauen vergewaltigt, sowie Kinder, Frauen und ältere Menschen brutal ermordet und als Geiseln genommen – das Ganze wurde mit einer medialen Übertragung des schrecklichen Gemetzels im Sinne einer Propaganda der Tat auch terroristisch kommuniziert. Besonders die mediale Darstellung kann als Zeichen gedeutet werden, dass die Bilder eine Rückkehr zur Normalität der „Normalisierung“ von Beziehung zwischen Israel und arabischen Staaten im Zeichen der Abraham Accords unmöglich machen sollten. Hamas und Co. unterstreichen damit in blutigster Form, dass eine „Lösung“ des Nahost-Konflikts ohne Beteiligung der Palästinenser:innen nicht gelingen kann.
Anders als bei den Anschlägen am 11. September, bei denen Symbole der Macht im Herzen der USA getroffen wurden, wählte die Hamas die banalsten Ziele aus: einfache Militärposten an der Grenze, Kibbuze, oder den zufällig entdeckten Rave in der Wüste. Verschiedene Kommentator:innen haben auf die Absurdität hingewiesen, einen Rave zu feiern direkt neben den schrecklichen Lebensverhältnissen des sogenannten Freiluftgefängnisses Gaza. Die Aussage der Hamas lässt sich vielleicht auch so verdichten: Die Normalität, die den Palästinenser:innen in der besetzen Westbank und im unter Blockade stehenden Gaza nicht möglich ist, soll ohne Angst auch den Israelis nicht möglich sein. Die Normalität der Abraham Accords soll unmöglich werden angesichts des schleichenden Genozids in Palästina.
Die Situation in Israel und Palästina
Aber auch zwei weitere Gründe können eine Rolle gespielt haben. Einerseits gab es im Juli 2023 zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder Proteste in Gaza gegen die Lebensbedingungen im Allgemeinen, die seit der Blockade von 2007 eine weitere Verarmung und kaum genügend Lebensmittel bedeuten, und gegen die Herrschaft der Hamas im Speziellen. Unter anderem der Spiegel berichtete Anfang August: „Palästinensische Aktivisten haben neue Demonstrationen angekündigt, um gegen die hohen Lebenshaltungskosten und chronische Stromausfälle zu demonstrieren. Schon am Sonntag waren mehrere Tausend Menschen im gesamten Gazastreifen auf die Straße gegangen.“
Auf der anderen Seite der Grenzzäune versuchte die rechte bis rechtsextreme israelische Regierung seit Anfang 2023 den Umbau zu einer autoritären Präsidialregierung mit einem Justiz-Coup zur Schwächung des Obersten Gerichts zu forcieren. Gegen die Bestrebungen der Netanjahu-Regierung gab es ein breites gesellschaftliches Bündnis mit Massenprotesten, und das über Monate hinweg: „Insbesondere in Tel Aviv versammelten sich jeden Samstag Menschenmengen zu Demonstrationen, häufig über 100.000 Menschen.“
Die Hamas sah sich also einerseits mit Unzufriedenheit gegenüber ihrer Herrschaft in Gaza konfrontiert und konnte andererseits auf eine Spaltung der israelischen Gesellschaft bauen. Zudem war die israelische Armee oftmals mit den Aufräumarbeiten von Siedlerpogromen gegen Palästineser:innen in der Westbank beschäftigt. Dies ist bestimmt nicht der ausschlaggebende Grund für das genaue Datum des Angriffs, aber womöglich zentral für den überraschenden militärischen Erfolg des Angriffs vom 7. Oktober. IDF und Netanjahu versuchen sich die Schuld für das Versagen vom 7. Oktober auch gegenseitig in die Schuhe zu schieben.
Die Hamas hoffte augenscheinlich, Israel zu einem Vergeltungsschlag zu provozieren und damit mindestens die relativen Erfolge der Abraham Accords zu pulverisieren, wenn nicht sogar die Blockade von Gaza nachhaltig zu überwinden. Bestenfalls hoffte die Hamas wohl auf einen Aufstand in der Westbank und darauf, andere arabische Kräfte in den Krieg einzubeziehen, namentlich die vom Iran unterstütze Hisbollah im Libanon und die Huthi-Milizen in Jemen, die die faktische Regierung des Landes bilden. Die Ergebnisse katarisch-ägyptischer Diplomatie sorgten schließlich für eine sechstägige Waffenrufe ab Freitag, den 24. November 2023, und einen teilweisen Gefangenenaustausch. Auch die Freilassung von palästinensischen Gefangen kann die Hamas somit als Erfolg verbuchen. Jedoch ging das genozidale Bombardement der israelischen Armee seitdem unvermindert weiter. Für die Erfolge der Hamas musste die Zivilbevölkerung in Gaza einen hohen Preis zahlen: Mindestens 18.000 Tote, halb Gaza zerbombt, über eine Millionen Flüchtlinge und die Angst vor einer zweiten Nakba, haben die vorher schon hoffnungslose Situation noch weiter verschlimmert.
Dennoch sind die Zustimmungswerte der Hamas zuletzt stark gestiegen: und zwar sowohl in der besetzen Westbank, in der Siedlerterror und Militärgewalt seit dem 7. Oktober einen extremen Anstieg verzeichnen als auch in dem vor eine humanitären Katastrophe stehendem Gazastreifen. „52% der Palästinenser:innen in Gaza und 85% in der Westbank seien insgesamt zufrieden mit der Rolle, die die Hamas im Krieg spielen würde. Nur 11% der Palästinenser:innen sei mit der Autonomiebehörde von Präsident Abbas zufrieden.“ Aber nicht nur für die Hamas bedeuten die Ereignisse der letzten Monate eine Konsolidierung ihrer Macht.
Die Logik der Vertreibung
Die Regierung von Netanjahu hatte stets die Hamas als Repräsentation der Palästinenser:innen bevorzugt, da er mit Terroristen nicht über einen palästinensischen Staat verhandeln müsse, sondern man einfach Raketen und Attentate gegen Bombenangriffe tauschen könne: „Der Premierminister selbst sprach immer wieder über seine Position zu Hamas. Im März 2019 sagte er während eines Treffens von Likud-Mitgliedern, bei dem die Überweisung von Geldern an Hamas diskutiert wurde: ‚Wer sich gegen einen palästinensischen Staat ausspricht, muss die Überweisung von Geldern nach Gaza unterstützen, denn die Aufrechterhaltung der Trennung zwischen der PA im Westjordanland und Hamas im Gazastreifen wird die Gründung eines palästinensischen Staates verhindern.‘“
Das behauptete Kriegsziel, die Hamas zu vernichten, konnte Netanjahu bislang kaum erfüllen. Israel schätzt die Stärke der Hamas auf rund 30.000 bis 50.000 Kämpfer ein. Von den ca. 18.500 Toten in Gaza sollen aber laut IDF-Angaben nur etwa 5.000 Hamas-Kämpfer sein. Unter dem Strich werden also insbesondere Zivilist:innen getötet und der Hamas zumindest in der Truppenstärke derzeit noch kein entscheidender Schaden zugefügt. Die israelische Propaganda erschien dabei oft kopflos, wenn beispielsweise ein Hamas-Hauptquartier unter einem Krankenhaus behauptet wurde und dann ein paar Waffen und eine Kiste Datteln als Beweis präsentiert wurden. Wie man eine Terrororganisation, die sich seit Jahren oder gar Jahrzehnten in einem Tunnelsystem eingerichtet hat, mit einer Bombenkampagne besiegen könnte, war sowieso nie verständlich vermittelt worden.
Die Kollektivbestrafung und die sogenannte „ethnische Säuberung“ Nordgazas haben das erklärte Kriegsziel der Vernichtung der Hamas gewiss nicht geleistet. Dennoch kann auch die Netanjahu-Regierung einen relativen Erfolg verbuchen, nämlich erstens die Regierungskrise im Rahmen des Justiz-Coups von der politischen Agenda zumindest vorübergehend haben streichen zu können. Zweitens eine prospektive ethnische Säuberung von Nordgaza und das Einschwören der israelischen Zivilgesellschaft auf eine Bombenkampagne neuer Ausmaße, ohne größere Proteste. Insgesamt wurden bereits etwa 1.500.000 Menschen in Gaza zur Flucht gezwungen.
Die Netanjahu-Regierung überlegt immer wieder laut, wie eine Vertreibung der Palästinenser:innen aus Gaza aussehen könnte. Das Ministerium für Nachrichtendienst unter der Likud-Ministerin Gila Gamliel hatte bereits am 13. Oktober Überlegungen vorgelegt, dass eine Zwangsumsiedlung von 2,2 Millionen Palästinenser:innen nach Ägypten die beste Option für Israel sei. Der Gaza-Krieg von 2023 ist somit auch ein Laboratorium, in dem die Rahmenbedingungen kolonialer Gewalt und Vertreibung neu ausgelotet werden. Israel beansprucht das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan. Das unterlegt sowohl die terroristische Bombenkampagne dieses Ausmaßes in Gaza als auch die Siedlerpogrome in der besetzen Westbank. Von einem zumindest drohenden Völkermord zu reden, ist also nicht weit hergeholt.
Bislang werden trotz Massendemonstrationen in arabischen und westlichen Ländern in Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung weder von den arabischen Regierungen noch von der internationale Staatengemeinschaft große Anstalten gemacht, der Zerstörung von Gaza Grenzen zu setzen. In Nordgaza ist in etwa jedes zweite Gebäude zerbombt worden, die humanitäre Katastrophe ist noch kaum abschätzbar. Die Feuerpause von sechs Tagen ab dem 24. November 2023 im Zuge des Gefangenenaustauschs reichte noch nicht einmal aus, um das Ausmaß dieser Katastrophe zu ermessen. Obwohl es weltweit zahlreiche Großdemonstrationen in Solidarität mit Gaza und Palästina gab, kann kaum von einem Einfluss dieser Demonstrationen gesprochen werden.
Die USA, deren Außenminister Blinken in das Kriegskabinetts Netanjahus eingetreten war, haben zwar in Verlautbarungen immer wieder zur Mäßigung aufgerufen, mit der Verlegung von Streitkräfte und Flottenverbänden und dem Senden von Waffen aber gleichzeitig die Grundlagen für den ungestörten Bombenterror geliefert. Die USA signalisieren in Richtung des israelischen Hauptfeindes Iran, dass eine offizielle Einmischung die Kriegsbeteiligung der USA zur Folge hätte. Die anderen arabischen Regierungen, die kaum Interesse an einem Krieg mit Israel haben, machen kaum Anstalten, sich ernsthaft in das Kriegsgeschehen einzumischen. Auch die Reaktion der Hisbollah kann als relativ konservativ oder moderat gedeutet werden. Israel kann augenscheinlich Nordgaza zerbomben, ohne dass die Hisbollah sich zu sehr um eine Kriegsführung bemühen würden. Der israelische Journalist Ziv Bar’el von Haaretz deutet dies so, dass die Hisbollah ihren Ruf international nicht für Gaza aufs Spiel setzen will.
Die Situation in Deutschland: Das Elend der Welt und das Elend der kritischen Theorie
Die BRD ist nach den USA ein zentrales Unterstützungsland für Israel. Die Scholz-Regierung mit Außenministerin Baerbock sicherte Israel bedingungslose Solidarität für ihren terroristischen Feldzug in Gaza zu. Gleichzeitig wurden Waffenlieferungen in Höhe von 200 Milliarden Euro zugesichert. Die Aktien von Rheinmetall, die seit dem Ukrainekrieg von circa 90 Euro bereits in astronomische Höhen gestiegen waren, machten seit dem 7. Oktober von 234 Euro einen weiteren Sprung und stiegen auf den historischen Höchstsand von 289 Euro pro Aktie. (Seit Anfang 2022 ist das eine Steigerung um über 200 Prozent.) Während sich eine Querfront von der AfD über die Union, FDP, SPD, Grüne bis zum antideutschen Lager in der Linkspartei bedingungslos auf die Seite Israel stellten, gab es zahlreiche Demonstrationen in Solidarität mit Gaza und Palästina, aber auch einzelne Taliban-Demonstrationen, zum Beispiel in Düsseldorf.
Die palästinensische Bewegung wurde dafür massiv kriminalisiert, teilweise wurden Gedenkveranstaltung verboten und Aktivist:innen für Slogans oder Schilder mit „from the river to the sea – there is no equality“ festgenommen. Während der Staat das Versammlungsrecht und das Recht auf politische Meinungsäußerung stark einschränkte, insbesondere von Palästinenser:innen und linken Jüd:innen, gab es auch eine starke Zunahme von Antisemitismus und anti-muslimischen Rassismus, da sowohl Jüd:innen antisemtisch mit Israel als auch Muslim:innen rassistisch mit der Hamas gleichgesetzt wurden.
Wie verhält sich die die Philosophie und kritische Theorie dazu? Während sich frühere Theoretiker der sogenannten Frankfurter Schule wie Herbert Marcuse sich trotz der Anerkennung der israelischen Staatsgründung aus dem Holocaust heraus, als favorisierte Lösung sich für eine sozialistische Konföderation zwischen Jüd:innen und Palästinenser:innen aussprachen, fällt die Philosophie heute weit dahinter zurück. In einem Statement von Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Klaus Günther und Jürgen Habermas ist die Solidarität mit Israel das einzige Thema. Es gibt keine Differenzierung zwischen Jüd:innen und Israel, auch Kolonialismus und der Nahost-Konflikt spielen keine Rolle. Die Lehre aus der Schoah sei es, ausschließlich Israel zu unterstützen. Eine kritische Replik gibt es von Adam Tooze, Nancy Fraser und über 100 weiteren Akademiker:innen: Sie bemängeln die einseitige Solidarität für Israel, die mangelnde Solidarität mit den Menschen in Gaza und insbesondere die Abqualifizierung von Genozidforscher:innen, die vor einem Völkermord warnen.
Zunächst einmal müsste aber gegenüber Habermas und Co. festgehalten werden, dass die historische Verantwortung angesichts des Holocausts und die unbedingte Solidarität jüdischen Menschen auf der ganzen Welt gelten sollte – und nicht dem kolonialen Siedlerstaat Israel. Was sollte Solidarität mit Israel bedeuten: Solidarität mit der rechten Regierung oder mit der Vertreibungspolitik? Habermas und Co. müssen hier präzisieren, mit wem wie genau solidarisch sein wollen. Offensichtlich nicht mit den Familien der Geiseln, die sie nicht erwähnen, auch nicht mit israelischen Friedensaktivist:innen oder arabischen Jüd:innen, die im Kriegsklima in Israel Repression und Verfolgung zusätzlicher ausgesetzt sind. Linke Solidarität gilt grundsätzlich der Arbeiter:innenklasse und Menschen, die Diskriminierung, Antisemitismus, Rassismus, Sexismus erfahren – und nicht Staaten. Sie gilt Kurd:innen, die von der Türkei unter Erdogan unterdrückt werden, genauso wie Uigur:innen, die von China unterdrückt werden und ebenso Palästinenser:innen, die von Israel unterdrückt werden. In all diesen Fällen müssen Linke nicht die Terroranschläge von heterogenen Gruppen wie der PKK oder uigurischen Milizen oder eben der Hamas gegen die Zivilbevölkerung unterstützen. Sie müssen aber grundsätzlich auf der Seite der Unterdrückten stehen. Das gilt auch in Israel.
Offensichtlich ist Israel auch nicht der Schutzraum für Jüd:innen, als welcher er immer ausgegeben wird. Erstens lebt die Mehrheit der Jüd:innen nicht in Israel und zweitens starben bei dem Anschlag vom 7. Oktober so viele Jüd:innen an einem Tag wie seit dem Holocaust nicht mehr. Auch der israelische Nationalismus, der Zionismus, ist kein fortschrittliches Projekt. Viel eher ist es ein Nationalismus unter anderen, der offensichtlich zu mehr Gewalt führt. Linke Jüd:innen weltweit verstehen sich als antizionistisch. Diesen Jüd:innen (sowie linken Palästinenser:innen) muss auch unsere Solidarität gelten, anstatt sie als selbsthassende Antisemit:innen zu verunglimpfen, wie es derzeit prominent an Judith Butler und Deborah Feldman vorexerziert wird. Wenn es derzeit Hoffnungen gibt – in einer anscheinend immer imperialistischer und militaristischer werdenden Welt – dann sind es diese gegenseitigen Solidarisierungen von linken Palästinenser:innen mit dem Leid von Jüd:innen und den Solidarisierungen von linken Jüd:innen mit dem Leid von Palästinenser:innen. Der Widerstand gegen den kolonialen Siedlerstaat ist legitim, und nur der gemeinsame Klassenkampf von Palästinenser:innen und Israelis kann diesen Kampf gewinnen, aber bis dahin müssen wir in diesen gegenseitigen Solidarisierungen wichtige Hoffnungszeichen sehen. Gegen den Kolonialismus, Imperialismus, Nationalismus, Militarismus der Rechten gibt es nur die internationale Solidarität der Völker, Arbeiter:innen und Linken.